Einigung in letzter Minute: Brexit-Handelspakt steht, Chaos vermieden
Nach extrem langwierigen Verhandlungen haben die Europäische Union und Großbritannien an Heiligabend doch noch einen Brexit-Handelspakt vereinbart.
Damit ist ein harter wirtschaftlicher Bruch zum Jahreswechsel in letzter Minute abgewendet. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Premierminister Boris Johnson zeigten sich zufrieden. Bundeskanzlerin Angela Merkel maß dem Vertrag historische Bedeutung zu.
Das Abkommen soll die Beziehungen zwischen der Insel und dem Kontinent ab Januar 2021 neu aufstellen. Wichtigster Punkt ist, Zölle zu vermeiden, unbegrenzten Handel in beide Richtungen zu erlauben und Reibungsverluste so weit wie möglich zu begrenzen. Der Vertrag umfasst aber auch den Fischfang sowie die Zusammenarbeit bei Energie, Transport, Justiz, Polizei und vielen anderen Themen. Da die Brexit-Übergangsphase bereits am 31. Dezember endet, war der Zeitdruck am Ende enorm.
"Es hat gedauert, aber nun haben wir ein Abkommen", sagte EU-Kommissionschefin von der Leyen. "Es war ein langer und steiniger Weg. Aber das Ergebnis ist gut." Das Abkommen sei fair und ausgewogen. "Und es war ein Gebot der Vernunft für beide Seiten", fügte von der Leyen hinzu. Die EU habe sich in einer sehr guten Verhandlungsposition befunden und ihre Interessen voll gewahrt. Nun könne die Gemeinschaft den Brexit endlich hinter sich lassen.
In London äußerte sich Premierminister Johnson ähnlich. "Ich glaube, das ist ein guter Deal für ganz Europa", sagte er. Und er fügte hinzu: "Wir werden euer Freund sein, euer Partner, euer Unterstützer, und nicht zu vergessen, euer Nummer-Eins-Markt."
Aus Sicht seiner Regierung ist mit dem Abkommen alles erreicht, was die britische Öffentlichkeit mit dem Brexit-Referendum von 2016 wollte. "Wir haben wieder Kontrolle über unser Geld, unsere Grenzen, unsere Gesetze, unseren Handel und unsere Fischgründe zurückgewonnen", erklärte die Regierung. Zugleich gewähre das Abkommen Zollfreiheit und unbegrenzte Exporte in die EU.
Großbritannien hat die EU schon Ende Januar verlassen und ist nur noch in einer Übergangszeit bis 31. Dezember Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Dann kommt der wirtschaftliche Bruch. Ohne Abkommen wären Zölle und aufwendigere Kontrollen notwendig geworden. Wirtschaftsvertreter auf beiden Seiten warnten vor Verwerfungen und dem Verlust Zehntausender Jobs.
Die Verhandlungen hätten eigentlich schon im Oktober abgeschlossen werden sollen, doch sie zogen sich immer weiter in die Länge. Mehrfach standen sie wohl kurz vor dem Scheitern. Nun kann der Vertrag auf EU-Seite nicht mehr rechtzeitig ratifiziert, sondern nur noch vorläufig angewendet werden. Um die nötigen Vorbereitungen zu treffen, berief die deutsche Ratspräsidentschaft für Freitag eine Sitzung der EU-Botschafter ein. Auf britischer Seite hat die Regierung angekündigt, das Parlament zu befassen.
Bundeskanzlerin Merkel würdigte die Einigung in Berlin. "Mit dem Abkommen schaffen wir die Grundlage für ein neues Kapitel in unseren Beziehungen", sagte die CDU-Politikerin. "Großbritannien wird auch außerhalb der Europäischen Union weiterhin ein wichtiger Partner für Deutschland und für die Europäische Union sein." Auch Außenminister Heiko Maas (SPD) zeigte sich erleichtert. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte, europäische Einheit und Standfestigkeit hätten sich ausbezahlt. "Europa kommt voran und kann einer geeinten, eigenständigen und starken Zukunft entgegenblicken."
Im Gegenzug für einen Handel ohne Zölle und ohne Mengenbegrenzung verlangt die EU faire Wettbewerbsbedingungen - das sogenannte Level Playing Field. Gemeint sind gleiche Umwelt-, Sozial- und Subventionsstandards. Die Frage blieb bis zum Schluss ein höchst komplizierter Streitpunkt. Gesucht wurde ein Weg, fairen Wettbewerb auch für die Zukunft sicherzustellen und anderenfalls gegensteuern zu können. Das sei gelungen, sagte von der Leyen.
