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Mario Draghi: Das Dilemma des Mr. Euro

16.03.15 03:00 Uhr

Mario Draghi: Das Dilemma des Mr. Euro | finanzen.net

Fast im Alleingang hat der Chef der Europäischen Zentralbank den Euro gerettet, nun will er mit Staatsanleihekäufen die Wirtschaft ankurbeln. Doch mit dieser Politik schafft er sich viele Feinde. Über einen Macher im Dauerdilemma.

von Andreas Höß, Euro am Sonntag

Mittwochvormittag: Im Festsaal der Goethe-Universität in Frankfurt sind fast 500 Banker, Notenbanker, Ökonomen und Journalisten versammelt, um über Geldpolitik zu debattieren. Gebannt blicken sie auf Mario Draghi, der vorn am Pult steht. "Ich sehe hier viele Freunde", beginnt er seine Rede, lächelt verschmitzt und setzt dann nach: Er habe ja kaum noch welche, deshalb sei er heute gern hierhergekommen.

Mario Draghi ist Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) und damit Europas oberster Währungshüter. Seine Worte bewegen Märkte und retten Länder. Doch seit der Italiener im Amt ist, wächst die Kritik an der EZB - und das, obwohl es ohne sie den Euro in seiner heutigen Form vielleicht nicht mehr geben würde. Im Moment steht Draghis Institution wieder besonders im Fokus. Seit vergangenen Montag kauft sie für 60 Milliarden Euro im Monat Wertpapiere wie Staatsanleihen, um eine Spirale aus fallenden Preisen und wirtschaftlicher Stagnation abzuwenden.

Nicht alle finden das gut. Auch im Frankfurter Festsaal sitzen neben ­einigen Freunden viele Kritiker. Sie werfen Draghi vor, die EZB habe ihre Unabhängigkeit aufgegeben. Durch ihre Staatsanleihekäufe betreibe sie Staatsfinanzierung und verursache Blasen an den Finanzmärkten. Was mit einem verschmitzten Lächeln und einem Scherz beginnt, wird deshalb schnell zur Verteidigungsrede. Man sehe bereits positive Wirkungen der Geldpolitik, betont der EZB-Chef in Frankfurt, "sie unterstützt die Erholung". Und: "Unabhängigkeit ist für eine Notenbank zentral, der Erhalt der Preisstabilität ist es aber auch."

Es ist nicht das erste Mal, dass Draghi dieses Dilemma durchblicken lässt, in dem er nun seit fast vier Jahren steckt: Handeln und die Unabhängigkeit der EZB von der Politik aufs Spiel setzen? Oder nicht Handeln und damit eine Krise oder sogar das Aus des Euro riskieren? Draghi entschied sich meist für das Erste: Er schob alle Bedenken beiseite, handelte und kaufte so den Regierungen in Europa Zeit, um Reformen anzupacken und sich aus dem schlimmsten Schlamassel zu ziehen.

Erprobter Krisenmanager

"Wenn du deinen Mut verlierst, hast du alles verloren", sagte er vor Kurzem in einem Interview. Aber es ist nicht nur das Prinzip Hoffnung, das ihn antreibt. Draghi gilt als Macher mit fast schon preußischem Pflichtbewusstsein und Arbeitsethos. Seine Eltern starben früh, er musste schon als Jugendlicher Verantwortung für seine Geschwister übernehmen. Er studierte mit dem späteren US-Notenbankchef Ben Bernanke bei Nobelpreisträgern an der US-Eliteuni MIT, war als Professor an mehreren Universitäten und arbeitete bei der Weltbank und der US-Investmentbank Goldman Sachs. Zwischen 1991 und 2001 kämpfte er im italienischen Finanzministerium gegen eine Währungs- und Schuldenkrise und sah fast ein Dutzend Regierungen scheitern, während er im Amt blieb. Bis 2011 steuerte er dann die italienische Nationalbank durch die Finanzkrise.

Seit November 2011 leitet der erprobte Krisenmanager nun die EZB. Ein kurzer, aber bewegter Zeitraum. Der damals 64-Jährige übernahm den Posten, als Griechenland vor der Pleite stand und die Finanzmärkte am Fortbestand des Euro zweifelten. Als auch Spanien und Italien in Schieflage gerieten, griff Draghi ein, ohne sich vorher mit seinen EZB-Kollegen abzusprechen. Vor Investoren in London sagte er, er werde den Euro retten, "was immer es kostet". Kurz darauf kündigte die EZB an, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von Krisenländern zu kaufen, sofern diese sich einem Reformprozess unterzögen.

