Steuerwahnsinn: Im Visier der Abkassierer
Hinterzieher, Schlupflöcher und ein Paragrafenwirrwarr - das Steuerrecht ist hochkomplex. Warum die Politik nichts tun will, sinnvolle Vorschläge scheitern und wo die Gerechtigkeit bleibt.
von L. Haas und M. Hinterberger, Euro am Sonntag
Für die meisten Deutschen ist Lutz Scheider kein Sympathieträger. Der Trierer Unternehmer hatte über Jahre hinweg Schwarzgeld in der Schweiz gebunkert. Nachdem eines Morgens die Steuerfahndung sein Haus durchsucht hatte, fühlte er sich in seinen Grundrechten verletzt und klagte vor dem Landesverfassungsgerichtshof gegen das Land Rheinland-Pfalz. Scheiders Name war Teil der Daten auf einer Steuer-CD, welche die Landesregierung gekauft hatte, um Steuerhinterzieher zu enttarnen. Doch das Landesverfassungsgericht wies seine Klage ab. Scheider will weiter prozessieren.
Wer Scheider fragt, warum er das Geld in die Schweiz gebracht hat, erfährt, dass er einen "Notgroschen" bei den Eidgenossen haben wollte. Als Unternehmer hatte Scheider aber auch schon lang zuvor mit dem Steuerrecht zu kämpfen. Er berichtet von Finanzbeamten, die ihm gegenüber das "kranke System" beklagten. Sein Fazit: "Nur ein Recht, das einfach ist, wird auch als ,gleiches Recht für alle‘ empfunden."
Lukrativer Regelwahnsinn
Damit legt ausgerechnet ein Steuerflüchtling den Finger in die Wunde. Deutschland gilt zwar als stärkste Wirtschaftsmacht Europas, geht es aber um das Steuersystem, stöhnen die Bürger - vom Unternehmenslenker bis zum Arbeitnehmer. Laut einer Umfrage des Beratungsunternehmens Roland Berger unter Führungskräften sehen fast 35 Prozent der befragten Manager das Steuersystem als Hauptgrund, Steuern zu hinterziehen.
Die Zahlen sprechen für sich: Das deutsche Steuerrecht ist hochkomplex und kennt 33.000 Paragrafen. Mehr als die Hälfte der weltweiten Literatur zum Steuerrecht ist in deutscher Sprache erschienen.
Ein Regelwahnsinn, der sich bezahlt macht (siehe unsere Finanzminister-Grafik). Denn die Einnahmen sprudeln so kräftig wie noch nie, seit Jahren liegen sie im Schnitt über der Inflationsrate. Das liegt daran, dass die Wirtschaft wächst, aber auch an der kalten Progression. Mit diesem Begriff bezeichnen Fachleute den Effekt, dass eine Lohnerhöhung zu einem höheren Einkommensteuertarif führt. Im schlimmsten Fall bleibt dem Arbeitnehmer nach Steuern weniger als vorher.
Laut Berechnungen des Bundes der Steuerzahler wird der Fiskus bis 2018 rund 55,6 Milliarden Euro durch die kalte Progression einnehmen. Die schwarz-gelbe Regierung hatte 2013 einen Vorschlag erarbeitet, die kalte Progression einzudämmen. Der Vorschlag scheiterte an der SPD-Mehrheit im Bundesrat - schließlich war 2013 ein Wahljahr.
Heute regiert eine Große Koalition, die sowohl im Bundestag als auch in der Länderkammer die nötigen Mehrheiten hätte. Das Thema Steuervereinfachung ist im Koalitionsvertrag dennoch nur eine Randnotiz. "Ich habe keine Hoffnung auf eine grundlegende Vereinfachung", sagt Reiner Holznagel, als Präsident des Bundes der Steuerzahler qua Amt Deutschlands erster Steuerzahler. Der Grund für seinen Pessimismus ist weniger die Politik, obwohl die seiner Ansicht nach mehr tun könnte, als die deutsche Mentalität. "Das deutsche Steuerrecht will immer Einzelfallgerechtigkeit."