Danach blieb noch ein allerletzter Knackpunkt: der Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern. Die Klärung der letzten Einzelheiten zog sich über viele Stunden bis Donnerstagmittag hin. Schließlich fand man auch hier einen Kompromiss. Dieser sieht nun eine Übergangsphase von fünfeinhalb Jahren vor, in der EU-Fischer in britischen Gewässern 25 Prozent weniger fischen dürfen. Anschließend soll dies jährlich festgelegt werden.
Zuletzt hatte die Zuspitzung der Corona-Pandemie in Großbritannien weiteren Druck aufgebaut. Nachdem eine mutierte Variante des Coronavirus entdeckt wurde, hatte Frankreich zeitweise seine Grenzen für Verkehr aus Großbritannien geschlossen. Deshalb stauten sich auf britischer Seite Tausende Lastwagen - aus Sicht von Kritikern ein Vorgeschmack auf die Lage bei einem No-Deal-Brexit.
Die britischen Wähler hatten 2016 mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt gestimmt. Premierminister Johnson gewann 2019 die Parlamentswahl unter anderem mit der Ansage, den Brexit nun tatsächlich durchzuziehen. Als zentralen Punkt nannte er immer wieder, Souveränität und Kontrolle über die eigenen Grenzen und Gesetze wiederzuerlangen.
Johnsons 'kleines Weihnachtsgeschenk': Lektüre des Handelspakts
Der britische Premier Boris Johnson hat seinen Landsleuten an Heiligabend in einer auf Twitter ausgestrahlten Video-Weihnachtsbotschaft ein "kleines Geschenk" gemacht. Wer etwas in diesem "schläfrigen Moment nach dem Weihnachtsmahl" etwas lesen möchte, dem empfehle er die Lektüre des gerade ausgehandelten Handelspakts zwischen Großbritannien und der EU. Vor laufender Kamera hielt er einen dicken Packen Papier hoch, den er als "frohe Botschaft" deklarierte. Der Brexit sei der erste Gang gewesen, das Abkommen sei nunmehr "das Fest", wie er sagt. "Voller Fisch, übrigens", fügte Johnson mit Hinweis auf die mühsamen Verhandlungen von Brüssel und London über die künftigen Fischereirechte in britischen Gewässern hinzu.
Ökonomen-Stimmen zum Brexit-Handelsabkommen
So beurteilten Ökonomen die Entscheidung:
Gabriel Felbermayr, Präsident Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel):
"Ich bin sehr erleichtert über diese Einigung in letzter Minute. Dass es im Handel zwischen Großbritannien und der EU nun keine Zölle und Mengenbeschränkungen geben wird, ist klar besser als wenn ohne Deal nach den allgemeinen Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) gehandelt worden wäre. Aber wie gut die Lösung wirklich ist, hängt von den Details ab, deren Analyse erst beginnt."
Uwe Burkert, Chefvolkswirt und Leiter LBBW Research:
"Ein Heureka-Moment. Endlich. Eine Einigung, die aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass nur das allerschlimmste vermieden wurde. Aber immerhin. Trennungen tun immer weh. Aber wie jede gute Scheidung sollte für ein respektvolles Miteinander danach gesorgt werden. Der Wirtschaft tut es gut, wenn endlich wieder Vernunft das Miteinander bestimmt. (...) Am Kurs des britischen Pfund und des Euro zum US-Dollar lässt sich die Bedeutung dieser Einigung für Europa ablesen. "
Achim Wambach, ZEW-Präsident:
"Es ist eine Erleichterung, dass das Hin und Her um Austrittsabkommen und Handelsvertrag nun endlich einen Abschluss gefunden hat. Die Ungewissheit hat ein Ende. Durch den Abschluss des Abkommens gibt es nun mehr Planbarkeit und Sicherheit für die künftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich."
'Seufzer der Erleichterung': Wirtschaft will Brexit-Deal genau prüfen
Nach der historischen Einigung auf einen Brexit-Handelspakt läuft die Analyse des Vertragswerks auf Hochtouren. Vor allem die Wirtschaft wird ganz genau hingucken. Vertreter aller Branchen begrüßten das Abkommen. Von einem "Seufzer der Erleichterung" sprach die deutsch-britische Industrie- und Handelskammer (AHK) in London. Sorgen bereitet aber die sehr kurze Zeit, um sich durch das dicke Dokument zu wühlen. Kanzlerin Angela Merkel hatte das Abkommen bereits als historisch gewürdigt.
