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Britisches Unterhaus stimmt Brexit-Deal mit EU zu - Johnson unterzeichnet Pakt - Ablehnung aus Schottland und Nordirland

30.12.20 20:02 Uhr

Britisches Unterhaus stimmt Brexit-Deal mit EU zu - Johnson unterzeichnet Pakt - Ablehnung aus Schottland und Nordirland | finanzen.net

Gerade noch rechtzeitig vor dem endgültigen Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hat das britische Unterhaus am Mittwoch dem Brexit-Handelspakt zugestimmt.

Mit überwältigender Mehrheit votierten die Abgeordneten des House of Commons am Mittwoch für das entsprechende Ratifizierungsgesetz - mit 521 zu 73 Stimmen. Zum Jahreswechsel in der Nacht zum Freitag endet die Brexit-Übergangsphase und damit Großbritanniens Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion.

Ein sichtlich gut gelaunter Premierminister Boris Johnson unterzeichnete den Vertrag in seinem Amtssitz in der Downing Street, hinter ihm vier britische Flaggen - und kein EU-Symbol weit und breit. "Ihr fragt Euch alle, ob ich ihn gelesen habe. Die Antwort lautet: Ja", scherzte der Regierungschef mit den Journalisten, bevor er seine rechte Hand auf das knapp 1250 Seiten dicke Vertragswerk legte. Für Johnson bedeutet der Abschluss der Brexit-Verhandlungen einen großen Triumph.

Am Vormittag hatte der Premierminister mit viel Pathos im Unterhaus für den Deal geworben - als historische Chance und nationale Erfüllung gleichermaßen. Nun hätten die "alten, ausgetrockneten, müden, ausgelutschten Argumente" ein Ende, die das Land seit Jahren verfolgten, sagte Johnson. Endlich könne Großbritannien in eine "neue und große Zukunft" vorzudringen.

Es ist das Mantra, das Johnson seit langem wiederholt. Erst jetzt könne Großbritannien wirklich souverän sein, mit Kontrolle über Gesetze und Gewässer, auf Augenhöhe mit der EU, ohne die Beziehungen abzubrechen, so betont es Johnson immer wieder. "Es ist ein fantastisches, fantastisches Freihandelsabkommen", sagte er der BBC.

In Kraft treten sollte das Gesetz erst, wenn auch das Oberhaus dafür votiert und Queen Elizabeth II. ihre formelle Zustimmung gegeben hat. Das wurde für die frühen Morgenstunden am Donnerstag erwartet. Es galt als sicher, dass das Gesetz auch in der zweiten Kammer, dem House of Lords, eine Mehrheit finden würde.

Die EU-Spitze hatte den Brexit-Handelspakt bereits am Morgen unterzeichnet. Nachdem EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel das Dokument signiert hatten, wurde es mit einer Maschine der britischen Luftwaffe nach London geflogen.

Das knapp 1250 Seiten starke Handels- und Partnerschaftsabkommen regelt die wirtschaftlichen Beziehungen nach der Brexit-Übergangsphase ab dem 1. Januar. Damit werden Zölle vermieden und Reibungsverluste im Handel möglichst gering gehalten. Zugleich werden viele andere Themen geregelt, darunter Fischfang und Zusammenarbeit bei Energie, Transport, Justiz, Polizei.

"Im Kern dieses Gesetzentwurfs steckt eines der größten Freihandelsabkommen der Welt", sagte Johnson zum Auftakt der Debatte im Unterhaus in London. Es werde Unternehmen ermöglichen, den Handel mit der EU noch zu intensivieren, so der Regierungschef. Auch die größte Oppositionspartei Labour stimmte zähneknirschend zu. Ihr Chef Keir Starmer sagte, das Abkommen sei "dünn" und "mit vielen Makeln behaftet". Es sei jedoch besser als ein No Deal, der Preissteigerungen zur Folge hätte und Unternehmen an den Rand der Existenz bringen könnte.

Scharfe Kritik kam vor allem aus Schottland: Regierungschefin Nicola Sturgeon wetterte vor dem Regionalparlament in Edinburgh gegen den "faulen Brexit, den Schottland die ganze Zeit abgelehnt hat". Der britische Staatsminister Michael Gove warf Sturgeons Schottischer Nationalpartei (SNP) vor, ihren "engstirnigen" Nationalismus über das nationale Wohl des Landes zu stellen. Die SNP strebt die Loslösung von Großbritannien an - der Brexit könnte dabei helfen. Denn die Schotten hatten beim Brexit-Referendum 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt, in Umfragen spricht sich seit Monaten eine Mehrheit für die Unabhängigkeit aus.

