Vorwort zu Charles Kindleberger „Die Weltwirtschaftskrise“
Nachdem die heiße Phase der Finanzkrise durchgestanden ist ...
Sehr geehrte Privatanleger,
nachdem die heiße Phase der Finanzkrise durchgestanden ist und eine gewisse Stabilisierung der Weltwirtschaft eingesetzt hat, herrscht bei den Verantwortlichen dieser Welt große Ratlosigkeit. Im Herbst 2008 bestand Einigkeit, den Totalabsturz zu verhindern – immerhin. Banken wurden gerettet, Liquiditätsspritzen und Konjunkturprogramme in einem nie dagewesenen Ausmaß initiiert. Aber wie geht es weiter? Klar ist, dass die Weltwirtschaft keinesfalls gesund ist. Viele der Akutmaßnahmen in den Jahren 2008 bis 2009 bestanden aus der selben Medizin – billigem Geld und Schulden – die letztlich die Krise verursacht hat. Auch die Regulierung der Finanzmärkte kommt nicht wirklich voran. Wie also kann die Gefahr einer neuen Großen Depression, die immer noch sehr bedrohlich ist, gebannt werden?
Die Mächte dieser Welt sind uneins. Die Vereinigten Staaten, eindeutig das Ursprungs- und Verursacherland, setzen auf Schuldenfinanzierung, als ob es kein Morgen gäbe. Die (noch) führende Wirtschaftsnation der Welt ist ein „Imperium der Schulden“, bei dem Bürger, Staat und Nation international verschuldet sind. Vom größten Gläubiger der Welt ist die größte Wirtschaftsmacht zur größten Schuldnernation geworden – und eine Änderung ist nicht in Sicht. Die Politik Amerikas zielt derzeit eindeutig auf Inflation, denn das Land hat das Privileg, international in seiner eigenen Währung verschuldet zu sein. Im Falle von Inflation zahlen also die Gläubiger – und das sind China, Japan und Deutschland.
Europa, das relativ gesehen deutlich besser dasteht als die USA, ist, wie fast immer, gespalten und verfolgt eine widersprüchliche Politik. Einerseits bedeutet der 750-Milliarden-Dollar-Rettungsschirm für den Euro (der eigentlich ein weiterer Rettungsschirm für die Banken gegen die Bevölkerung Europas ist) einen Einstieg in die Inflationsgemeinschaft: Der Außenwert des Euro wird, auf Kosten von noch mehr Schulden und einer Aushöhlung des Innenwertes, verteidigt. Andererseits verkünden die europäischen Nationen massive Sparpakete, die drohen, das zarte Pflänzchen des Aufschwungs zu ersticken.
China – das viele als Wirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts sehen – ist die größte Gläubigernation der Welt. Durch ein massives Konjunkturprogramm von 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wurde das Wachstum bislang aufrechterhalten, aber auch in China mehren sich die Anzeichen für Überinvestitionen und Blasenbildung in vielen Sektoren. Wehe der Weltwirtschaft, wenn China auch kollabiert. Und Japan, das noch 1990 als „Wirtschaftsnation Nummer 1“ gesehen wurde, kämpft seit zwei Jahrzehnten mit einer schleichenden Depression, aus der es trotz massiver Konjunkturprogramme, Niedrigzinspolitik und einer Staatsverschuldung von über 200 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht herauskommt. Mittlerweile wird ein höherer Teil des japanischen Staatshaushalts durch Aufnahmen von Schulden als durch Steuern finanziert. Noch werden die Schuldtitel von den japanischen Sparern gekauft. Aber wehe, wenn sich das einmal ändern sollte.
In dieser Situation ist Charles Kindlebergers Werk zur Weltwirtschaftskrise von geradezu erschreckender Aktualität. Die Parallelen zur heutigen Zeit sind bedrückend. Wir lernen, dass die Weltwirtschaftskrise keinesfalls plötzlich über die Welt hereinbrach, sondern dass die Hauptakteure jener Zeit – die USA, England, Frankreich und Deutschland – seit dem Ende des Ersten Weltkriegs kontinuierlich um die Gestaltung der internationalen Wirtschaftsordnung rangen, die seit 1919 höchst instabil war.