Die EU und Großbritannien hatten sich am Donnerstag nach monatelangem Ringen auf einen Handelspakt geeinigt. Auf EU-Seite kann der Vertrag allerdings nicht mehr rechtzeitig ratifiziert, sondern nur noch vorläufig angewendet werden. Um die nötigen Vorbereitungen zu treffen, berief die deutsche Ratspräsidentschaft deshalb für diesen Freitag eine Sitzung der EU-Botschafter ein. Auf britischer Seite hat die Regierung angekündigt, am 30. Dezember das Parlament zu befassen.
Der deutsche EU-Abgeordnete David McAllister äußerte sich im Gespräch mit der "Welt" (Online) optimistisch mit Blick auf die noch erwartete Ratifizierung des Deals im EU-Parlament. "Wir sind in der politischen Verantwortung, einen ungeregelten Übergang zu vermeiden und die negativen Folgen für die Bürger und Unternehmen so gering wie möglich zu halten", sagte der CDU-Politiker, der auch Brexit- Beauftragter des EU-Parlaments ist. Nach seinen Worten kann das Abkommen zunächst auch ohne Zustimmung des Parlaments gelten. Dies dürfe aber "kein Präzendenzfall für künftige Handelsabkommen sein".
AHK-Chef Ulrich Hoppe mahnte, die Wirtschaft müsse sich trotz des Deals auf "tiefgreifende Veränderungen" einstellen. "Ab dem ersten Tag nach der Brexit-Übergangsphase wird der Handel mit Gütern und Dienstleistungen teurer werden und in einigen Fällen deswegen unter Umständen sogar zum Erliegen kommen", sagte Hoppe. Der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbands BDI, Joachim Lang, betonte: "Das Abkommen ist besser als kein Abkommen." Allerdings bedeute der Pakt für die meisten Unternehmen dennoch zusätzliche Bürokratie und unnötige Grenzformalitäten.
"Viele Unternehmen werden gegen Regularien verstoßen, weil sie mit der neuen Regelflut noch nicht vertraut sind", sagte York-Alexander von Massenbach von der britischen Handelskammer in Deutschland der Deutschen Presse-Agentur. "Der Deal kommt für Unternehmen ausgesprochen spät. Sich in wenigen Tagen durch 2000 Seiten Text zu arbeiten und zu identifizieren, welche Konsequenzen drohen, ist schwer zu leisten", sagte er.
Der Vertrag soll die Beziehungen beider Seiten von Januar 2021 an neu aufstellen. Wichtigster Punkt ist, Zölle zu vermeiden, unbegrenzten Handel in beide Richtungen zu erlauben und Reibungsverluste so weit wie möglich zu begrenzen. Großbritannien war bereits Ende Januar aus der EU ausgetreten, ist während einer Brexit-Übergangsphase bis Jahresende aber noch Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Ohne Abkommen wären Zölle und aufwendigere Kontrollen notwendig geworden. Wirtschaftsvertreter auf beiden Seiten hatten für diesen Fall vor Verwerfungen und dem Verlust Zehntausender Jobs gewarnt.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson zeigten sich zufrieden. "Mit dem Abkommen schaffen wir die Grundlage für ein neues Kapitel in unseren Beziehungen", sagte Kanzlerin Merkel.
Auch britische Verbände waren erleichtert. "Eingedenk der Tatsache, dass vier Fünftel der britischen Lebensmittelimporte aus der EU stammen, wird die heutige Ankündigung den Verbrauchern in ganz Großbritannien einen kollektiven Seufzer der Erleichterung entlocken", sagte die Chefin des Handelsverbandes BRC, Helen Dickinson. Der Verband der Lebensmittel- und Getränkehersteller FDF warnte vor zu schnellem Jubel. "Wir werden mit den Feierlichkeiten warten, bis wir die Details geprüft haben", sagte FDF-Chef Ian Wright. Er kritisierte, der Branche blieben nur noch vier Arbeitstage, um sich auf neue Regeln einzustellen.
Vor allem die britische Wirtschaft wäre nach Einschätzung von Ökonomen schwer von einem sogenannten No-Deal-Brexit getroffen worden. Aber auch mit einem Abkommen droht mancher Branche ein deutliches Minus. "Durch den Brexit-Deal kann man den Absturz abbremsen, aber nach einer kurzen Erholung nach Corona wird England mit einem weiteren schleichenden Abbau seiner Autoindustrie rechnen müssen", sagte der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer.
