Börsenregel im Blick

So setzen Anleger die Strategie "Sell in May" richtig um

aktualisiert 11.05.14 21:06 Uhr

Ob der simple Rat "Sell in May" auch dieses Jahr recht behält, steht in den Sternen. Einige Faktoren wie die Ukraine-Krise sprechen dafür, dass Anleger in den kommenden Monaten wachsam bleiben sollten.

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von Jörg Billina, Euro am Sonntag

Wann säen, wann die Ernte einfahren? Landwirte, Winzer, Reisbauern und Kaffeepflanzer versuchen das Prognoseproblem mithilfe von Regeln zu lösen. Diese sind zwar meist in triviale Reimformen gefasst, fußen jedoch auf langjährigen Beobachtungen - und weisen mitunter erstaunlich hohe Trefferquoten auf. Der Bauernregel "September schön in den ersten Tagen, will den ganzen Herbst ansagen" etwa bescheinigen Wetterexperten einen Wahrheitsgehalt von immerhin 80 Prozent.

Unterliegen auch die Aktienkurse saisonalen Schwankungen? Lassen sich anhand immer wiederkehrender Muster gute Ein- oder Ausstiegszeitpunkte festmachen? Allem Anschein nach: Ja! "Sell in May and go away, but remember to come back in September" ist jedenfalls eine der bekanntesten und ältesten Börsenweisheiten. Schon 1935 beschäftigte sich ein Artikel in der "Financial Times" mit dem Phänomen schwächerer Notierungen im Sommer und anziehender Kurse im Winter.

"Sell in May" fordert Investoren auf, sich im Wonnemonat von den Märkten zurückzuziehen und Kursschwächen im Herbst für erste Engagements zu nutzen. Dass die Anlagestrategie langfristig erfolgreich ist, zeigt sich am Dow Jones. Der US-Leitindex erzielte seit Aufstellung im Jahr 1896 in den kälteren Monaten durchschnittlich 5,2 Prozent, in den wärmeren Monaten jedoch lediglich 1,7 Prozent an Wertzuwachs.

Nicht nur an der Wall Street funktioniert die Strategie, behauptet Ben Jacobson. Der Professor für Finanzwissenschaft an der Massey Universität in Neuseeland hat 108 Aktienmärkte im Zeitraum 1962 bis 2012 auf diese Börsenregel hin untersucht - und tatsächlich schnitten 81 Finanzplätze zwischen November und ­April überwiegend besser ab als in der Periode Mai bis Ende Oktober.

Speziell in Großbritannien, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern sei der Unterschied feststellbar, während Indiens Börse und einige Märkte in Südamerika dagegen keine signifikanten saisonalen Schwankungen aufwiesen. Jacobson wendet die "Sell in May"-Strategie selbst an. Eigenen Angaben zufolge übertrumpft er auf diese Weise den Markt um mehrere Prozentpunkte pro Jahr.

Erklärt wird die Sommerflaute unter anderem mit der während der Feriensaison abnehmenden Zahl an Marktteilnehmern. Zudem machen einige Anleger Kasse, um den Urlaub zu finanzieren. Andere liquidieren ihr Depot, um sich auf Reisen vor überraschenden und unliebsamen Kursentwicklungen zu schützen.

Nicht zuletzt hat die Börsenregel mittlerweile auch eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Je mehr Anleger sie beherzigen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich tatsächlich erfüllt.

Schwache Sommermonate
Auch der deutsche Leitindex DAX neigt zur Sommerschwäche. Allerdings sollten Anleger nun nicht immer gleich zum 1. Mai ihr Depot räumen. Seit 1988 stieg der DAX im Schnitt im Mai immerhin noch um 0,03 Prozent, im Juni um 0,20 und im Juli um 1,31 Prozent. Nur für die Monate August und September weist der DAX im Schnitt ­statistisch stets ein klares Minus auf. Den höchsten Ertrag hingegen erzielte das Börsenbarometer mit im Schnitt 2,7 Prozent im Dezember.

