Industrie 4.0: Wer von der Digitalisierung am meisten profitiert
Die Digitalisierung ist der wichtigste Trend in der Industrie: Maschinen tauschen sich aus und lernen selbstständig. Welche Unternehmen mit der Flut der Bits und Bytes am cleversten umgehen.
Werte in diesem Artikel
von Stephan Bauer, Euro am Sonntag
Der Goldgräber von heute präsentiert sich in Anzug und Krawatte. "Daten sind das Gold des 21. Jahrhunderts. Wir müssen schauen, dass wir das wahre Gold finden", sagt Wolfgang Heuring, Chef der Forschungsabteilung von Siemens. Der Franke gräbt nicht allein: 1.800 Männer und Frauen weltweit zählt die Truppe um Heuring. Der treibt die Mitarbeiter im Auftrag von Joe Kaeser an, der Vorstand hat das Thema zur Chefsache erklärt. Der größte deutsche Industriekonzern soll den wichtigsten Trend möglichst gewinnbringend nutzen: die Digitalisierung.
Wie vielschichtig die Aufgabe ist, das veranschaulicht Heuring anhand der riesigen Datenflut im Netz. "Schon heute entstehen zwei Exabytes pro Tag - und das Volumen wächst rasant", sagt der oberste Siemens-Forscher. Vergleiche helfen beim Fachchinesisch: Zwei Exabyte Daten, das entspricht der digitalen Information von etwa einer Milliarde Spielfilmen. In der historischen Betrachtung: 1999 betrug die global gespeicherte Datenmenge zwölf Exabyte - das war gerade mal die sechsfache Tagesmenge von heute.
Die Ursache für die Explosion der Bits und Bytes führt direkt zu Heurings Arbeitsauftrag: Nicht nur Menschen tauschen sich etwa in sozialen Netzwerken aus und laden Bilder oder Videos hoch. Inzwischen sprechen auch die Maschinen im Netz.
Die nächste Revolution
Erst die Dampfmaschine, dann das Fließband, der Computer - und jetzt das Internet der Dinge. Es ist die nächste Stufe der industriellen Revolution, die Forscher wie Heuring auf Trab hält. Ob Gasturbinen, Windräder oder Fertigungsstraßen in der Autoindustrie - viele Anlagen sind jetzt schon vernetzt oder werden es künftig sein. Hunderte Sensoren oder Rechner beschreiben Zustände wie Temperaturen oder Drücke bis hin zu Produktionsfortschritten und liefern eine Fülle digitaler Informationen.
Heuring hat sich auf die Fahne geschrieben, aus der Datenflut sinnvolle Zusammenhänge zu fischen. Sein Fazit: Die Masse - bekannt ist das Schlagwort Big Data - macht es nicht. "Die Analyse muss smart sein, sie muss Anhaltspunkte liefern, wie Prozesse verbessert werden können", sagt Heuring. Seine Leute tüfteln deshalb weltweit an cleverer Software, die diese Analysen liefern.
Schließlich verspricht die Digitalisierung der nächste große Wachstumsmarkt in der Industrie zu werden. Marktforscher rechnen mit Zuwachsraten von sieben bis neun Prozent pro Jahr. Das Umsatzvolumen der Digitalisierung schätzen die Münchner für ihre Absatzmärkte für das Jahr 2020 recht konservativ auf 100 Milliarden Euro.
Auch die Automobilindustrie bastelt fleißig an der Industrie 4.0. Es lohnt sich, denn die Produktion eines Autos ist hochkomplex, etwa 50.000 Firmen sind im Schnitt daran beteiligt. Namhafte Hersteller wie Daimler, BMW oder Opel haben sich im Projekt RAN, das Kürzel steht für "RFID-based Automobile Network", mit Zulieferern wie Bosch und Softwarefirmen wie SAP und IBM zusammengetan, um die Fertigungsketten zu optimieren und die Logistikkosten zu senken.
Wo ist die Welle?