Ein Beispiel: Seit 2009 werden auf Kapitalerträge, ganz gleich wie hoch das übrige Einkommen des Anlegers ist, 25 Prozent Abgeltungsteuer zuzüglich Solidaritätszuschlag und eventueller Kirchensteuer fällig. Eine sinnvolle und einfache Pauschale. Wer aber nachweisen kann, dass sein persönlicher Steuersatz unter 25 Prozent liegt, muss auch auf Kapitalerträge nur seinen persönlichen Steuersatz zahlen. Was gerecht klingt, sorgt für zusätzliche Ausnahmen. Holznagel kann eine ganze Reihe solcher Extrawürste für bestimmte Gruppen nennen: So betreiben die Gewerkschaften seit Jahren erfolgreich Lobbyarbeit, damit Nacht-, Wochenend- und Feiertagszuschläge steuerfrei bleiben.
Der Steuerzahlerbund will keine Revolution des Steuerrechts, sondern schrittweise gegen diese Ausnahmen vorgehen. Das wohl größte Projekt ist die Abschaffung der kalten Progression. Doch das wird sehr schwierig. "Verzichten Sie gern auf eine Geldquelle, die Ihnen Jahr für Jahr Milliarden bringt?", fragt Holznagel.
Was tut die Politik, um Steuern zu vereinfachen? €uro am Sonntag hat neben den im Bundestag vertretenen Parteien CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke auch die FDP befragt. Während Grüne und Linke sich nicht äußerten, erklärt Wolfgang Kubicki, FDP-Chef in Schleswig-Holstein und Mitglied des Bundespräsidiums seiner Partei: Der deutsche Wille, alles für alle gerecht zu machen, sei das Kernproblem. Das klingt sehr nach dem Bund der Steuerzahler, doch er schiebt nach: "Letztlich müssen wir uns eingestehen, dass jeder von uns bei den derzeitigen Ausnahmeregelungen finanzielle Vorteile genießt."
Selbst Beamte wollen Reformen
Union und SPD zeigen sich in Sachen Steuervereinfachung selten einträchtig. Ihr Credo: Gerechtigkeit. "Vereinfachung wäre am schnellsten durch Typisierung und Pauschalierung zu erreichen - das ginge auf Kosten von Genauigkeit und Gerechtigkeit", so Lothar Binding, finanzpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. "Ein einfaches Steuerrecht und 100-prozentige Einzelfallgerechtigkeit schließen sich leider aus", sagt Unions-Fraktionsvize Ralph Brinkhaus. Fragt sich nur: Was ist wichtiger, Komplexität oder Gerechtigkeit, oder geht am Ende sogar beides?
Paul Kirchhof, inzwischen emeritierter Steuerrechtler der Uni Heidelberg und ehemaliger Verfassungsrichter, beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja. Auch er sieht in den zahlreichen Ausnahmeregelungen die Wurzel allen Übels und hat ein einfacheres Steuersystem entwickelt. Es kommt mit 146 statt Zigtausenden Paragrafen aus. Nach einem Grundfreibetrag von 10.000 Euro - Eltern können noch 8000 Euro pro Kind ansetzen - gelten Steuersätze von 15, 20 und 25 Prozent. Sämtliche Sonderregelungen wie etwa die Pendlerpauschale gibt es in Kirchhofs Steuerkosmos nicht mehr. Die niedrigen Steuersätze begründet er mit den Ausnahmeregelungen. Ein Einkommensmillionär, der eigentlich den Spitzensteuersatz von 45 Prozent zahlen müsste, könne sich mithilfe des bestehenden Rechts auf 25 Prozent Steuerlast runterrechnen, erklärt er.
Mit diesen Ideen schaffte es Kirchhof 2005 bis ins Schattenkabinett der Kanzlerkandidatin Angela Merkel. Der damalige CDU-Steuerexperte Friedrich Merz, der vorher ein ähnliches System entworfen hatte, lobte das System als großen Wurf, man könne damit seine Steuererklärung auf einem Bierdeckel abgeben.
Dass Kirchhof letztlich dann doch nicht in die Politik ging, hat viele Gründe. Die SPD tat einiges, um Kirchhof als "den Professor aus Heidelberg" zum weltfremden Akademiker zu erklären. Als nach der Wahl Angela Merkel gemeinsam mit den Sozialdemokraten regierte, wurde Peer Steinbrück Finanzminister. Für Kirchhof und seine Ideen war kein Platz mehr.
Kirchhof testete sein System in der Praxis. Er gewann Finanzbeamte, die sein System parallel zum herkömmlichen Einkommensteuerrecht anwendeten. Unterm Strich gab es weniger Arbeit für die Beamten und Bürger, die Einnahmen für den Staat blieben gleich.
