Euro am Sonntag-Meinung

Die Türkei wandelt auf schmalem Grat

30.09.18 01:00 Uhr

Die Türkei wandelt auf schmalem Grat | finanzen.net
Christopher Smart

Wohin sich die Krise der türkischen Wirtschaft und Währung entwickelt, wird auch von der Regierung in Ankara selbst abhängen.

von Christopher Smart, Gastautor für €uro am Sonntag

Inmitten der jüngsten Marktturbulenzen verkündete einer der besseren Twitter- Beiträge, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sein Land möglicherweise "privatisieren" werde. Wie ein Echo auf den unangebrachten Tweet des CEO von Tesla, Elon Musk, über seine Pläne zur Privatisierung des Autoherstellers hieß es darin: "Finanzierung gesichert."



Erdogan hat sicherlich weniger Erfolgschancen als Musk, aber die Witzelei kann als passende Metapher für die aktuelle Strategie des türkischen Präsidenten verstanden werden. Wenn Ihre Partner und Finanzgeber weniger kooperativ zu sein scheinen, als Sie das wünschen, liegt natürlich die Strategie nahe, unter Freunden und Familienmitgliedern Unterstützung aufzutreiben, den Gürtel enger zu schnallen und zu hoffen, mit den zusammengekratzten Ressourcen irgendwie überleben zu können.

Da die Geldströme aus dem Ausland versiegt sind, drängt Erdoğan die Türken, ihre Dollars und Euros in Lira umzu­tauschen, und beschränkte die Hedging-Aktivitäten der Banken, um Leerverkäufe zu begrenzen. Wie es aussieht, wandelt er derzeit auf einem schmalen Grat, um eine Katastrophe abzuwenden, doch nach den ­Herabstufungen der Rating­agenturen Moody’s und S & P werden achtsame Anleger aufmerksam nach Anzeichen für eine weitere Verschlechterung der Situation suchen.


Wie unsere Analyse nahelegt, verfügt die türkische Regierung über genügend Geldmittel, um ihre Schulden, die in den nächsten Jahren fällig werden, zu begleichen. Angesichts der potenziellen Auswirkungen auf das Land, seine Politiker, seine Industrie und seine Bankinstitute wird Erdoğans Team vermutlich einen Staatsbankrott mit allen Mitteln vermeiden.

Und trotz der düsteren Aussichten, was Bankguthaben und Kreditprolongationen anbelangt, dürften die meisten großen Banken und Firmen in der Lage sein, unter den derzeitigen Umständen ihren Verbindlichkeiten nachzukommen. Die Währungsabwertung wird irgendwann Bilanzverluste aus­lösen und die türkische Wirtschaft in die Rezession führen, sie wird aber auch die externen Zahlungsströme verbessern und das Konto ins Plus stoßen.


Könnte die Türkei etwa Italien zu Fall bringen? Es besteht immer die Möglichkeit, dass sich die Krise ausweitet. Dies vorausgeschickt, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die jüngste Ausweitung der Spreads bei ­italienischen Staatsanleihen im Vergleich zu deutschen Staatsanleihen zwar manche Anleger genervt hat, aber von einem historisch niedrigen Niveau ausging und mehr von inländischem politischem Lärm um Budgetziele angetrieben zu sein schien.

Erdoğan drohte seinen Währungshütern

Aus breiterer Sicht betrachtet, scheint das Risiko für Europa insgesamt relativ gering zu sein: Die Exporte der Eurozone in die Türkei betragen etwa 1,5 Prozent der Gesamtexporte, was eine mögliche Beeinträchtigung des europäischen Wachstums in Grenzen hält.

Was die Risiken der Banken in der Eurozone anbelangt, so ist die spanische BBVA am anfälligsten, aber auch Unicredit, ING, BNP und HSBC haben Verluste zu befürchten. Schätzungen zufolge beträgt Europas gesamtes Kreditrisiko gegenüber der Türkei weniger als ein Prozent des europäischen Brutto­inlandsprodukts.

Mit der überraschenden Er­höhung des Leitzinses von 17,75 auf 24 Prozent hatte sich das Schwellenland vergangene Woche wieder etwas Luft in der Währungskrise verschafft. Doch die Drohungen Präsident Erdoğans gegenüber den Währungshütern am darauffolgenden Tag haben die Lira sofort wieder einbrechen lassen.

Unsere Teams für Emerging Markets Debt und Emerging Markets Equity halten nach weiteren Schlagzeilen rund um potenzielle Finanzierungsquellen, die die Position der Türkei stärken könnten, Ausschau. Katar hat 15 Milliarden US-Dollar angeboten, allerdings zu vagen Konditionen. Der IMF ist bereit, unterstützend einzugreifen, wird seine Kredite jedoch an eine Reihe schwieriger Konditionen knüpfen. Es gibt zahlreiche Spekulationen über eine Hilfe aus Russland oder China, aber diese wäre ihrerseits mit besonderen Bedingungen verbunden.

Solange keine frische Kreditlinie in Sicht ist, konzentriert sich die Analyse hauptsächlich auf das politische Kalkül der Präsidenten der USA und der Türkei. Obwohl die US-Außenpolitik immer schwerer vorhersehbar wird, ist eine Eskalation, die das Risiko einer weiteren Ansteckung der Finanzmärkte mit sich brächte, kaum vorstellbar.

Außerdem bleibt die Türkei weiterhin ein NATO-Partner in einer schwierigen Nachbarschaft und hat es in der Hand, die US-Interessen im Irak, in Syrien und im Nahen Osten insgesamt zu vereiteln. Insbesondere Europa ist nach wie vor auf die türkische Kooperation angewiesen, um die politisch sensiblen Flüchtlingsströme zu steuern. Mittlerweile sendet Russland zunehmend freundlichere Signale, während sich die Beziehungen zwischen Ankara und dem Westen verschlechtern. Sollte der in der Türkei inhaftierte amerikanische Pastor nicht freigelassen werden, könnte man sich weitere Sank­tionen gegen türkische Staats­bedienstete oder eine Reduzierung der militärischen Kooperation vorstellen. Allerdings wäre es riskant, das Land oder seine Banken von den Dollarmärkten abzuschneiden. Das käme einem Eigentor gleich.

Derzeit scheint Erdoğan da­rauf zu bauen, dass seine starke Pose gegenüber Washington und den Finanzmärkten seine Chancen in der Heimat erhöht, seine Unterstützer durch staatliche Finanzierungen schützt und seine Herausforderer im finanziellen Tumult untergehen lässt. Das mag kurzfristig funktionieren, dennoch könnte die steile Währungsabwertung eine schmerzhafte Rezession einleiten, die jeden patriotischen Eifer aushöhlt, den Erdoğan heute noch schüren kann. Die Märkte scheinen zu erwarten, dass er letztendlich klein beigibt.

Kurzvita

Christopher Smart
Leiter des Researchs bei Barings
Smart arbeitet seit 1995 in der Branche, war ­zudem vier Jahre lang als Deputy Assistant des US-Finanzministers tätig. In dieser Funktion gestaltete er maßgeblich die Reaktion auf die europäische Finanzkrise und konzipierte die amerikanische Finanzpolitik für Europa, Russland und Zentralasien.
Barings ist ein globaler Finanzdienstleister mit mehr als 306 Milliarden US-Dollar verwaltetem Vermögen.




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