Der Abschied Großbritanniens hat aber auch gravierende Auswirkungen auf anderen Lebensbereiche. So benötigen EU-Bürger von Oktober 2021 an einen Pass zur Einreise nach Großbritannien. Außerdem zieht sich die Regierung in London aus dem EU-Studentenaustauschprogramm Erasmus zurück. Zusätzliche Roaming-Gebühren wird es aber nicht geben, wie die deutschen Mobilfunkanbieter auf dpa-Anfrage mitteilten. "Bei uns bleibt Großbritannien in den EU-Tarifen, so wie jetzt etwa schon die Schweiz inkludiert ist", sagte ein Sprecher der Deutschen Telekom.
EU-Kommissionschefin von der Leyen nannte das Abkommen fair und ausgewogen. "Und es war ein Gebot der Vernunft für beide Seiten", fügte von der Leyen hinzu. Die EU habe sich in einer sehr guten Verhandlungsposition befunden und ihre Interessen voll gewahrt. Nun könne die Gemeinschaft den Brexit endlich hinter sich lassen.
In London äußerte sich Premierminister Johnson ähnlich. "Ich glaube, das ist ein guter Deal für ganz Europa", sagte er. Aus Sicht seiner Regierung ist mit dem Abkommen alles erreicht, was die britische Öffentlichkeit mit dem Brexit-Referendum von 2016 wollte. "Wir haben wieder Kontrolle über unser Geld, unsere Grenzen, unsere Gesetze, unseren Handel und unsere Fischgründe zurückgewonnen", erklärte die Regierung. Zugleich gewähre das Abkommen Zollfreiheit und unbegrenzte Exporte in die EU. Großbritannien hatte im Juni 2016 mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt.
Zuletzt hatte die Zuspitzung der Corona-Pandemie in Großbritannien weiteren Druck aufgebaut. Nachdem eine mutierte Variante des Coronavirus entdeckt worden war, hatte Frankreich zeitweise seine Grenzen für Verkehr aus Großbritannien geschlossen. Deshalb stauten sich auf britischer Seite Tausende Lastwagen - aus Sicht von Kritikern ein Vorgeschmack auf die Lage bei einem No-Deal-Brexit.
Erleichterung über Brexit-Einigung - EU-Staaten prüfen Vertrag
Nach der historischen Einigung auf einen Handelspakt zwischen der EU und Großbritannien herrscht auf beiden Seiten des Ärmelkanals große Erleichterung. Während der britische Premier Boris Johnson jubilierte, liefen in Brüssel bereits die Vorbereitungen auf eine vorläufige Anwendung des Heiligabend-Deals ab Januar.
EU-Chefunterhändler Michel Barnier informierte am Freitag die Botschafter der 27 EU-Staaten über das Ergebnis der monatelangen und zähen Verhandlungen. Die EU-Mitgliedstaaten würden die 1246 Seiten nun prüfen und "diese gewaltige Aufgabe in den kommenden Tagen fortsetzen", schrieb ein Sprecher der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am Freitag auf Twitter. Weil Deutschland derzeit turnusgemäß den Vorsitz der EU-Staaten innehat, hatte es kurzfristig eine Botschaftersitzung angesetzt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bereits am Donnerstag zugesagt, den Text nun zügig zu prüfen. Das Bundeskabinett werde sich am Montag telefonisch über die deutsche Position verständigen. "Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir hier ein gutes Resultat vorliegen haben."
Die EU und Großbritannien hatten sich am Donnerstag nach langwierigen Verhandlungen auf einen Handelspakt geeinigt. Der Vertrag soll die Beziehungen beider Seiten von Januar 2021 an neu regeln. Wichtigster Punkt ist, Zölle zu vermeiden, unbegrenzten Handel in beide Richtungen zu erlauben und Reibungsverluste so weit wie möglich zu begrenzen. Aber auch etliche andere Punkte wie die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen oder die Teilnahme an Forschungsprogrammen werden geregelt.
Da das Abkommen nur acht Tage vor Ablauf der Übergangsfrist zustande kam, bleibt für eine Ratifizierung durch das Europaparlament allerdings keine Zeit mehr. Deshalb kann der Vertrag zunächst nur vorläufig angewendet werden. Dafür braucht es jedoch noch die Zustimmung der 27 EU-Staaten. Die EU-Botschafter werden in den kommenden Tagen darüber abstimmen. Das nächste Treffen ist für Montag angesetzt. Das EU-Parlament soll das Abkommen dann nachträglich im Januar prüfen. Die EU-Botschafter hätten am Freitag einstimmig beschlossen, einen Brief an das Europaparlament zu schicken, der die Notwendigkeit dieses außergewöhnlichen Schritts darlegt, sagte ein EU-Diplomat nach dem Treffen am Freitag.
