Euro am Sonntag-Titel

Aktionäre in der Psychofalle: Keine Angst vor 8.000 Punkten

24.01.13 03:00 Uhr

Bis zum Höchststand ist der DAX zwei Mal vorgerückt und danach abgestürzt. Für viele Anleger eine Psychofalle - in die sie aber nicht tappen sollten.

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von Sven Parplies, Euro am Sonntag

Urlaub in einer fremden Großstadt kann schnell zum Abenteuer werden. Unbekannte Straßen, ei­ne exotische Sprache — da verliert man als unbedarfter Tourist schon mal die Orientierung. Wer den Weg zurück ins ­Hotel finden will, prägt sich unterwegs markante Punkte ein: den ­Namen einer großen Straße oder ein auffälliges Gebäude.

Das menschliche Gehirn arbeitet im Alltagsleben nach einem ähnlichen Prinzip: Es klammert sich intuitiv an Erlebtes und nutzt es als Orientierung für die Gegenwart. Dieser Anker, so nennen das Psychologen, hat durchaus seinen Sinn. Schließlich soll der Mensch aus Erfahrungen lernen. An der Börse aber können Anker problematisch sein. Für viele Anleger ist beispielsweise der Kaufkurs einer Aktie wichtiger Bezugspunkt.

Je weiter sich der Kurs davon entfernt, desto stärker werden die Emotionen: Mit fallenden Kursen wächst das Unbehagen, mit steigenden Kursen dagegen die Freude. Fundamentale Bewertungskennziffern einer Aktie — eigentlich der wichtigste Anhaltspunkt — werden dagegen in den Hintergrund ­gedrängt.
Diese fast zwanghafte Fixierung auf den Einstiegskurs, den Anker, macht es selbst Profis schwer, sich zum richtigen Zeitpunkt von einer Aktie zu trennen.

Aktionäre in der Psychofalle
Extreme Kursausschläge, wie sie Anleger seit der Jahrtausendwende im Deutschen Aktienindex erlebt haben, dringen besonders tief ins Bewusstsein ein. Zweimal ist der DAX über eine markante Grenze vorgestoßen: Im März 2000 bis auf 8065, im Juli 2007 sogar auf 8106 Punkte. Beide Male folgte danach ein brutaler Absturz.

„Anleger haben die Erfahrung gemacht, dass man bei einem DAX-Stand von 8000 Punkten besser verkauft hätte. Die 8000 sind dadurch zu einer psychologischen Barriere geworden“, folgert Patrick Hussy, Geschäftsführer des auf Börsen­psychologie spezialisierten Analyse­hauses Sentix.

Mit dieser Ankererfahrung im Hinterkopf fangen Anleger intuitiv an zu rechnen: Bei einem Indexstand von beispielsweise 7500 Punkten wird das Kurspotenzial auf 500, maximal 600 Punkte taxiert. Lohnt sich dafür wirklich das Risiko eines Aktieninvestments?

„Erst wenn der Index auf neues Terrain vorstößt, also deutlich über den alten Höchststand steigt, setzt sich die Erkenntnis durch, dass es diese Obergrenze nicht gibt“, erklärt Börsenpsychologe Hussy. Was viele Anleger bei ihrer Fixierung auf den „Anker 8000“ über­sehen — der DAX hat sich verändert. Wer heute den Index kauft, investiert in komplett andere Unternehmen als in den Rekordjahren 2000 und 2007.

Das zeigt bereits ein kurzer Blick auf den Kurszettel: Elf der 30 Indexmitglieder der Jahrtausendwende sind nicht mehr dabei. Degussa-Hüls, Dresdner Bank, Epcos, HypoVereinsbank, KarstadtQuelle, MAN, Metro, Preussag, Schering, Veba und Viag wurden aufgekauft, haben fusioniert oder sind abgestiegen. Nach dem Jahr 2007 wurden drei Titel ausrangiert: Hypo Real Estate, Postbank und der Preussag-Nachfolger TUI.

Auch langjährige DAX-Mitglieder haben sich verändert. Daimler- Chrysler hat seine amerikanische Tochter Chrysler verstoßen und aus dem Firmennamen gestrichen. Adidas-Salomon hat die französische Wintersportsparte Salomon verkauft, kurz darauf die US-Marke Reebok übernommen und heißt heute einfach nur Adidas.

Auch bei jenen Unternehmen, die ihr Firmenschild nicht geändert haben, gab es große Veränderungen: Bayer hat den DAX-Rivalen Schering übernommen, aber auch ein neues DAX-Mitglied hervorgebracht: Die Spezialchemiesparte wurde unter dem Namen Lanxess ausgegliedert und gehört nach einer Zwischenstation im MDAX heute als eigenständiges Unternehmen zum Elite-Index.

