China-Aktien: Verkaufen?
Bilanzskandale bei China-Aktien: Alles noch viel schlimmer?
Am 11. Juni berichtete ich Ihnen an dieser Stelle unter dem Titel "China-Aktien - Scheibchenweise Enron" über eine neue Dimension im Bilanzierungsskandal mit in den USA notierten China-Aktien - und die Hilflosigkeit der US-Behörden bei der Strafverfolgung.
Nun endlich bekommt die Wertpapieraufsichtsbehörde SEC Unterstützung durch das US-Justiz-Ministerium. Richtig so, allerdings sollten China-Investoren schon mal in Deckung gehen.
Denn: Obwohl bisher quasi ausschließlich professionelle Internet-Blogger mit offenen Short-Positionen Enthüllungsstorys lieferten, wurden bereits über ein Dutzend in den USA notierte China-Firmen vom Handel suspendiert. Gegen mindestens 25 Firmen laufen Ermittlungen. Die Dunkelziffer dürfte aber noch weit, weit höher liegen. Die Vielzahl der Anschuldigungen ist inzwischen kaum mehr zu überschauen.
Die Kurse der meisten Reverse Merger-Aktien (also von solchen Firmen, die durch eine leere Unternehmenshülle eines US-Unternehmens an den Markt kamen) nähern sich in rasantem Tempo der Nulllinie.
Mit den im Juni als Bilanzbetrüger aufgeflogenen milliardenschweren - vermeintlichen - Blue Chips Longtop Financial (Versicherungen) und Sino-Forest (Holzanbau) weitete sich der Skandal dann auf Unternehmen aus, die mittels eines regulären Börsengangs (IPO) an den Markt gekommen waren. Erstmals waren auch namhafte institutionelle Investoren betroffen. Der Gesamtschaden wuchs in den zweistelligen Milliardenbereich.
Jetzt könnte aber alles noch viel schlimmer kommen. Hintergrund ist die Tatsache, dass die chinesischen Regulierungsvorschriften bisher eine Aufklärung der Fälle behindern. Die chinesischen Tochterfirmen der großen Bilanzprüfungsgesellschaften, z.B. Deloitte Touche Tohmatsu, geben die betreffenden Dokumente nicht an die SEC heraus, weil sie es nach geltendem chinesischen Recht nicht dürfen. So wird eine lückenlose Aufarbeitung der Fälle, zum Beispiel bei Longtop Financial, verhindert.
Das lässt sich die SEC nicht mehr länger gefallen und führt nun schwere Geschütze ins Feld: Der SEC-Chefermittler Robert Khuzami erzählte der Nachrichtenagentur Reuters, dass nun das US-Justiz-Ministerium (und der Exekutive, das FBI) in die Ermittlungen eingebunden wird. Damit ist künftig auch eine strafrechtliche Verfolgung gegen die beteiligten Personen möglich. Die SEC selbst kann nur zivilrechtlich in Erscheinung treten.
Gleichzeitig laufen Verhandlungen der SEC und der US-Bilanzaufsichtsbehörde PACOB mit den entsprechenden chinesischen Behörden, in denen es darum geht, die unter Verschluss gehaltenen Unterlagen der Wirtschaftsprüfer gemeinsam zu inspizieren.
Khuzami findet dabei deutliche Worte: "Der jetzige Zustand, der keine verlässliche Bilanzprüfung ermöglicht, ist für börsengehandelte Unternehmen ein untragbarer Zustand. Wir müssen hier einen Lösungsweg finden. Das ist eine große Sache für uns."
Die Angst geht um
Einigen sich die Behörden könnte sich Longtop Financial zu einer Art Präzedenzfall in den USA entwickeln (Sino-Forest ist ja in Kanada notiert) und weitere Enthüllungen nach sich ziehen. Nun geht die Angst um, dass weitere große und bekannte China AGs Leichen im Keller haben könnten.
Die ohnehin durch die Schuldenkrise in Europa und die sich verlangsamende US-Konjunktur verängstigten Anleger warfen - wenig überraschend - ihre Bestände an China-Aktien in Scharen auf den Markt. Speziell Titel aus dem Internetsektor kamen massiv unter Druck, auch die Marktführer Baidu und Sina, die lange als Lieblinge der US-Spekulanten galten und deren Kurse sich in den letzten zweieinhalb Jahren vervielfacht hatten.