Frankreich und England schuldeten den USA 8,7 Milliarden Dollar, während sie anderen Ländern Kredite in Höhe von 11,6 Milliarden Dollar gewährt hatten, um den Krieg zu finanzieren. Frankreich schuldete zudem England 3 Milliarden Dollar. Diese Schulden sind als „Interalliierte Kriegsschulden“ bekannt. Deutschland litt unter einer erdrückenden Reparationslast, die von den Siegern nach Belieben erhöht werden konnte. John Maynard Keynes nahm als junger Ökonom an der Delegation teil, die in Versailles einen Friedensvertrag verhandeln sollte. Als er sah, welch katastrophale Wendung die Verhandlungen nahmen, trat er aus der Delegation aus und warnte bereits 1919 vor den Folgen, die das Dekret der Siegermächte haben würde. In der Folge bemühte sich Deutschland, den Vertrag zu revidieren, Frankreich bestand auf der Einhaltung und Revanche um jeden Preise – selbst um den der Besetzung des Ruhrgebiets – und England war bereit alle Reparationen zu erlassen, die über die Summe seiner Schulden gegenüber den USA hinausgingen. Die USA wiederum waren bereit, staatliche Schulden zu erlassen, bestanden aber auf Erfüllungen der kommerziellen Verpflichtungen, also der privaten aufgenommenen Schulden und Anleihen.
Kindleberger legt schlüssig dar, dass nicht die EINE Ursache oder die EINE falsche Theorie zur Krise führte. Weder Milton Friedmans monetaristischer Standpunkt, dass eine verfehlte Geldpolitik die Ursache sei, noch Paul Samuelsons Argumentation, dass die Krise eine Verkettung unglücklicher Zustände sei, lässt er gelten. Für Kindleberger fehlte es in der Zwischenkriegszeit eindeutig an politischer Führung und an dem Willen, eine solide internationale Wirtschaftsordnung zu gestalten. Nicht ein Kardinalfehler wurde begangen, sondern die Zeit von 1919 bis 1939 ist, nach Kindleberger, geradezu eine Aneinanderreihung von Fehlern.
Lange vor 1929 braute sich das Unheil zusammen. In den Jahren 1922 und 1923 hatte in Deutschland die Hyperinflation gewütet. 1924 führte der Dawes-Plan zu einer gewissen internationalen Beruhigung. Nun flossen aber viele private Gelder in Form von Krediten aus den USA nach Deutschland (und dann auch nach Lateinamerika). Im Jahr 1927 warnte der große Hjalmar Schacht, Präsident der Reichsbank, in einer Rede davor, dass die deutschen Kommunen diese Kredite vor allem für „Stadien, Schwimmbäder, Pools, öffentliche Plätze, Tagungsstätten, Hotels, Büros, Planetarien, Flughäfen, Theater, Museen und so weiter“ ausgeben würden. Ab 1928, als die Spekulationsblase in den USA immer größer wurde und die Kredite nicht mehr so reichlich zur Verfügung standen, wuchsen die Sorgen, wie Deutschland seine Schulden refinanzieren könne. 1930 trat der Young-Plan in Kraft, 1932 wurde das Problem der deutschen Reparationszahlungen weitestgehend gelöst – tragischerweise war es da zu spät. Das Unheil nahm seinen Lauf.
Von 1925 bis 1926 hätte eine massive Spekulationsblase bei Grundstücken in Florida Warnung vor der Aktienblase von 1928 bis 1929 und dem Crash sein können, genauso wie die Technologieblase der Jahre 1998 bis 2000 als Warnung vor der Immobilienblase und anschließenden Finanzkrise hätte dienen können. Nach 1929 fielen die Exportpreise der rohstoffproduzierenden Länder auf bis zu 20 Prozent des Niveaus von 1929. Im Jahr 1931 führten in Österreich und Deutschland, die durch Kriegsfolgen und Inflation geschwächt waren, die Zusammenbrüche der „Creditanstalt“ und der „Darmstädter und Nationalbank“ zu Bankpaniken. 1925 kehrte England unter Schatzkanzler Winston Churchill zum Goldstandard mit der überhöhten Vorkriegsparität zurück, was einen deflationären Effekt hatte. Die Notenbanken Frankreichs und der USA sterilisierten die aus den Zahlungsbilanzüberschüssen stammenden Goldzuflüsse, was ebenfalls deflationäre Folgen hatte. 1930 erließ der Kongress der Vereinigten Staaten den Smoot-Hawley Tariff Act, der eine Spirale von Zollerhöhungen nach sich zog. Hoover hatte im Wahlkampf 1928 Schutzzölle für die amerikanischen Bauern vorgeschlagen und konnte nun die allgemeine Zollerhöhung nicht verhindern. Von nahezu drei Milliarden Dollar im Januar 1929 implodierte der Welthandel auf unter eine Milliarde 1932. 1939 scheiterte eine Weltwirtschaftskonferenz der Außenminister in London – U.S.-Präsident Roosevelt weigerte sich, den Dollar bei einem hohen Wechselkurs zu stabilisieren. Gleichzeitig beendete er den Goldstandard. Diese nahm anderen Ländern Exportmöglichkeiten und verlängerte die Krise.