Aus der politischen Diskussion sind seine Vorschläge indes verschwunden. "Als Steuerberater habe ich große Sympathie für eine radikale Vereinfachung des Steuerrechts. Realistischerweise werden wir eine solche - auch angesichts der föderalen Strukturen - nicht umsetzen, trotz Großer Koalition", sagt CDU-Parlamentarier Brinkhaus. SPD-Mann Binding sieht Kirchhofs Konzept "jämmerlich gescheitert".
Aus der Sicht von Johanna Hey mussten Kirchhofs und andere Steuerkonzepte zwangsläufig scheitern: "Steuervereinfachung ist für Politiker uninteressant", sagt die Kölner Steuerprofessorin. "So verbreitet die Klage über das komplizierte Steuerrecht ist, der Normalbürger dankt die Vereinfachung nicht, sondern freut sich nur über Steuersenkungen", glaubt Hey. Die komplexen Regeln blockierten viel und sorgten dafür, dass dem Staat Abermillionen durch die Lappen gehen. "Aber solange insgesamt genug Geld reinkommt, wird es keine Reformen geben."
Apropos Einnahmen: Zwar nehmen Bund und Länder Jahr für Jahr mehr Geld ein, doch laut Thomas Eigenthaler entgehen dem Fiskus andererseits Milliarden Euro. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Steuergewerkschaft und damit Cheflobbyist der Finanzbeamten wünscht sich Reformen. Das Einkommensteuerrecht ist aus seiner Sicht "völlig degeneriert". Die Ausnahmen sorgten für so viel Komplexität, dass viele Finanzbeamte ihre Fälle kaum noch prüfen könnten. Er fordert: "Die Politik muss ihre Hasenfüßigkeit aufgeben und Ausnahmen abschaffen."
Auswege aus der Malaise zeichnen sich nicht ab, solange Gerechtigkeit unterschiedlich definiert wird: Während für die Politik Steuern dann gerecht sind, wenn möglichst viele Einzelfälle berücksichtigt werden, setzen andere wie Steuerzahler-Präsident Holznagel auf verständliche Gesetze und einfache Regeln. "Steuern sind dann gerecht, wenn der Bürger sie versteht und weiß, was er zu zahlen hat, und der Staat nur das Geld einnimmt, das ihm zusteht."
Weitere Vorschläge kommen von den Volkswirten des "€uro am Sonntag"-Ökonomen-Barometers: Die Steuerhöhe sei relativ egal, wenn die Bürger wissen, wofür sie zahlen, erklären einige Wissenschaftler. Andere fordern mehr Mitbestimmung. In der Schweiz können die Bürger über große Projekte, die mit "ihren" Steuern finanziert werden, mitentscheiden. Ob diese eidgenössische Eigenart auch einer der Gründe war, warum Lutz Scheider sein Geld in die Schweiz brachte, ist offen. Ganz hoffnungslos ist die Lage nicht. Denn Steuerzahler können dem System immerhin ein kleines Schnippchen schlagen, indem sie ihre persönlichen Vorteile ausnutzen. So kostet Steuernsparen zwar Zeit, aber mit den richtigen Tipps dauert es nicht ganz so lang.
Steuern absurd
7% Mehrwertsteuer
fällt auf frische Trüffel ...
19% Mehrwertsteuer
fallen hingegen beim Bier an. Im Steuerrecht zählt auch die Form der Verarbeitung. Ob es sich um Luxusgüter handelt, ist offenbar zweitrangig.
Die Sektsteuer wurde 1902 eingeführt, um die kaiserliche Kriegsflotte zu finanzieren. Nach 112 Jahren und zwei Weltkriegen ist sie immer noch nicht abgeschafft. Aktuell nimmt der Bund rund 470 Millionen Euro über diese Abgabe ein.
Hunde- und Pferdesteuer
Die Gemeinde Bad Sooden-Allendorf in Hessen ist bislang die einzige Gemeinde, die eine Pferdesteuer erhebt. Sie wurde zum 1. Januar 2013 eingeführt. Andere Gemeinden wollen nachziehen. Auf der anderen Seite verzichtet bundesweit nur die hessische Stadt Eschborn auf die Hundesteuer.
Einfachere Steuern
Eine APO könnte es richten
Wie groß ist der Druck, das Steuersystem zu verändern? €uro am Sonntag hat die wichtigsten 600 deutschen Volkswirte befragt. Das spannendste Ergebnis: Die Parteien, denen die größte Kompetenz zugetraut wird, sitzen derzeit nicht im Bundestag. Sie heißen: FDP und AfD.
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