Gibt es 2023 einen Börsenaufschwung - oder setzt sich der Bärenmarkt fort? Das meinen die Experten
2022 war ein schwieriges Jahr für Investoren. Ukraine-Krieg, Energiekrise, Chinas No-COVID-Lockdowns, galoppierende Inflationsraten, Leitzinserhöhungen, Rezessionstendenzen - es gab viele Faktoren, die den Risikoappetit der Anleger verdarben. Wird es 2023 wieder einen breiten Aufschwung geben? Oder droht vielmehr eine Fortsetzung des zähen Bärenmarktes?
Werte in diesem Artikel
• 2022 war ein schwaches Börsenjahr - geht es 2023 wieder bergauf?
• Alles steht und fällt mit der Konjunkturentwicklung
• Experten rechnen mit einer schwachen ersten Jahreshälfte und einer anschließenden Rally
Alle Jahre wieder veröffentlichen Experten fleißig Kursprognosen für das kommende Börsenjahr. Natürlich besitzen auch die Börsenfachleute keine Glaskugeln und liegen oft genug mit ihren Erwartungen daneben. Dennoch zeichnen die Prognosen ein interessantes Stimmungsbild und machen auf zu erwartende Entwicklungen aufmerksam - ein genauerer Blick auf die Analysen lohnt sich also.
2022: Ein schwieriges Börsenjahr
Wohl kaum ein Investor wird sich positiv an das Börsenjahr 2022 erinnern. Anleger hatten es nicht einfach: Egal ob man in Gold, Anleihen, ETFs oder in Einzelaktien anlegte - in fast allen Vermögensklassen galt es zeitweise erhebliche Verluste zu verkraften. In manchen Marktsegmenten - beispielsweise bei Energierohstoffen und -aktien wie Shell sowie einigen Konsumgüter-Aktien wie Pepsi - wurden zwar deutliche Preissteigerungen verzeichnet, aber es gab nur wenige Anleger, die den breiten Aktien- und Anleihenausverkauf vollständig umgehen konnten.
Es war eine toxische Gemengelage, die die Kapitalmärkte erfasste: Der am 24. Februar 2022 begonnene Ukraine-Krieg verknappte infolge der westlichen Sanktionen gegen Russland das Energieangebot. Dadurch wurde die bereits zuvor hohe Inflation weiter angeheizt, was Währungshüter rund um den Globus zu noch offensiveren Leitzinserhöhungen drängte. Ein weiterer großer Belastungsfaktor für die Weltwirtschaft und insbesondere für die globalen Lieferketten war der No-COVID-Lockdown Chinas in zahlreichen Hafenstädten wie in Shanghai. Ein Resultat der mannigfaltigen Krisenphänomene waren Rezessionstendenzen, insbesondere auf dem europäischen Kontinent. Die Anleger wagten sich kaum noch aus der Deckung und schickten die allermeisten Aktienindizes zwischenzeitlich um mehr als 20 Prozent gen Süden, viele Börsen traten dadurch in einen Bärenmarkt ein.
2023: Es kann nur besser werden - oder?
Viele Fragen begleiten den Jahreswechsel: Haben wir den Höhepunkt der Inflation bereits gesehen? Nehmen die Leitzinserhöhungen an Tempo ab? Wann wird der Zinsstraffungszyklus beendet sein? Wie stark fällt die globale Rezession aus - oder kommt sogar gar keine? Selten waren die Vorhersagen der Experten so unsicher wie bei der Jahresprognose 2023. Die Bank of America (BoA) nimmt die Mitte zwischen den Crash-Propheten und Börsenoptimisten ein und rechnet damit, dass der S&P 500 Ende 2023 bei 4.000 Punkten stehen wird, was keine allzu große Veränderung impliziert.
Basisszenario der Bank of America: Milde US-Rezession
Die Prognose von 4.000 Punkten zum Jahresende stellt das mittlere Szenario der Bank dar und hängt mit der Erwartung zusammen, dass die Gewinne je Aktie im S&P 500 um durchschnittlich neun Prozent auf 200 US-Dollar sinken werden. Dies wäre gleichbedeutend mit einer vergleichsweise milden Rezession. Im deutlich pessimistischeren "Bear Case Szenario" hält die BoA einen Rutsch auf 3.000 Punkte für möglich. Insgesamt aber bleibt die BoA vorsichtig optimistisch: "Einer der Gründe, warum wir bei den Gewinnen zuversichtlicher sind, ist die allgemeine Stärke der Unternehmens- und Verbraucherbilanzen", zitiert "yahoo finance" die Leiterin der Abteilung für US-Aktienstrategie und quantitative Strategie, Savita Subramanian. 2022 ging es an den Börsen um die Fed, 2023 werde es um die Konjunktur gehen, lautet Subramanians Einschätzung.