Besonders aktiv war BASF: Der Chemieriese hat seit der Jahrtausendwende durch Übernahmen ein Umsatzvolumen von rund 15 Milliarden Euro hinzugeholt. Allein diese Zukäufe wären groß genug, um die Qualifikation für den DAX zu schaffen. Gleichzeitig hat BASF Geschäftsbereiche mit einem Volumen von zehn Milliarden abgestoßen, um sich auf margenstärkere Geschäfte zu fokussieren. Dadurch hat sich die Chance auf künftige Gewinnsteigerungen deutlich erhöht.

Auch die Welt hat sich verändert: Die Wirtschaft durchlebte seit der Jahrtausendwende zwei extreme Krisen und hat dennoch an Kraft gewonnen. Wichtiger Treiber sind die Schwellenländer. Brasilien, Russland, Indien und China, die sogenannten BRIC-Staaten, sind heute Stützen der Weltwirtschaft.

Allein China hat sein Bruttoinlandsprodukt seit 2000 im Schnitt jedes Jahr um mehr als zehn Prozent gesteigert und ist damit zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen.

Gewinnschub aus Fernost
Deutschland gehört zu den großen Profiteuren der Globalisierung. Exporte deutscher Unternehmen in die BRIC-Staaten haben sich laut Daten des Statistischen Bundesamts ­allein in den Jahren 2001 bis 2011 vervierfacht. Schwellenländer sind als Handelspartner für Deutschland inzwischen sogar wichtiger als die ­Supermacht USA.

Viele deutsche Konzerne haben das Potenzial der aufstrebenden Märkte frühzeitig erkannt. Vor allem bei Chinas rasant wachsender Mittelschicht sind Marken made in Germany beliebte Statussymbole. BMW etwa hat seinen Umsatz in Asien und Ozeanien in den Jahren 2007 bis 2011 um durchschnittlich 27 Prozent gesteigert. Der Anteil der Region am Gesamtumsatz des Autoherstellers hat sich dadurch auf knapp 28 Prozent verdoppelt.

Die Nachfrage aus Fernost ermöglicht es BMW, die Wirtschaftsschwäche Westeuropas aufzufangen. Mehr als 90 Prozent des kompletten Umsatzwachstums von BMW in den Jahren 2007 bis 2011 stammen aus Asien und Ozeanien. Der Boom hat auch im vergangenen Jahr angehalten: China war mit einem Absatzplus von 40 Prozent erneut stärkster Wachstumsmarkt von BMW.

Der Erfolg der Schwellenländer trennt im DAX die Gewinner von den Verlierern. Unternehmen wie Adidas, BMW, Linde, SAP oder Volkswagen haben dank Expansion in die aufstrebenden Märkte ihre Gewinne seit der Jahrtausendwende um mehr als 300 Prozent gesteigert. Indexmitglieder, die auf den europäischen Binnenmarkt beschränkt sind, treten hingegen auf der Stelle.

Gut für den DAX: Chronische Verliereraktien wie die Deutsche Telekom — im März 2000 bei mehr als 300 Milliarden Euro Marktkapitalisierung mit großem Abstand der schwerste Brocken im Index — haben mit sinkendem Börsenwert stetig an Bedeutung verloren. Bei der letzten Neugewichtung des Index durch die Deutsche Börse im Dezember lag die Telekom mit knapp vier Prozent nur noch im Mittelfeld. Kursbewegungen der wachstumsstarken Unternehmen SAP oder BASF schlagen inzwischen mehr als doppelt so stark auf den DAX durch wie die ­Zuckungen der T-Aktie. Auch andere Problemfälle wie Eon haben deutlich an Gewicht verloren.

Niedrige Bewertung
Am deutlichsten zeigt sich der Entwicklungsprozess des DAX an der für Aktionäre wichtigsten Größe: den Unternehmensgewinnen. Im Jahr 2000 lag der Gewinn der 30 Werte nach Berechnung der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) bei 254 Indexpunkten. Bis zum Jahr 2007 stieg der Wert auf 602 Punkte. Im Klartext: Die DAX-Konzerne haben 2007 einen mehr als doppelt so hohen Überschuss ausgewiesen als 2000. Die mit dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman aufziehende Finanzkrise verhinderte jedoch, dass der DAX auf der ­Kurstafel das Rekordhoch nachhaltig durchbrechen konnte.

Inzwischen haben die deutschen Topkonzerne den Rückschlag der großen Finanzkrise verarbeitet. 2012 dürfte der Gewinn der DAX-Mitglieder nach Hochrechnung der LBBW mit 637 Indexpunkten eine neue Bestmarke erreicht haben. Die Basis für neue Rekordkurse des Index wäre damit gelegt. Auch ein Blick auf den Buchwert zeigt, dass der aktuelle DAX den Vergleich mit seiner eigenen Vergangenheit nicht fürchten muss.