In Großbritannien soll sich das Parlament am 30. Dezember mit dem Vertrag befassen. Zeit für eine eingehende Prüfung bleibt dadurch kaum. Eine Rebellion seiner Brexit-Hardliner muss Johnson nicht fürchten: Er verfügt über eine satte Mehrheit im Parlament und die oppositionelle Labour-Partei kündigte an, ebenfalls für das Vertragswerk zu stimmen. Selbst der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage, der bislang mit Argusaugen auf den aus seiner Sicht korrekten Vollzug des EU-Austritts geachtet hatte, gab dem Abkommen seinen Segen: Es sei zwar nicht perfekt, "aber im Großen und Ganzen ist der Krieg vorbei".
Johnson legte den Briten die Lektüre des komplexen Werks für die Feiertage nahe. Wer in diesem "schläfrigen Moment nach dem Weihnachtsmahl" etwas lesen wolle, dem empfehle er die Lektüre des Handelspakts, sagte er in einer auf Twitter ausgestrahlten Video-Weihnachtsbotschaft in gewohnt scherzhafter Manier. Dabei hielt er einen dicken Packen Papier hoch, den er als "frohe Botschaft" deklarierte.
Der Brexit sei der erste Gang gewesen, das Abkommen sei nunmehr "das Fest", wie er sagt. "Voller Fisch, übrigens", fügte Johnson hinzu. Die Verhandlungen über den Zugang von EU-Fischern zu britischen Hoheitsgewässern waren einer der kniffligsten Streitpunkte, dieser wurde als letztes gelöst. Schon an Heiligabend hatte Johnson sich mit einer Fisch-verzierten Krawatte vor der Presse gezeigt.
Aus Sicht der britischen Regierung ist mit dem jetzigen Abkommen all das erreicht, was die britische Öffentlichkeit mit dem Brexit-Referendum von 2016 wollte. "Wir haben wieder Kontrolle über unser Geld, unsere Grenzen, unsere Gesetze, unseren Handel und unsere Fischgründe zurückgewonnen", erklärte die Regierung. Zugleich gewähre das Abkommen Zollfreiheit und unbegrenzte Exporte in die EU.
Doch auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach von einem guten Ergebnis, das alle Interessen der EU wahre. Nach den quälenden Verhandlungen der vergangenen Monate will man sich in Brüssel nun demonstrativ anderen Themen zuwenden. "Endlich können wir den Brexit hinter uns lassen", hatte von der Leyen bereits an Heiligabend gesagt.
Dass sich trotz des Abkommens - vor allem für die Briten - eine Menge ändern wird, machte am Freitag sogleich die französische Regierung deutlich: Sie pocht auf eine massive Überprüfung britischer Waren vom Jahreswechsel an. "Wir müssen britische Produkte kontrollieren, die zu uns kommen", sagte Europa-Staatssekretär Clément Beaune am Freitag im Sender Europe 1. Bei Nahrungsmitteln oder Industrieprodukten müssten allen geltenden Normen eingehalten werden. Der französische Staat habe rund 1 300 Menschen angeworben, um diese Kontrollen zu gewährleisten. Frankreich ist ein wichtiges Drehkreuz für britische Waren.
Auch der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, David McAllister, erwartet nach dem britischen Austritt aus dem Binnenmarkt zum Jahreswechsel "weitreichende Folgen für die Menschen, Unternehmen und öffentliche Verwaltungen", wie er der "Welt" sagte. "Der Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wird nicht mehr so reibungslos ablaufen können, wie wenn wir gemeinsam dem Binnenmarkt und der Zollunion angehören."
Auf welche Vorzüge der EU-Mitgliedschaft Großbritannien künftig verzichten muss, machte die EU-Kommission noch an Heiligabend in einer Tabelle deutlich: EU-Programme wie Erasmus, Zugang zum Corona-Hilfsplan, der Binnenmarkt für Spediteure, reibungsloser Handel und dass Haustiere künftig einen Pass haben müssen sind nur wenige der Beispiele.
Ohne Abkommen wären die Folgen allerdings deutlich dramatischer ausgefallen. Dann wären Zölle und aufwendigere Kontrollen notwendig geworden. Wirtschaftsvertreter auf beiden Seiten hatten für diesen Fall vor Verwerfungen und dem Verlust Zehntausender Jobs gewarnt.
/vsr/DP/he
BRÜSSEL/LONDON (dpa-AFX)
Weitere News
Bildquellen: Vinko93 / Shutterstock.com