Allerdings: "Nicht in jeder Jahreszeit und nicht in jedem Monat laufen die deutschen Standardwerte in die Richtung, die die Statistik eigentlich vorgibt", warnt Jessica Schwarzer. Die Finanzmarktexpertin und Autorin hat in ihrem Buch "Sell in May and go away?" eine ganze Reihe von Börsenweisheiten auf ihre Tragfähigkeit untersucht. "Im vergangenen Jahr haben ,Sell in May‘-Investoren Renditechancen klar verpasst", sagt Schwarzer.

Tatsächlich schaffte der DAX zwischen Mai und Oktober 2013 ein Plus von über zwölf Prozent. Zwischen November 2013 und Ende April 2014 legte der DAX dagegen nur um vier Prozent zu. Auch im Herbst und Winter 2007 fiel der eigentlich zu erwartende Kursaufschwung angesichts der sich abzeichnenden Finanzkrise aus. Hohe Verluste mussten Anleger zudem zwischen November 2000 und April 2001 hinnehmen, als die Internetblase platzte.

Andererseits kann es im Mai tatsächlich stark nach unten gehen, so geschehen im Jahr 2012. Seinerzeit gab der DAX sechs Prozent ab - unter anderem hatte das Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahl in Griechenland und die damit verbundene Sorge um eine Eskalation der Eurokrise auf die Stimmung der Anleger gedrückt. Erst die Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi im Juli 2012, der Euro werde unter allen Umständen gerettet, beendete die Talfahrt und hievte die Aktienkurse wieder nach oben.

Unsicheres Umfeld
Saisonalität ist also ein wichtiges, aber beileibe nicht das einzige kursbeeinflussende Element. Bestimmte Ereignisse können jahreszeitliche Trends verstärken, jedoch auch umkehren. "In die Prognose sollten daher die jeweiligen Bewertungen, das Zinsniveau, aber auch mögliche geopolitische Entwicklungen mit einfließen", empfiehlt Schwarzer.

An zur Vorsicht mahnenden In­dikatoren herrscht derzeit kein ­Mangel. Der marktbreite US-Index S & P -500 legte in den vergangenen fünf Jahren um rund 120 Prozent zu. Das für den US-Index berechnete Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis - es setzt den Kurs in Beziehung zu den mittleren inflationsbereinigten Indexgewinnen der vorangegangenen zehn Jahre - weist mit aktuell 25 ein Niveau auf, dass zuvor 2000 und 2007 erreicht wurde. In den darauffolgenden Jahren ging es mit den Kursen klar nach unten.

Die Furcht der Anleger vor einem größeren Rücksetzer des US-Gesamtmarkts im Sommer, der aller Voraussicht nach auch die übrigen Börsen negativ beeinflussen würde, speist sich auch aus den jüngsten Korrekturen etwa im Biotechsektor. Zudem droht die Erholung des US-Häusermarkts, von dem die Konsum­freude der US-Bürger, aber auch die Mobilität der Arbeitskräfte in den USA maßgeblich abhängen, an Dyna­mik zu verlieren. Im März sanken die Verkäufe bereits genutzter Immobilien gegenüber dem Vorjahresmonat um 7,5 Prozent. Ursache sind wieder anziehende Hypothekenzinsen.

Ein weiteres statistisch gut belegtes Phänomen macht Investoren zusätzlich nervös: Die USA befinden sich aktuell in der Mitte ihrer Legislaturperiode. "In der Vergangenheit waren dies überwiegend schwächere Börsenphasen, da die Regierungen im Vergleich zu heißen Wahlkampfzeiten eine weniger aktive Konjunkturpolitik betrieben", erläutert Ralf Müller-Rehbehn, Aktien­experte bei der Vermögensverwaltung AMF Capital.

