Growth oder Value: Schluss mit dem Mythos
Dogmatisches Festhalten an einem reinen Wachstums- oder an einem reinen Substanzstil beim Investieren birgt Gefahren und kann in die Irre führen. Pragmatismus und Flexibilität sind gefragt.
Werte in diesem Artikel
von Tim Stevenson, Euro am Sonntag
Europa muss seit geraumer Zeit immer wieder politische Rückschläge hinnehmen und leidet seit Längerem unter schleppendem Wachstum. Besonders seit 2010, als sich die in den USA am Subprime-Hypothekenmarkt begonnene Kreditklemme in Europa zu einer handfesten Staatsschuldenkrise auswuchs. Aber auch in dieser Phase bescherten europäische Unternehmen Anlegern eine ansehnliche Performance. Eine Gesamtrendite von 30,8 Prozent (MSCI-Europe-Index, 1. Januar 2010 bis 31. Mai 2013, in Euro), umgerechnet gut acht Prozent pro Jahr, ist angesichts der starken Verunsicherung der Anleger, rekordniedriger Zinsen und lustloser Konjunkturentwicklung ein überaus passables Ergebnis.
Auch wenn der Anstieg alles andere als geradlinig verlief, haben sich die Aktienmärkte unterm Strich doch spürbar erholt. Von den vorherigen unterscheidet diesen Aufschwung am Aktienmarkt jedoch die Art der Titel, die dabei die Führung übernommen haben. Denn über weite Strecken der vergangenen drei Jahre haben Anleger Wachstumswerten den Vorzug vor Substanztiteln gegeben — und damit die Debatte zwischen den Lagern neu entfacht. Seit ich Fondsmanager bin, wähle ich für meine Portfolios stets Unternehmen aus, denen ich erhebliches Wachstum zutraue. Damit stehe ich auf der einen Seite einer hitzigen Debatte innerhalb unserer Zunft, auf deren anderer Seite die stärker substanzorientierten Manager zu finden sind.
In jüngster Zeit liegen europäische Wachstumsaktien in der Gunst der Anleger klar vorn. Seit Anfang 2010 haben sie eine Gesamtrendite von 43,2 Prozent eingefahren (MSCI-Europe-Index, 1. Januar 2010 bis 31. Mai 2013, in Euro). Substanzwerte aus Europa bringen es im gleichen Zeitraum nur auf eine Rendite von 18,5 Prozent — ein Unterschied von mehr als 25 Prozentpunkten.
Wachstumstitel haben seit
geraumer Zeit die Nase vorn
Wie ist nun diese unterschiedliche Wertentwicklung zu erklären? Substanzindizes setzen sich zu einem Großteil aus Aktien aus den Branchen Finanzen, Versorger, Energie und Telekommunikation zusammen. Diese erwirtschaften in der Regel einen Großteil ihres Umsatzes auf ihren Heimatmärkten in Europa, wo der rigide Sparkurs der öffentlichen Hand die Verbraucher zwingt, den Gürtel enger zu schnallen, und Wachstum Mangelware ist. Jede der genannten Branchen hat mit sehr speziellen Problemen zu kämpfen. So bestehen weiter Zweifel an der angemessenen Kapitalausstattung zahlreicher Banken in Europa. Versorger müssen mit magerem Wachstum zurande kommen, Energieunternehmen müssen verstärkt investieren, um produktiver zu werden, und Telekommunikationsunternehmen leiden unter massivem Preisdruck und Umsatzeinbußen, die sie angesichts hoher Verbindlichkeiten zu drastischen Dividendenkürzungen zwingen.
In Wachstumsindizes hingegen finden sich verstärkt Unternehmen aus den Branchen Industrie, Konsum, Informationstechnologie und Gesundheit, die an den internationalen Märkten aktiv sind, wo auch in den vergangenen Jahren noch ein ansehnliches Wachstum zu verzeichnen war. Abgesehen von ihrer breiten geografischen Streuung profitieren viele dieser Unternehmen auch von strukturellen Vorteilen wie hohen Markteintrittsbarrieren, Preissetzungsmacht und vorteilhaften gesetzlichen Bestimmungen.
Angesichts dieser Vorteile wundert es kaum, dass Wachstumsaktien seit geraumer Zeit vorn liegen. Und auch wenn das Wirtschaftswachstum weltweit und in Europa weiter hinter dem Trend zurückbleibt, halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass Wachstumsaktien ihren Aufwärtstrend fortsetzen. Bei der aktuellen Debatte aber sind Schwarz und Weiß nicht scharf voneinander zu trennen. So verschwimmt die Trennlinie zwischen Wachstum und Substanz nur zu oft, sodass es immer schwerer fällt, Aktien als reine Substanz- oder reine Wachstumswerte einzuordnen.
