Euro am Sonntag-Meinung

Ahnungslos: Finanzwissen dringend gesucht

08.05.16 16:00 Uhr

Ahnungslos: Finanzwissen dringend gesucht | finanzen.net

Das Wissen um Grundlagen der Finanzen ist in großen Teilen der Weltbevölkerung weniger verbreitet, als man meint. In welchen Ländern die Defizite groß sind und die Gründe dafür.

von Moritz Kraemer, Gastautor von Euro am Sonntag

Stellen Sie sich vor, Sie hätten etwas Geld. Wäre es sicherer, dieses Geld in nur ein Geschäft oder Investment zu stecken, oder besser, es auf verschiedene zu verteilen? Eine einfach zu beantwortende Frage? Stellen Sie sich weiterhin vor, Sie müssten sich 100 US-Dollar leihen. Welcher wäre der niedrigere Betrag, den Sie zurückzahlen müssten: 105 US-Dollar oder 100 US-Dollar plus drei Prozent? Ebenfalls leicht?

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In einer weltweiten Studie, die Standard & Poor’s Ratings Services zusammen mit dem Gallup-Institut, Forschern der Weltbank und der George Washington Universität durchgeführt hat, wurden mehr als 150.000 Erwachsene in über 140 Ländern der Erde nach grundlegendem Finanzwissen befragt. Insgesamt fünf Fragen waren zu beantworten, zu einfachen Rechenfähigkeiten, zum Verständnis von Risikodiversifizierung, zur Wirkung von Inflation und dem Effekt von Zins und Zinseszins.

Eine Person gilt im Rahmen der Studie als kompetent in Finanzfragen und hat den Test bestanden, wenn sie in der Lage war, mindestens drei von fünf Fragen richtig zu beantworten (entsprechend den vier Finanzkonzepten:
1. Risikodiversifizierung; 2. Inflation; 3. Rechenkompetenz/Zinsen; 4. Zins- und Zinseszins).

Finanzkompetenz in Italien
ist geringer als in Südafrika

Weltweit betrachtet verfügt danach nur jeder dritte Erwachsene (33 Prozent) über grundlegendes Finanzwissen. 3,5 Milliarden Menschen - davon die meisten in den Entwicklungsländern - fehlt es hingegen an einfachem Verständnis für finanzielle Zusammenhänge. Die Unterschiede im Vergleich einzelner Länder sind enorm. Die Spitzengruppe der Länder mit dem weltweit höchsten Bevölkerungsanteil mit Finanzwissen bilden Dänemark, Schweden und Norwegen, wo jeweils 71 Prozent der Befragten den Test bestanden haben. Gefolgt von Israel und Kanada (68), Großbritannien (67), Deutschland und den Niederlanden (66).
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Ebenfalls im guten oberen Feld liegen Finnland (63), Neuseeland (61), Singapur (59), die USA und die Schweiz (beide 57 Prozent). Über das geringste Finanzwissen verfügen unter anderem die Bürger des Jemen (13), Somalias (15) oder Tadschikistans (17). Selbst wenn man die ­bedeutendsten Industrienationen der westlichen Welt, die sogenannten G 7, betrachtet, zeigen sich große Unterschiede: 37 Prozent in Italien gegenüber 68 Prozent Finanzkompetenz in Kanada. In den wichtigsten Schwellenländern, den BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), variiert das Finanzwissen zwischen 24 Prozent in Indien und 42 Prozent in Südafrika.

Wie lassen sich die Unterschiede zwischen den ärmeren und den reicheren Ländern erklären? Es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen der Höhe des BIP (Bruttoinlandsprodukt) pro Kopf in einem Land und dem Finanzwissen seiner Bevölkerung; wie auch der allgemeine Bildungsstand mit steigender Wirtschaftskraft zunimmt. Aber um die weltweiten Diskrepanzen zu erklären, taugt es nur bedingt, denn der Zusammenhang gilt nur für die reichsten 50 Prozent der Länder und nicht für solche mit einem Pro-Kopf-BIP von 12.000 US-Dollar oder weniger. Vermutlich spielen hier auch nationale politische Maßnahmen im Zusammenhang mit Bildung und Konsumentenschutz eine maßgebliche Rolle bei der Ausprägung der Finanzkompetenz der Bevölkerung.
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Die Einwohner von Ländern, in denen die Erinnerung an Hyperinflation noch lebendig ist, wie etwa Argentinien, scheinen ein besseres Verständnis für Inflation zu besitzen. So ­gaben in Argentinien 65 Prozent der Befragten eine richtige Antwort bei der Frage zur Inflation, aber insgesamt nur 28 Prozent haben drei der vier gefragten Themen richtig beantwortet. Ähnliches gilt für Bosnien und Herzegowina, Georgien oder Peru, die in den 90er-Jahren von Hyperinflation betroffen waren.