Die Ankündigung reichte, um die Lage zu beruhigen. Das Programm wurde nie umgesetzt. Trotzdem zahlen Italien und Spanien so niedrige Zinsen wie nie. Auch von einem Ende des Euro ist keine Rede mehr - obwohl Griechenland weiter Richtung Pleite und Euroaustritt steuert. Kein Wunder, dass Draghi heute den Spitznamen "Mr. Euro" trägt. Ein schmeichelhafter Titel, der aber auch eine Kehrseite hat: An den Finanzmärkten verlässt man sich da­rauf, dass Draghi schon einspringen wird, wenn es brennt. Und in Europas Hauptstädten tut man das auch.

Die Bezeichnung Mr. Euro legt noch eine weitere Vermutung nahe: Der EZB-Chef bestimmt die Geldpolitik der 19 Euroländer stärker, als manchen Ländern im EZB-Rat lieb ist. "Draghi setzt den Kurs und zieht ihn durch", so der ehemalige EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark, der aus Protest gegen die EZB-Politik Ende 2011 den Job hingeschmissen hat.

Selbst offenen Konflikten geht Draghi dabei nicht aus dem Weg. So war in den vergangenen Monaten eine regelrechte Kommunikationsoffensive der sonst eher schweigsamen Notenbanker zu beobachten. Als ab Herbst 2014 klar wurde, dass die EZB ihre Bilanz massiv ausweiten und dafür Staatsanleihen kaufen wird, gingen die deutschen EZB-Mitglieder Jens Weidmann und Sabine Lautenschläger ­öffentlich auf die Barrikaden. Die Gefahren eines solchen Vorgehens seien größer als der Nutzen, warnten sie. Draghi und Italiens Nationalbankchef Iganzio Visco hielten über die Presse dagegen.

Draghi entschied den Richtungsstreit für sich. Ende Januar beschloss die EZB die Staatsanleihekäufe, ohne überhaupt darüber abgestimmt zu haben. Angesichts der klaren Mehrheit sei das nicht nötig gewesen, hieß es nach der Sitzung. Die vehemente öffentliche Auseinandersetzung war ein Novum in der EZB-Geschichte. Und sie zeigte: Der Einfluss der Bundesbank hat abgenommen, dass sie überstimmt wird, war vor wenigen Jahren schwer denkbar.

Für Draghi ist das ein Triumph, er weiß das. Staatsanleihekäufe seien zwar "unkonventionell, aber nicht unorthodox", sagt er bei seinem Frankfurter Vortrag mit Blick auf die Bundesbank und erlaubt sich einen kleinen Seitenhieb. Das sollten auch die Bundesbanker wissen, schließlich habe man in den 1970ern ebenfalls zu diesem Mittel gegriffen.

Zieht er Athen den Stecker?

Gleichwohl sind beide Seiten bemüht, die Wogen wieder zu glätten. "Die EZB ist kein so zerrütteter Haufen, wie man es sich oft vorstellt", gibt ein hochrangiges Bundesbankmitglied zu bedenken. "Neben allen Differenzen gibt es auch viele Gemeinsamkeiten." Vor allem in einer Sache sei man sich einig: Die EZB habe geliefert und gute Rahmenbedingungen für Europas Wirtschaft geschaffen, nun müssten die Regierungen mit Reformen nachlegen.

Wie schnell sie das tun, kann Draghi gut beurteilen. Die EZB beaufsichtigt seit 2014 nicht nur Europas Banken, wofür sie 1.000 neue Mitarbeiter eingestellt hat. Sie ist auch Teil der Troika, die Krisenländern wie Griechenland Reformen vorschreibt und deren Einhaltung überwacht. Erzwingen kann Draghi die Reformen aber nicht. So droht Griechenland erneut zum Prüfstein für seine Handlungsbereitschaft zu werden.

Im Moment hält Athen den Betrieb am Laufen, indem die griechische Nationalbank die Banken des Landes mit Nothilfen versorgt und diese das Geld kurzfristig an den Staat verleihen. Die EZB kann diese Praxis stoppen, sollte der Schuldenstreit mit Griechenland weiter eskalieren. "Sie steht vor der Entscheidung, ob sie Griechenland den Stecker zieht", sagt Volker Wieland, Wirtschaftswissenschaftler von der Uni Frankfurt und Mitglied im Sachverständigenrat. Es wäre eine Entscheidung, die mehr mit Politik und Wirtschaft als mit Geldpolitik zu tun hat. Und auch wenn er diesmal nicht als Retter aufträte, wäre Draghis Rolle wieder höchst umstritten.

Der Geradlinige
Mario Draghi sei der geborene Zentralbanker, so Italiens Ex-Premier Romano Prodi. Draghi studierte zusammen mit Ben Bernanke in den USA und war Professor in Padua und Florenz mit Schwerpunkt Geldpolitik. Von 1991 bis 2001 arbeitete er im italienischen Finanzministerium. Nach einem Intermezzo bei der Investmentbank Goldman Sachs wurde er 2005 Chef der italienischen Notenbank und 2011 Chef der EZB.

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