Charles Kindleberger war ein Mann, der etwas zu sagen hatte und der das Publikum sofort in seinen Bann schlug. Ich hatte als junger Student das Glück, den damals 76jährigen bei einer Konferenz des Institute for International Economics 1986 in Washington zu hören, als er aus Charles MacKays Bericht über den Tulpenwahn vorlas. Kindlebergers Autorität war in einer Erfahrung begründet, die ihresgleichen sucht: Als Mitarbeiter des US-Finanz- und Außenministeriums sowie der Federal Reserve Bank und, vor dem Zweiten Weltkrieg, auch der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, war er an so ziemlich allen interessanten, wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen in Europa vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt gewesen – zum Beispiel als Büroleiter für deutsche und österreichische Fragen und als Berater für den Marshall-Plan im US-Außenministerium. 1984 kam er zum Massachusetts Institute of Technology (MIT) – einer Hochburg der mathematischen Ökonomie – wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Obwohl er zeitweilig sogar Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät gewesen war, sprach er sich gegen zu viel Mathematik in der Ökonomie aus und sah sich als „historischen Ökonomen“.
Kindlebergers zentrale Botschaft ist im Jahr 2010 wichtiger denn je. Seine Studie der Großen Depression sollte daher zur Pflichtlektüre für alle politisch Verantwortlichen und wirtschafspolitisch Interessierten werden:
Eine stabile Weltwirtschaft entsteht nicht „von selbst“. Sie ist ein öffentliches Gut, das angesichts nationaler Egoismen bewusst bereitgestellt werden muss. Damit die Weltwirtschaft stabil sein kann, benötigt sie eine Führungsnation, einen wohlwollenden Hegemon oder „Stabilisator“.
Die Aufgaben der Führungsnation sollten umfassen:
(1) die Aufrechterhaltung eines relativ offenen Marktes für „distressed goods“ - also Märkte mit krisenhaften Entwicklungen (heute würden wir wohl Güter UND Dienstleistungsmärkte einbeziehen),
(2) die Bereitstellung von antizyklischen oder zumindest stabilen Krediten,
(3) die Stabilisierung von Wechselkursen,
(4) die Koordination der Geld- und Fiskalpolitik
(5) und die Funktion als Kreditgeber letzter Zuflucht, durch diskontierten Aufkauf von Vermögensgegenständen oder andere Arten der Bereitstellung von Liquidität in Krisen.
Gemessen an diesen Forderungen scheinen wir, zwei Jahre nach der heißen Phase der Finanzkrise im Jahr 2008, nicht ganz so schlecht dazustehen. Die Märkte sind bislang weitgehend offen geblieben; eskalierende Zollrunden scheinen derzeit nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Die Notenbanken und die Staaten haben, im Zuge der Bankenrettung, Liquidität bereitgestellt und Ramschpapiere gekauft. Allerdings waren dies eben keine „distressed goods“ sondern von Anfang an Vermögensgegenstände zweifelhafter Liquidität. Die 2008 von vielen Ländern verabschiedeten Konjunkturpakete sollen ebenfalls antizyklisch wirken. Deutschland hat mit dem Eurorettungspaket von 2010 antizyklisch Kredite bereitgestellt. (Damit ist allerdings der Umbau der Europäischen Union von einer Stabilitäts- zu einer Inflationsgemeinschaft in vollem Gange.)