Die Idee: Zulieferer statten Autoteile mit sogenannten RFID-Chips aus, kleinen Halbleitern, die ihre Position an Scanner weitergeben. Per Internet lässt sich dann jederzeit der Standort etwa einer Kurbelwelle auf dem Weg zum Motorenwerk oder eines Motors in die Endmontage überprüfen. Verzögert sich die Lieferung, kann die Fertigung entsprechend reagieren. So lassen sich Wartezeiten oder gar Bandstillstände, die Hunderttausende Euro pro Stunde kosten können, vermeiden.
RAN ist anspruchsvoll und steckt noch in der Entwicklung. Standards zum Datenaustausch zwischen Firmen gibt es aber bereits. Und Unternehmen wie Daimler sparen schon Millionenbeträge, weil mit RFID-Chips beispielsweise die Anzahl der Behälter für den Teiletransport verringert werden konnte.
In einem großen Markt tun sich Nischen für kleinere Spieler auf. Die mittelständische Softing etwa entwickelt Programme, die den Austausch von Daten beispielsweise zwischen Sensoren oder Steuerungen in der Autoelektronik ermöglichen. Die Münchner bieten zudem Produkte für die Kommunikation in Industrieanlagen. Softing hat sich eine starke Marktposition erarbeitet, auch durch Akquisitionen. Ende Mai gelang ein besonders wichtiger Deal mit der US-Firma Online Development, der Softing Zugang zu Großkunden in den USA verschafft. "Das ist der wichtigste Kooperationspartner von Rockwell Automation", sagt Vorstand Wolfgang Trier.
Rockwell wiederum ist einer der weltweit größten Anbieter von Automatisierungstechnik. Die Amerikaner stellen bereits ganze Fabriken per Sensor- und Computertechnik ins Netz. Etwa ein Zehntel der Prozesse in der Industrie sei derzeit online, veranschlagt Rockwell, das Potenzial riesig: "Von geschätzten 14 Billionen Dollar Umsatzvolumen, die im Internet der Dinge stecken, werden etwa vier Billionen in der verarbeitenden Industrie anfallen", sagt Vorstandschef Keith Nosbusch. Das ist wohl - typisch amerikanisch - sehr optimistisch. Um den unbestreitbar großen Kuchen streitet sich Rockwell auch mit US-Wettbewerber General Electric - oder mit Siemens.
Die Deutschen haben eigens ein Vorzeigewerk errichtet, um Kunden zu demonstrieren, was komplette Vernetzung und Kontrolle in der Fertigung so bringen. In der "Digitalen Fabrik" im bayerischen Amberg, in der Siemens hauseigene Elektronikteile herstellt, sprechen die Produkte mit den Anlagen, die sie herstellen. Live, den ganzen Tag, sammeln etwa 1.000 Scanner im Schnitt 50 Millionen Informationen ein, um Fehler rigoros auszumerzen. Zwölf von einer Million Arbeitsschritte sind fehlerbehaftet - wenn gut ausgebildete Menschen arbeiten, ist die Quote mindestens 40-mal so hoch.
Effizienz kann auch ästhetisch sein: Siemens-Forscher bringen ganze Windparks auf hoher See zum Tanzen, um mehr Strom zu erzeugen. Spezielle Programme lernen aus einem Wust von Sensorinformationen: Moderne Windräder erfassen rund 300 Parameter wie Windstärke, Strömung oder Rotorgeschwindigkeit. Die Daten werden in die Software gespeist, die ähnlich einem Gehirn arbeitet - "neuronales Netz" nennt sich der Ansatz.
"Das funktioniert im Prinzip wie bei einem Kleinkind, das laufen lernt. Es setzt immer wieder den Fuß auf, bis der erste Schritt gelingt", erklärt Heuring. Im Modell bewegen sich die Turbinen wie ein Ballett: Rotoren aus den hinteren Reihen richten sich so aus, dass sie die Luftwirbel der Turbinen vor ihnen optimal ausnutzen. "Ein Parkbetreiber spart sich damit schon mal eine Turbine", sagt Heuring. Noch ist das aufwendige System jedoch nicht marktreif.
