Hans-Werner Sinn: "Am Ende gibt es nur zwei Wege"
Der Chef des Münchner Ifo-Instituts kritisiert die Reformen der Bundesregierung und warnt vor den Folgen der Wirtschaftskrise in den europäischen Peripheriestaaten.
von S. Gusbeth und L. Vogel, Euro am Sonntag
Hans-Werner Sinn ist einer der streitbarsten Volkswirte Deutschlands. Im Gespräch mit €uro am Sonntag bestätigt er seinen Ruf als unbequemer Zeitgenosse. Der 66-Jährige attackiert die Große Koalition und warnt vor zu viel Optimismus bei der Überwindung der Eurokrise.
€uro am Sonntag: Herr Sinn, wie beurteilen Sie denn das große Rentenpaket von Arbeitsministerin Andrea Nahles?
Hans-Werner Sinn: Die Mütterrente kann man in einem Land mit einer der niedrigsten Geburtenraten nachvollziehen. Die abschlagsfreie Rente mit 63 allerdings ist ein Fehler, der uns noch teuer zu stehen kommen wird. Sie verschärft nur die sich abzeichnende demografische Krise. Dass sie allerdings auf Dauer so bleibt, wie sie jetzt beschlossen wurde, kann ich mir nicht vorstellen. Dazu fehlt schlicht das Geld, wenn in ein paar Jahren die Babyboomer ins Rentenalter kommen.
Was halten Sie vom Beschluss, einen Mindestlohn von 8,50 Euro einzuführen?
Er ist die Rückabwicklung der erfolgreichen Agenda 2010. Deren Kern war es ja, den Lohn zu senken, für den es sich zu arbeiten lohnt. Dazu wurden die Sozialleistungen für 2,2 Millionen Menschen gesenkt und Zuverdienstmöglichkeiten geschaffen. Das Ergebnis: niedrigere Löhne, keine Preissteigerungen - die Zutaten für die niedrige Arbeitslosigkeit und die konjunkturelle Stärke, die wir seit einigen Jahren erleben. Die neue Regierung verfrühstückt das. Ich finde dies verantwortungslos.
Viele aufstrebende Wirtschaften wie die Türkei, Brasilien und
Südafrika haben große Probleme. Wie gefährlich ist die Krise der Schwellenländer für die deutsche Konjunktur?
Sehr gefährlich. Diese Länder haben sich enorm verschuldet, und nun zieht sich das Kapital zurück, was zu einer erheblichen Destabilisierung führen kann. Auch Russland ist wegen der Krise in der Ukraine von Kapitalflucht betroffen. Die Krise ist ernst und kann auch die deutschen Exporte treffen.
Wenn man sich die Reden von Politikern anhört und die Entwicklung der Kapitalmärkte ansieht, wo die Staatsanleihen der Krisenstaaten steigen und steigen, könnte man fast glauben, die Eurokrise sei vorbei. Ist das so?
Das kommt darauf an, was man unter der Eurokrise versteht. Die Angst der Investoren vor einer Pleite der Krisenstaaten in Südeuropa ist weitgehend verflogen. Doch die wirtschaftliche Situation in diesen Ländern ist weiterhin verheerend.
Wie geht die Eurokrise Ihrer Meinung nach aus?
Wenn die Zinsen weiterhin künstlich niedrig gehalten werden, verlieren sie ihre Lenkungsfunktion - insbesondere in den Krisenstaaten. Deren Schulden werden weiter wachsen. Und am Ende gibt es nur zwei Wege: Das Ganze endet mit einem großen Knall und dem Auseinanderbrechen der Eurozone, weil die Schulden nicht mehr beherrschbar sind. Oder Länder wie Deutschland stimmen einer Transferunion zu, bei der sie dauerhaft Teile ihrer Einkommen und Vermögen auf andere Länder übertragen.
Spielt die Bundesregierung solche Szenarien wie den Zusammenbruch der Eurozone durch?
Es wäre fahrlässig, wenn sie es nicht täte.
Trotz aller Probleme ist der Euro stark. Zu stark?
Für die Krisenländer ja. Für Deutschland ist der Eurokurs zu niedrig. Wir generieren mit ihm einen gigantischen Leistungsbilanzüberschuss von über sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts, den wir nicht sinnvoll investieren können. Wir investieren in Rettungsgelder für Krisenstaaten und Anleihen, die vielleicht nie bedient werden.
Aber die Arbeitslosigkeit ist trotz Eurokrise in Deutschland auf
einem Mehrjahrestief.
Die Arbeitslosigkeit ist nicht trotz der Krise so niedrig, sondern wegen ihr. Als die Angst um sich griff, floss das Kapital nach Deutschland, viel davon in Immobilien. Der Bauboom und seine positiven Effekte schufen die Arbeitsplätze. Insofern sind natürlich alle Stützungsmaßnahmen, um das Kapital wieder in die Krisenländer zu locken, schlecht für die deutsche Konjunktur.