Allerdings wurde vor allem die Finanzwirtschaft auf Kosten der produzierenden Unternehmen gestützt. In der Realwirtschaft wirken die Eigenkapitalvorschriften nach Basel II prozyklisch – also krisenverschärfend. Unternehmen im Mittelstand, die am dringendsten Kredite benötigen, erhalten nur schwer welche, während die Großbanken sich weiter bei den Notenbanken fast zum Nulltarif bedienen können. Das nahezu unregulierte Kartell der Ratingagenturen macht weiter wie bisher, also ebenfalls prozyklisch und krisenverschärfend. Und während die Finanzwirtschaft durch den Eurorettungsschirm gestützt wird, legen die europäischen Länder Sparpakete auf, deren Lasten vor allem die Bevölkerung trägt.
Kindleberger äußert sich kaum zur Frage der Regulierung der Finanzmärkte. In seinen fünf Punkten ist sie nur versteckt in Punkt Drei, der Regulierung der Finanzmärkte, enthalten. Vielleicht hat er dies als selbstverständlich und daher nicht erwähnenswert erachtet. Das Buch erschien zum ersten Mal 1973, als die Finanzmärkte noch weitgehend reguliert waren. Zwar hatte der Nixon-Schock – die einseitige Aufhebung der Konvertibilität des Dollars in Gold im Jahr 1971 – das aufgrund der Erfahrungen der Zwischenkriegszeit in Bretton Woods verhandelte System fester Wechselkurse erschüttert, aber insgesamt waren die Finanzmärkte noch weitgehend reguliert. An vielen Stellen des Buches wird klar, dass Kindleberger die großen Summen frei vagabundieren Kapitals und die gegenseitige Verschuldung der Nationen als eine Ursache der Großen Depression ansah. Der Hegemon muss also nicht nur für das Krisenmanagement sorgen, sondern auch für angemessene Regeln.
Hier sind wir auch heute noch nicht weiter gekommen. Chinas Devisenreserven wachsen. Zwar hat die Regierung einer vorsichtigen Aufwertung des Renmimbi zugestimmt, aber wird man diesen Kurs auch fahren, falls die Chinesische Lokomotive an Fahrt verlieren sollte? Ein Land oder eine Region muss (1) einen Markt für Güter offen halten, die ansonsten keinen Absatz fänden und auch (2) Vermögensgegenstände mit Abschlag kaufen (discounting), falls diese keinen Käufer mehr finden. Die amerikanische Notenbank hat Ramschpapiere in erheblichem Umfang gekauft, und auch die Europäische Zentralbank hat damit begonnen. Wer wird diese Funktion übernehmen? Wer wird die Führungsrolle bei der Regulierung der Finanzmärkte übernehmen, nachdem die von Obama als großer Erfolg bezeichnete Finanzreform die Finanzakteure letztlich weitermachen lässt wie bisher?
Die Welt ist noch nicht über den Berg, wenn wir auch bislang jene fatale Abwärtsspirale vermieden haben, die die Jahre nach 1929 charakterisierte. Hoffen wir, dass die Mächtigen dieser Welt verantwortungsvoll handeln. Wir selbst können uns nur einen dicken Mantel anziehen und hoffen, dass der Sturm an uns vorüber zieht. Streuen Sie Ihr Vermögen in Gold, Aktien mit stabilen Geschäftsmodellen und wenig Liquidität. Für den, der es sich leisten kann, sind Ackerland und ein zweiter Wohnsitz in einem stabilen Land sicher nicht verkehrt. (Wobei ich auch die Bundesrepublik und Österreich, trotz aller Kritikpunkte, als stabiler ansehe als die meisten Länder dieser Erde). Und dann beobachten Sie die Situation mit einer gewissen Gelassenheit – denn ändern können werden wir sie nicht, so oder so.
Gelassenheit und Weitsicht wünscht Ihnen, Ihr
Prof. Dr. Max Otte
Prof. Dr. Max Otte ist Herausgeber des PRIVATINVESTOR (www.privatinvestor.de) und Geschäftsführender Gesellschafter der IFVE Institut für Vermögensentwicklung GmbH. Ziel des Instituts ist die Aktienanalyse und die Entwicklung von Aktienstrategien für Privatanleger.Der obige Text spiegelt die Meinung des jeweiligen Kolumnisten wider. Die Smarthouse Media GmbH übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche Regressansprüche aus.