Starkes Lohnwachstum könnte Unternehmensgewinne reduzieren
Ein großes Problem für die Konjunkturlage sieht die BoA darin, dass das Lohnwachstum die Fähigkeit der Unternehmen, die Preise zu erhöhen, übersteigen werde. Demnach werde nur die Hälfte der Unternehmen im S&P 500 ein reales Umsatzwachstum erzielen. Der im Dezember veröffentlichte US-Arbeitsmarktbericht deutete tatsächlich auf ein deutlich ansteigendes Lohnniveau in den USA hin. "Das beste Umfeld für Aktienanleger ist, wenn die Preissetzungsmacht schneller wächst als die Löhne und die Menschen gleichzeitig mehr kaufen", so Subramanian. 2023 könnte es dagegen "das schlechteste Umfeld für Aktienanleger geben, denn die Löhne sind starr und hoch, die Preise fallen und die Nachfrage beginnt zu schwinden." Ein Börsenaufschwung dürfte vor diesem Hintergrund auf sich warten lassen.
Sind viele Aktien immer noch überbewertet?
Interessanterweise hält die BoA die US-Börsenschwergewichte wie Apple, Microsoft oder auch Amazon tendenziell weiterhin für überbewertet - trotz des deutlichen Abverkaufes dieser Tech-Riesen in den vergangenen Monaten. Die Traditionsbank hält den Index nur dann für fair bewertet, wenn man die größten 50 der insgesamt 500 Aktien aus der Berechnung ausnimmt. Tatsächlich liegt das 2023er-Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des S&P 500 mit 18 laut des "Wall Street Journals" immer noch über dem langjährigen Durchschnitt von 16.
"Vermögenseffekt" weiteres Risiko für Börsenjahr 2023?
Neben der makroökonomischen Schwierigkeiten und der partiellen Überbewertung des Marktes identifiziert die BoA noch ein weiteres Risiko für die Börsen: Die Demokratisierung des Investieren und den damit einhergehenden "Vermögenseffekt". Der Vermögenseffekt ist ein verhaltensökonomisches Phänomen, das besagt, dass die Verbraucher mehr ausgeben, wenn der Wert ihres Vermögens steigt - dies sei 2020 und 2021 klar erkenntlich gewesen. Allerdings dürfte sich dieser Trend mit den schwächelnden Börsen umkehren: Den Daten der BoA zufolge sind in 2022 rund 22 Billionen US-Dollar an den Finanzmärkten verloren gegangen, was zu einem geschätzten Verlust von 700 Milliarden US-Dollar an Kaufkraft der Verbraucher geführt hat. Die Demokratisierung der Investitionen in den letzten Jahren könnte nach Ansicht der BoA die negativen Auswirkungen auf die Märkte und die Wirtschaft verstärken und ausweiten.
Reuters-Umfrage: Analysten erwarten positive Marktrendite für 2023
Etwas optimistischer als die BoA zeigen sich Analysten, die im Rahmen einer Umfrage der Nachrichtenagentur "Reuters" über ihre Prognosen für 2023 befragt wurden. Im Durchschnitt rechnen diese für Ende Dezember 2023 mit einem Stand des S&P 500 von 4.200 Punkten. Für den industrielastigen Dow Jones, der weniger Tech-Titel inkludiert, sind die Analysten ebenfalls recht optimistisch: Den Traditionsindex sehen sie Ende 2023 bei 36.500 Punkten. Jedoch hat sich die Erwartungshaltung in den letzten Wochen erheblich abgekühlt: Im späten August hatten die Strategen in einer anderen Reuters-Umfrage noch mit einem S&P 500-Jahresschlussstand von 4.700 Punkten gerechnet. Als entscheidend für die Entwicklung des Kapitalmarktes ist laut den meisten befragten Experten die Frage, inwiefern die bereits vollzogenen sowie zukünftigen Leitzinserhöhungen der Fed, EZB & Co. die Realwirtschaft ausbremsen. Sollte es tatsächlich zu einer merklichen Rezession der Weltwirtschaft kommen, dann könnte die Realrendite der Börsen 2023 ebenso wie 2022 negativ sein.