Die größte Gefahr
Eine niedrige Bewertung allein rechtfertigt allerdings noch keine Kurssteigerungen. Die Schockwellen der Lehman-Krise haben gezeigt, wie schnell Unternehmensgewinne unter Druck geraten. Die größte Bedrohung für den DAX bleiben die Unwägbarkeiten der euro­päischen Schul­denmisere. Auch Deutschland kann sich den wirtschaftlichen Problemen der meist südeuropäischen Krisenstaaten nicht entziehen. Die Bundesregierung hat ihre Wachstumsprognose gerade gesenkt: Statt einem Prozent traut das Wirtschaftsministerium der deutschen Wirtschaft im neuen Jahr nur noch einen Zuwachs von 0,4 Prozent zu. Auch der Rückenwind durch den Export dürfte 2013 moderat ausfallen. Die Weltbank sagt für die globale Wirtschaft in diesem Jahr ein moderates Wachstum von 2,4 Prozent voraus.

Es sind diese außergewöhnlichen Risiken, die Anleger trotz der eigentlich günstigen Kurse vorsichtig werden lassen. Und es sind diese Risiken, derentwegen selbst Optimisten unter den Marktstrategen für den DAX bis Ende des Jahres ein eher unspektakuläres Kursziel von 8500 Punkten ausgeben. Das aber würde bereits reichen, um die alte Bestmarke aus dem Sommer 2007 zu durchbrechen. Dann endlich könnten Anleger den Anker hieven.

Investor-Info

Performance
Adidas läuft allen davon
Der DAX nähert sich dem Kursgipfel des Jahres 2000. Wer damals in Einzeltitel investiert hat, kommt heute auf eine extrem unterschiedliche Bilanz. Von jenen Aktien, die bis heute zum DAX gehören, hat Adidas einschließlich Dividende mehr als 500 Prozent an Wert gewonnen. BASF brachte Anlegern mehr als 400 Prozent Rendite. Größte Verlierer sind neben der Deutschen Telekom die Finanzwerte.













Buchwert
Niedrig bewertet
Der Buchwert misst die Substanz eines Unternehmens. Zur Jahrtausendwende wurde der DAX bei 8000 Punkten fast mit dem Dreifachen der Substanz seiner Indexmitglieder bewertet. Weil der Buchwert bei fallenden Kursen gestiegen ist, liegt der Kurs/ Buchwert des Index heute deutlich niedriger. Mit ­einem Wert von 1,47 liegt er zudem unter dem seit 1988 gerechneten Mittelwert von 1,68.













Gewinnschätzung
Vorsichtige Anleger
In der Theorie bildet die Börse die Gewinnerwartung der Anleger ab. Der DAX-Verlauf müsste also in etwa in Einklang mit den Gewinnschätzungen liegen. Auffallend: Seit Anfang 2011 hat sich der Index von den jeweils zwölf Monate nach vorn gerichteten Gewinnschätzungen abgekoppelt. Der DAX hätte demnach einen Sicherheitspuffer nach unten.














Adidas
Fit wie ein Turnschuh
Auch wenn 2013 werbewirksame Großereignisse wie Olympische Spiele oder Fußball-WM fehlen, sollte Adidas erneut einen Rekordgewinn erzielen. Dafür sprechen die Expansion in die Schwellen­länder, der Ausbau des eigenen Shopnetzes und Spielraum für weitere Preiserhöhungen. Die Zweitmarke Reebok bleibt ein Problemfall, hat nach ­Umsatz ­innerhalb der Adidas-Gruppe aber an Bedeutung verloren. Die Aktie bleibt kaufenswert.

BASF
Attraktive Mischung
Durch Stärkung defensiver Geschäftsfelder will BASF die Abhängigkeit von allgemeinen Konjunkturzyklen verringern. Zugleich überzeugt der Chemiekonzern durch eine verlässliche Dividendenpolitik. Bei einer Dividendenrendite von derzeit fast vier Prozent verbindet die Aktie Wachstumsfantasie mit einer ansprechenden Ausschüttung. Ein Ausbruch über das Allzeithoch würde auch charttechnisch ein Kaufsignal erzeugen.

Bayer
Profit in der Pipeline
Herzstück des Bayer-Konzerns ist die Pharmasparte, die zuletzt knapp die Hälfte des Gesamtumsatzes beisteuerte. Neben neuen Produkten wie dem Gerinnungshemmer Xarelto hat Bayer mit 35 Projekten in der klinischen Entwicklung eine gut gefüllte Forschungspipeline. Durch die eher zyklischen Sparten Pflanzenschutz und Kunststoff ist das Bayer-Port­folio recht ausgewogen. Trotz der unbefriedigenden Dividendenhöhe bleibt die Aktie attraktiv.

BMW
China rollt, Europa bremst
China wird auch in diesem Jahr wichtigster Wachstumsmarkt für den Automobilhersteller sein. Europa bleibt hingegen für BMW ein schwieriger Markt. Ein sich verschärfender Konkurrenzkampf und hohe Ausgaben für Forschung und Entwicklung dürften in diesem Jahr aber wenig Spielraum für Gewinnsteigerungen lassen. Deshalb sehen wir die Aktie derzeit nur als eine Halteposition.

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