Als möglichen Auslöser für eine Talfahrt sieht Müller-Rehbehn aber vor allem geopolitische Risiken: ­"Neben den Spannungen zwischen den westlichen Industriestaaten und Russland traten die Entwicklungen in Syrien und Ägypten in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie haben das Potenzial, die Kaufbereitschaft der Anleger in den kommenden Monaten zu dämpfen."

Bei allen Gefahrenherden gibt es allerdings auch eine Reihe Faktoren, die zu positiven Überraschungen führen könnten. Nicht auszuschließen ist zum Beispiel, dass die EZB für einen kurstreibenden Paukenschlag sorgt. Die niedrige Inflationsrate macht den Währungshütern ebenso zu schaffen wie die anhaltende Kreditklemme. Noch mehr ­Liquidität der Notenbanker, um diesen Problemen entgegenzuwirken, würde für neuen Schwung an den Aktienmärkten sorgen.

Herbstliche Zuversicht
Bis zum vierten Quartal könnten sich auch die aktuellen politischen Spannungen wieder etwas beruhigt haben, meint Müller-Rehbehn. Positive Gewinnaussichten der Unternehmen stünden dann wieder im Fokus und sollten die Anleger zum Kauf motivieren.

Im Sommer lieber etwas vorsichtiger agieren, im Herbst wieder mehr wagen - das könnte sich auch dieses Jahr also durchaus als richtige Investmentstrategie für Anleger erweisen. Eine Garantie dafür gibt es natürlich nicht. Und 2015 müssen die aktuellen Einflussfaktoren sowieso wieder neu bewertet werden - um zu sehen, ob das Umfeld dann für oder gegen die Regel spricht.

Investor-Info

Saisonale Signale
Nur Trends, keine Garantie

Im Sommer neigen die wichtigsten Leitindizes meist zur Schwäche, im Winter entwickeln sie sich oft stärker. Auf lange Sicht hat es sich bislang gelohnt, saisonale Kursdifferenzen zu beachten. Die Investmentbranche hat daher entsprechende Produkte aufgelegt, die - als Beimischung - der Depotabsicherung dienen. Anleger müssen aber wissen, dass Zinsentscheidungen, geopolitische Risiken oder andere Auslöser die Kurse mitunter stärker ­beeinflussen als saisonale Trends.

DAXplus Seasonal Strategy
Kursferien im Sommer

Der von der Deutschen Börse berechnete Index bildet die Wertentwicklung des DAX in den Monaten Oktober bis Juli nach. In den tendenziell schwächeren Monaten August und September wird die Indexberechnung ausgesetzt. Binnen fünf Jahren erzielten Anleger so 120 Prozent, der DAX bringt es nur auf 90 Prozent. Auf Sicht von zwölf Monaten schnitt der Leitindex jedoch um vier Prozentpunkte besser ab als das Saisonpapier der RBS auf den Index.

HVB Europa Saison
Immer zur besten Zeit

Das Papier vollzieht von Oktober bis Juli die Wertentwicklung des Euro Stoxx 50 nach. August und September werden auch hier nicht berücksichtigt.

Gebert-Zertifikat
Vier Indikatoren entscheiden

Die von dem Physiker Thomas Gebert entwickelte Gebert-Methode berücksichtigt bei Anlageentscheidungen nicht nur die Jahreszeit, sondern stellt auch Fragen zu Zins, Inflation und Dollarkurs. Die Bank of America (BoA) hat auf diese Methode ein Zertifikat aufgelegt. Die wöchentliche Analyse der vier Indikatoren spricht für weitere Kursgewinne des DAX. ­Alternativ wird in den Geldmarkt investiert. Zuletzt gab es Probleme mit dem Papier, da die BoA aus Versehen einigen Anlegern kündigte. Die fälschlich vorgenommenen Kündigungen wurden nach BoA-Angaben inzwischen wieder rückgängig gemacht.

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