Andere Staaten der Eurozone fordern, dass wir den Konsum ankurbeln, um so die Ungleichgewichte in Europa abzubauen. Wie stehen die Chancen hierfür?
Wenn wir Rettungskredite geben, öffentliche Schutzsysteme aufbauen und dann irgendwann noch echte Transfers zahlen, dann wird das den Konsum nicht stärken. Man kann das Geld immer nur einmal ausgeben. Wenn man sein Geld ans Ausland verleihen oder verschenken muss, statt es selbst zu konsumieren oder für Investitionen zu verwenden, dann erzeugt man hohe Exporte, doch dämpft man die Binnennachfrage. Das Sparkapital will ja eigentlich nicht mehr aus Deutschland heraus. Wenn man aufhören würde, es als öffentlichen oder öffentlich geschützten privaten Kredit in andere Länder zu schicken, dann würde Deutschland boomen, und die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte verschwänden von allein.
Als Hauptgrund für die wirtschaftliche Misere in Spanien, Italien und Co führen Sie die fehlende Wettbewerbsfähigkeit an. Nun sinken seit einigen Monaten die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer - das Verhältnis von Exporten zu Importen wird also besser. Ist das kein Zeichen der Besserung?
Nein. Der Saldo hat sich zwar verbessert, aber nicht durch steigende Wettbewerbsfähigkeit und irgendwelche Sonderimpulse bei den Exporten, sondern weil die Nachfrage wegen der hohen Arbeitslosigkeit einbrach und weniger importiert wurde. Es findet kaum eine strukturelle Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit statt. Das ist eine krasse Fehlinterpretation.
Gibt es gar keine Fortschritte?
Natürlich hat sich etwas bewegt. Die Preise sind in Spanien in den vergangenen fünf Jahren real um fünf Prozent gefallen. Aber Spanien bräuchte eine Abwertung von 30 Prozent, um wieder wettbewerbsfähig zu werden, während Deutschland zugleich um 20 Prozent aufwertet. Das ist noch ein ganz langer Weg.
Zwei bis drei Jahrzehnte?
Na ja, das ist sehr lange. Aber lange wird es dauern. Das ist immer so: Preise steigen in guten Zeiten schnell, fallen aber in schlechten sehr langsam. Besonders gilt das für den Lohn, den Preis der Arbeit.
Sie zeichnen ein düsteres Bild für den Euro. Warum funktioniert
die Gemeinschaftswährung nicht?
Das hat viel mit dem System zu tun, das wir geschaffen haben. Der Zugang zur Druckerpresse ist für die einzelnen Notenbanken zu leicht verfügbar. Das hat den Investoren
zu viel Sicherheit gegeben und die exzessiven Kreditflüsse hervorgebracht, die die Südländer in die Inflation trieben und ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubten. Und als die Blase platzte, wurde so enorm viel gedruckt, dass nicht einmal die Selbsthaftung bei den ELA-Krediten (kurzfristige Notkredite für Banken; Anm. d. Red.) verhindern konnte, dass die Steuerzahler der noch gesunden Länder an die Angel genommen wurden. Die Parlamente konnten sich anschließend nur in das Unvermeidliche fügen und mit fiskalischen Anschlusskrediten die EZB freikaufen.
Waren wir Deutschen zu blauäugig, als wir auf die Verträge für die Währungsunion vertrauten?
Sicher. Es waren Konzessionen: Macht das Portemonnaie auf, wir versprechen, nicht zu viel herauszunehmen. Aber als das Portemonnaie erst mal auf war, fiel der zweite Teil der Abmachung unter den Tisch. Symptomatisch dafür ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt. In etwa 150 Fällen wurde seine Drei-Prozent-Grenze überschritten, aber nur bei einem Drittel der Fälle war es erlaubt. Aber die Staatsschulden sind ja nur ein Teil des Geschehens. Das Hauptproblem liegt aber nicht hier, sondern bei den Schulden über das EZB-System.
Auch Deutschland hat die Maastricht-Kriterien mehrfach verletzt.
Stimmt. Und wenn man sich selbst nicht an die Regeln hält, ist es schwer, deren Einhaltung von anderen einzufordern.
zur Person:
Experte und Mahner
Hans-Werner Sinn, Leiter des Ifo-Instituts, ist einer der renommiertesten Ökonomen Deutschlands. Der Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München arbeitete als Gastprofessor unter anderem in Princeton und Stanford. In der Eurokrise wies der gebürtige Westfale als Erster auf die Target-Salden und die Risiken für die Bundesbank hin. Der 66-Jährige war Gutachter für das Bundesverfassungsgericht beim Prozess um den Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB. Sinn hat drei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau bei München.