Neben anderen Zusammenhängen wie - weltweit gesehen - geringerem Finanzwissen von Frauen im Vergleich zu Männern, Armen im Vergleich zu Reichen oder Alten (65+) im Vergleich zu Jüngeren, ist es überraschend zu sehen, dass es vielen Nutzern von Finanzprodukten an grundlegendem Wissen fehlt.

Inhaber eines Bankkontos sind zwar versierter in Finanzfragen, aber auch unter ihnen verfügen weltweit nur 38 Prozent über Finanzkompetenz, wie sie im Rahmen der Studie gefragt war. In den Industriestaaten sind es immerhin 57 Prozent, gegenüber nur 30 Prozent in den BRICS-Staaten. Auch mit der zunehmenden Verbreitung von Kredit­karten (bei 51 Prozent Verbreitung in ­Industriestaaten; elf in BRICS) wächst nicht automatisch das Wissen, beispielsweise um das Prinzip des Zinseszinses. Viele Nutzer von kurzfristigen Krediten verstehen nicht vollständig, mit welcher ­Geschwindigkeit sich Schulden allein durch den Zinseszinseffekt erhöhen können. In der Türkei etwa besitzen 33 Prozent der Erwachsenen eine Kreditkarte, doch nur 29 Prozent von ihnen verfügen über allgemeine Finanzkompetenz und nur die Hälfte konnte die Frage zum Zinseszinseffekt richtig beantworten.

Wer sich nicht auskennt,
spart auch nicht fürs Alter

Insgesamt betrachtet ist das Finanzwissen unter der wohlhabenderen, gut ausgebildeten Bevölkerung, die Finanzprodukte wie Bankkonten oder Kredite ­nutzt, am höchsten. Doch die Studie macht auch deutlich, dass sehr große Teile der Weltbevölkerung nicht fähig sind, mit der sich rapide verändernden Finanzwelt zurechtzukommen. Viele Finanzprodukte, gerade solche mit höheren Renditeversprechen und komplexen Bedingungen, werden für viele Menschen leichter zugänglich, und Regierungen drängen ihre Bürger mehr und mehr zur Teilhabe, indem sie den Zugang zu Bankkonten und anderen Finanzdienstleistungen fördern. Doch sofern die Menschen nicht auch über das nötige Finanzwissen verfügen, entstehen eher Risiken als Chancen - besonders für die Armen und die weniger Gebildeten.

Die Herausforderung, für bessere Bildung in Finanzfragen zu sorgen, betrifft Industrienationen genauso wie Entwicklungsländer. In der EU, wo chronisch zu wenig für das Renten­alter gespart wird, besitzt die ältere Bevölkerung nicht genug Finanzkompetenz, um erfolgreich mit den wirtschaftlichen ­ Herausforderungen mit Blick auf die Rente umzugehen. Von den EU-Bürgern, die sagen, dass sie nicht für das Alter sparen, verfügt nicht einmal die Hälfte über das grundlegendste Finanzwissen. Viel Nachholbedarf also für die politischen Entscheidungsträger, wenn sie Altersarmut bekämpfen wollen.

Kurzvita

Moritz Kraemer,
Managing Director bei Standard & Poor’s

Kraemer ist Global Chief Rating Officer bei Standard & Poor’s Ratings Services im Bereich Sovereign Ratings sowie Mitglied des Führungsteams am Standort Frankfurt und seit 2001 bei Standard & Poor’s. Standard & Poor’s Ratings Services, ein Teil von McGraw Hill Financial, ist der weltweit führende Anbieter von unabhängigen Re­searchs und Benchmarks zu Kredit­risiken.

Bildquellen: Photographee.eu/Shutterstock.com, Martin Joppen/Standard and Poor’s Corporation