Ist das auch sicher?
Komplexität ist aber nicht die einzige Hürde der Digitalisierung. Wer garantiert etwa, dass Daten tatsächlich von den Maschinen stammen, denen man sie zuschreibt? Wie lässt sich Datenklau oder Sabotage im Internet der Dinge vermeiden?
Georg Sigl vom Institut Fraunhofer AISEC kümmert sich um die Datensicherheit. Der Professor hat eine gute Nachricht für die Pioniere der Industrie 4.0: "Wir kennen schon Verfahren, mit denen sich einzelne Chips sicher identifizieren lassen." Die Details sind - wie immer - knifflig. Nur so viel: Einzelne Bits in Chips lassen sich wie die Linien eines Fingerabdrucks zu einem einmaligen Bild zusammenfügen. "Es gibt bereits Versuche, die Technik zu vermarkten", sagt Sigl. Datensicherheit - das dürfte der nächste Goldschatz im Internet der Dinge sein.
Investor-Info
Softing
Nische besetzt
Die Münchner haben sich in ihrer Nische bewährt: Ihre Produkte ermöglichen den Datenaustausch zwischen elektronischen Steuergeräten, Sensoren, Temperaturmessern und anderen elektronischen Geräten innerhalb von Netzwerken. Kunden kommen aus der Automobilbranche und der Industrie. Das Unternehmen steigerte den Umsatz seit 2010 um gut 60 Prozent, den Gewinn um über 250 Prozent. Analysten rechnen für die nächsten zwei Jahren mit einem zweistelligen Gewinnplus. Spekulativ.
Rockwell Automation
Prognose gesenkt
Die Amerikaner gehören zu den weltgrößten Anbietern von Ausrüstungen für die Industrieautomatisierung. Rockwell ist global aufgestellt, die Hälfte des Umsatzes kommt aus den USA. Die jüngsten Zahlen enttäuschten: Der Gewinn fiel im Quartal gegenüber dem Vorjahr und blieb unter den Schätzungen. Das obere Ende der Prognosespanne für den Jahresgewinn wurde gesenkt. Grund waren unter anderem Währungseinflüsse. Die Aktie ist langfristig interessant, aber derzeit nur eine Halteposition.
Siemens
Erwartungen getoppt
Der Konzern meldet soeben einen Gewinnsprung: Siemens hat den Gewinn im dritten Quartal des Geschäftsjahrs um 37 Prozent auf über 1,7 Milliarden Euro gesteigert und die Erwartungen übertroffen. Der Umsatz wuchs um ein Prozent, negative Währungseffekte belasteten. Der Umsatz der Sektoren Energie und Medizintechnik sank leicht, Industrie und Infrastruktur wuchsen. In der Automatisierungstechnik meldet Siemens starke Nachfrage vor allem aus China. In der Energietechnik sieht Siemens-Chef Joe Kaeser noch Handlungsbedarf, besonders in der defizitären Energieübertragung. Mit dem Programm "Vision 2020" soll Anfang Oktober die Sektorebene entfallen. Ziel ist es, effizienter zu werden und Aufträge zuverlässiger abzuarbeiten. Erste Erfolge: Im Geschäftsjahr, das Ende September endet, sollen die Sonderbelastungen 600 bis 700 Millionen Euro betragen, im Vorjahr waren es rund 1,3 Milliarden. Kaeser bestätigte die Prognose: Im Geschäftsjahr soll der Nettogewinn von 4,3 auf 4,9 Milliarden Euro ansteigen. Die Hörgerätesparte könnte in der kommenden Periode an die Börse gehen, das bringt Fantasie. Solide Dividendenrendite. Attraktiv.
Nächste Folge: Das Comeback der Brennstoffzelle
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Bildquellen: Lichtmeister / Shutterstock.com, Gunnar Pippel / Shutterstock.com
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