EU-Ratschef Michel würdigte das Abkommen als fair und ausgewogen. Es wahre die Interessen der EU und schaffe für Bürger und Unternehmen Stabilität und Verlässlichkeit, sagte Michel. Auch künftig werde die EU bei wichtigen Themen Seite an Seite mit dem Vereinigten Königreich stehen, etwa beim Klimaschutz oder im globalen Kampf gegen Pandemien.

Der Vertrag kann vorerst nur vorläufig angewendet werden, weil für eine Ratifizierung durch das Europaparlament vor dem Jahresende die Zeit fehlte. Das Europaparlament will den Text noch genau prüfen. Anvisiert wird eine Abstimmung im Februar oder März.

Großbritannien und die EU hatten sich erst an Heiligabend auf den Vertrag geeinigt. Großbritannien war bereits Ende Januar 2020 aus der EU ausgetreten, zum neuen Jahr endet auch die Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion.

Zeit für Brexit-Einigung über Gibraltar wird immer knapper

Spanien und Großbritannien verhandeln unter immer größerem Zeitdruck über eine Brexit-Regelung für Gibraltar. Das britische Überseegebiet ist nicht Teil des Abkommens von Heiligabend zwischen der Europäischen Union und Großbritannien, sondern darüber verhandeln Spanien und Großbritannien bilateral. Beide Seiten wollten sich am Mittwoch - einen Tag vor Ablauf der Frist für eine Einigung - nicht zum Verhandlungsstand äußern, um die Gespräche nicht zu gefährden, wie es übereinstimmend in Madrid und Gibraltar hieß.

Ein Sprecher des britischen Premierministers Boris Johnson hielt sich ebenso bedeckt wie die EU-Kommission. "Wir sind noch optimistisch, aber wenn es keine Einigung gibt, wird die Lage ab dem neuen Jahr chaotisch", sagte eine Regierungsquelle in Gibraltar der Deutschen Presse-Agentur.

Im Raum steht die Warnung der spanischen Außenministerin Arancha Gonzalez Laya, dass die Grenze zu Gibraltar ab Freitag zu einer EU-Außengrenze werden könnte und sich in kleinerem Maßstab ähnliche Szenen wie beim Lastwagenstau vor Dover in Großbritannien wiederholen könnten. Die Politikerin der linken Regierung in Madrid setzt sich dafür ein, dass Gibraltar Teil des Schengenraumes wird, was auch der Regierungschef Gibraltars, Fabian Picardo, befürwortet. Die Kontrolle der EU-Außengrenze müsste dann am internationalen Flughafen Gibraltars erfolgen.

Umstritten ist nach Informationen der Zeitung "El País" allerdings, wie diese Kontrolle vor sich gehen soll. Spanien sei bereit, dass hier die europäische Grenzschutzagentur Frontex zum Einsatz komme. Allerdings müsse Frontex im Auftrag Spaniens tätig werden und Madrid Bericht erstatten. Denn Spanien sei bei den anderen Schengen-Staaten in der Pflicht, die Außengrenze zu kontrollieren. Großbritannien könne das nicht, weil es nicht zum Schengenraum gehört und Gibraltar auch nicht, weil es kein Staat sei.

Schottland und Nordirland lehnen Brexit-Pakt ab

Die erste Kammer des britischen Parlaments in London hat den Brexit-Handelspakt mit der EU abgesegnet, doch aus den Landesteilen kommt Gegenwind. Sowohl das schottische Parlament als auch die Nordirland-Versammlung lehnten den Vertrag am Mittwoch ab. Ihre Abstimmungen haben allerdings keinen Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess in London.

In Edinburgh stimmten die Parlamentarier mit 92 zu 30 Stimmen für eine Entschließung, nach der das Abkommen "Schottlands ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen ernsthaften Schaden" zufüge. In der nordirischen Hauptstadt Belfast votierten 47 Abgeordnete gegen den Deal, 38 dafür. Parlamentschef Alex Maskey sagte, er werde dem britischen Premierminister Boris Johnson das Ergebnis bekanntgeben.

Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon hatte zuvor gefordert, die Abgeordneten sollten gegen den "faulen Brexit, den Schottland die ganze Zeit abgelehnt hat", stimmen. Der Brexit-Handelspakt, den der britische Premierminister Boris Johnson mit der EU-Kommission vereinbart hatte, biete keine Vorteile, nur massive Nachteile. Schottlands Stimme sei zu jedem Zeitpunkt ignoriert worden.

Die Menschen in Schottland hatten beim Brexit-Referendum 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt. Sturgeon strebt die Unabhängigkeit von Großbritannien an, in Umfragen befürwortet eine Mehrheit die Loslösung - der Brexit ist dafür ein Hauptgrund. Auch Nordirland hatte 2016 mit knapper Mehrheit gegen den Brexit gestimmt. Landesweit sprach sich aber eine knappe Mehrheit für den Austritt aus.

LONDON (dpa-AFX)

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