Nehmen wir als Beispiel die Deutsche Post, meine derzeit größte Position. Wegen ihres beeindruckenden Wachstums im Paketdienst gehört die Aktie zu meinen Favoriten, denn immer mehr Menschen kaufen inzwischen im Internet ein. Und in Asien ist die Deutsche-Post-Tochter DHL Marktführer. Andere Fondsmanager halten die Aktie wegen ihrer attraktiven Bewertung und Dividendenrendite.
Eine ähnliche Beobachtung wie auf Titelebene trifft auch auf die einzelnen Branchen zu. So hat der Werkstoffsektor großen Anteil am Wachstumsindex, was ich persönlich erstaunlich finde. Sicher, etliche Unternehmen aus der Branche haben in den vergangenen zehn Jahren, in denen der von China angefachte Rohstoffsuperzyklus im vollen Gang war, solide Wachstumsraten erzielt. Aber nun, da China mit allen Kräften daran arbeitet, seine Abhängigkeit von den Infrastrukturausgaben zu verringern, ist das Potenzial für weiteres Wachstum doch mehr als fraglich. Und um das Ganze noch komplizierter zu machen, kann, was seit jeher als Wachstumswert galt, ohne Weiteres zum Substanzwert werden — und umgekehrt. Ein gutes Beispiel ist der Technologiesektor, der seit Beginn des neuen Jahrtausends zunächst vom Wachstums- zum Substanzsektor mutierte, nur um nun den Hebel wieder umzulegen.
Auch Substanzwerte bieten
attraktive Chancen
Einfacher wäre aus meiner Sicht die Unterscheidung in Unternehmen mit hoher und solche mit minderer Qualität. Unternehmen mit hoher Qualität sind in ihrer Branche führend und zeichnen sich durch starke Bilanzen, niedrige Kreditaufnahmekosten, nachhaltige Cashflows und ein langfristig orientiertes Management aus. Zu dieser Gruppe zählen würde ich auch Unternehmen, die aktiv und konstruktiv nach Expansionsmöglichkeiten suchen. Naturgemäß findet man in dieser Gruppe verstärkt Wachstumstitel. Aber auch bei sogenannten Substanzwerten bieten sich immer wieder interessante Chancen. Zum Beispiel bei dem Industriekonzern AP Moeller-Maersk, dem Versicherer Allianz, den Telekommunikationskonzernen Deutsche Telekom und BT Group oder den Pharmagiganten Novartis und Sanofi. Einst galt die Pharmabranche als der Wachstumssektor schlechthin, inzwischen aber ist sie wohl eher dem Substanzbereich zuzurechnen.
Beim Aufbau meiner Portfolios versuche ich, mich nicht zu sehr an den Etiketten „Wachstum“ oder „Substanz“ zu orientieren. Das Ergebnis ist ein subjektiver Mix mit einem Kern aus Qualitätsaktien, dem ich stärker konjunkturempfindliche Werte beimische. Ich für meinen Teil bevorzuge einen ganzheitlicheren Ansatz, bei dem Unternehmen mit breit gestreuten Ertragsquellen, Aktivitäten an etablierten Märkten, soliden Geschäftsmodellen und Finanzen im Mittelpunkt stehen. Denn dank dieser Merkmale dürften sie sowohl in steigenden als auch in fallenden Märkten den Durchschnitt hinter sich lassen und auch in einigen Jahren ihren Anlegern ansehnliche Renditen bescheren.
zur Person:
Tim Stevenson,
Fondsmanager
bei Henderson
Der Autor ist Director of European Equities bei Henderson Global Investors. 1986 hat er dort als Fondsmanager für Europa begonnen und verantwortete in dieser Position auch das Geschäft mit ausländischen Kunden. Zuvor arbeitete Stevenson als Analyst bei Savory. 1984 wechselte er zu Aetna Montagu Asset Management. Hier war er verantwortlich für europäische Investments der institutionellen Kunden. Stevenson hat Wirtschaftswissenschaften und European Studies
an der Sussex University studiert.
Henderson Global Investors ist eine 100-prozentige Tochter der Henderson Group. Die Geschichte der Investmentgesellschaft reicht bis ins Jahr 1934 zurück. Sie verwaltet zurzeit ein Anlagevermögen von
81,5 Milliarden Euro für Kunden in Europa, im asiatisch-pazifischen Raum und in Nordamerika.
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Name | Hebel | KO | Emittent |
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