Dass ausgerechnet Internet-Aktien zu den größten Verlierern zählen hat neben deren hoher Bewertung und der hohen Konjunktursensitivität der überwiegend werbebasierten Geschäftsmodelle aber noch einen weiteren Grund. Die Ursache ist politisch:
Die chinesische Regierung möchte bestimmte Wirtschaftsbereiche vor ausländischen Investoren schützen. Dazu zählt auch der Internet-Sektor, der in China ja auch teilweise der Zensur unterliegt. Google lässt grüßen.
Um die auf Grund der hohen Wachstumsraten prinzipiell für Anleger attraktiven chinesischen Internetfirmen trotzdem am US-Markt listen zu können, wurde eine spezielle rechtliche Konstruktion entwickelt, die "variable interest entities" (VIEs). Dabei werden nicht operativ tätige Offshore-Holdinggesellschaften gegründet, die statt dem eigentlichen einheimischen Unternehmen börsennotiert sind. Über ein komplexes Vertragsgeflecht wird versucht, diese Konstruktion auch rechtlich "wasserdicht" zu machen.
Nun kursieren in China und Hongkong interne Papiere, wonach die China Securities Regulatory Commission (CSRC) den chinesischen Staatsrat auffordert, diese Konstruktionen zu verbieten. Das berichten übereinstimmend verschiedene in China ansässige Anwaltskanzleien.
Die meisten in den USA notierten chinesischen Internetfirmen, darunter auch Baidu, Sina, Sohu und Youku.com, sind VIE-Konstruktionen.
Droht wirklich ein rechtliches Fiasko?
Ohnehin alarmiert durch die jüngsten Bilanzierungsskandale und Berichte über ein nachlassendes Wirtschaftswachstum in China, beschlossen viele Anleger angesichts der nun auch noch auftretenden rechtlichen Verunsicherung, ihre Aktien zuerst zu verkaufen und dann Fragen zu stellen. Das ist ihnen nicht zu verdenken, schließlich dürften viele immer noch auf hohen Buchgewinnen sitzen, die nun dahin schmelzen.
Doch droht durch die VIE-Problematik wirklich der rechtliche Super-GAU und im Extremfall ein Totalverlust für Anleger?
Ich halte das für sehr unwahrscheinlich, denn ein entsprechender Erlass würde dazu führen, dass einige der größten und bedeutendsten chinesischen Internetfirmen von der eigenen Regierung in massive Probleme gebracht würden. Dies hätte sicher auch enorm belastende Auswirkungen auf das operative Geschäft und könnte im Extremfall sogar eine Restruktierung der gesamten chinesischen Internetlandschaft erforderlich machen.
Zudem wäre das Vertrauen ausländischer Investoren in China dann komplett zerstört. Eher möglich, dass eine Regelung gefunden wird, bei der die bisherigen VIEs eine Art Bestandsschutz genießen und stattdessen nur die Gründung neuer VIEs untersagt wird.
Die aktuelle Panik könnte für kurzfristig orientierte Trader also durchaus interessante Kaufchancen bieten. Allerdings sind die fundamentalen Bewertungen von Sina und Baidu auch nach den jüngsten heftigen Kursverlusten weiter ambitioniert. Meine detaillierte Einschätzung zu diesen beiden Werten finden Sie im zweiten Teil des heutigen Updates.
MEIN FAZIT:
- Auch etablierte, in den USA notierte China-Aktien, geraten im Zuge der schwelenden Bilanzierungsskandale nun massiv unter Druck.
- Noch ist vollkommen unklar, welche Blue Chips von den aktuellen Ermittlungen betroffen sein könnten bzw. ob es überhaupt neue Enthüllungen geben wird.
- Eine unsichere Rechtslage bezüglich der unternehmensrechtlichen Konstruktion von chinesischen Internet-Aktien ("variable interest entities") sorgt dafür, dass gerade diese Papiere besonders stark unter Druck geraten.
- Auch wenn die Panik überzogen scheint, sind Internet Blue-Chips wie Baidu und Sina nach wie vor hoch bewertet.
Armin Brack ist Chefredakteur des Geldanlage-Reports. Gratis anmelden unter: www.geldanlage-report.de. Der obige Text spiegelt die Meinung des jeweiligen Kolumnisten wider. Die finanzen.net GmbH übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche Regressansprüche aus.