Gretchenfrage: Wie wirken sich Zinsen und Inflation auf Realwirtschaft aus?
Bereits für das vierte Quartal 2022 rechnen Analysten auf Grundlage von IBES-Daten von Refinitiv damit, dass die Gewinne in den USA zum ersten Mal seit zwei Jahren zurückgehen werden. Ebenfalls für 2023 sind die Schätzungen rückläufig, weiterhin gehen sie aber noch von einer Gewinnsteigerung von durchschnittlich 4,9 Prozent aus. Die Analysten sind sich somit einig, dass die Konjunkturlage in den USA von einer abnehmenden Tendenz geprägt ist, wenngleich die Arbeitslosigkeit weiterhin extrem niedrig bleibt sowie sich auch die Konsumausgaben insgesamt auf einem hohen Niveau befinden. Die hohe Zinslast und die weiterhin anhaltende Inflation werde sich aber 2023 auf die Nachfragesituation auswirken, ist sich Terry Sandven, Chef-Aktienstratege bei U.S. Bank Wealth Management, sicher. Viele entscheidende Variablen seien aber noch unklar: "Derzeit sind die Prognosen der Unternehmen für das Jahr 2023 angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit, des anhaltenden Inflationsdrucks und der mangelnden Transparenz der Verbraucher- und Unternehmensausgaben im Jahr 2023 sehr ungewiss", so Sandven. Er selbst rechnet dennoch mit einem leichten Anstieg des S&P 500 auf 4.275 Punkte.
Wo wird der DAX Ende 2023 stehen?
Auch zum heimischen Leitindex werden munter Prognosen veröffentlicht. Die meisten sind dabei von einem "geläuterten Optimismus" geprägt, wie Kapitalmarktexperte Robert Halver von der Baader Bank seine eigenen Erwartungen beschrieb. Nach dem schwachen Börsenjahr 2022, in dem der DAX von seinem Rekordstand bei 16.285 Zählern zeitweise unter die 12.000 Punkte-Marke rutschte, dürfte 2023 wieder etwas mehr Ruhe einkehren, hoffen Börsenbeobachter. Die Inflation werde 2023 in Deutschland zumindest leicht rückläufig sein, ebenso scheinen sich die Unternehmen in einem besseren Zustand zu befinden, als besonders im September 2022 befürchtet worden war. Die Helaba ist besonders zuversichtlich und rechnet mit einem 2023er-Schlusstand des deutschen Börsenbarometers von 16.000 Punkten. Die Schätzung der Landesbank Baden-Württemberg von 15.500 Punkten bewegt sich in einem ähnlichen Bereich.
Erste Jahreshälfte schwach, zweite Jahreshälfte mit Erholungsrally?
Viele Strategen gehen dabei von einem volatilen Jahr 2023 aus. Die erste Jahreshälfte werde weiterhin von einer allgemeinen Schwäche des Marktes geprägt sein, der Trend der Zitterbörsen aus 2022 dürfte sich somit zunächst einmal fortsetzen. Die Unternehmensgewinne dürften sinken. Wenn die Fed und viele weitere Notenbanken aber den Zinserhöhungszyklus für beendet erklärt haben werden und die Konjunkturlage wieder Verbesserungstendenzen aufweisen wird, dann werden auch die Börsen wieder rasch nach oben streben - so lautet eine häufig anzutreffende Argumentation der Börsenfachleute. Auch BoA-Expertin Subramanian teilt diese Meinung: "Es ist eine Geschichte aus zwei Hälften. Wir denken, dass der Markt einen raueren Start ins Jahr 2023 haben wird und das Jahr dann im Erholungsmodus abschließen wird".
Bank of America: "Investieren ist ein Marathon, kein Sprint"
Doch trotz der kurz- bis mittelfristigen Krisenerscheinungen bleiben die BoA-Experten langfristig positiv gestimmt für die Kapitalmärkte und rechnen in den kommenden zehn Jahren mit einer durchschnittlichen Rendite von acht Prozent. "Aktienanleger sollten langfristig denken, anstatt sich auf kurzfristige Risiken zu konzentrieren", so Subramanian. Investieren sei eben kein Sprint, sondern ein Marathon - jegliche Kursrücksetzer könnten bei einem ausreichend langen Investmenthorizont von mindestens zehn Jahren sehr gut verkraftet werden und stellten vielmehr attraktive Nachkaufchancen dar.
Redaktion finanzen.net
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