Schreckgespenst Deflation
Wie teuer können fallende Preise sein? Aus volkswirtschaftlicher Sicht: sehr teuer. In der Eurozone befindet sich die Inflation auf dem Rückzug. Ursachen und Folgen einer Deflation in der Eurozone.
von Frank Engels, Gastautor von Euro am Sonntag
Das Inselreich Japan blickt auf eine lange Phase fallender Preise zurück - Ökonomen sprechen von Deflation. Bezahlt hat das Land mit einer über Jahre anhaltenden Dauerkrise. Lange galt das "japanische Schreckgespenst" als unwahrscheinlicher Sonderfall. Diese Einschätzung hat sich vor allem in Europa geändert.
Droht uns also ein japanisches Szenario? Wohl kaum. Die sinkende Inflation in der Eurozone ist auf eine Reihe vorübergehender Aspekte zurückzuführen. Da wäre zunächst das spezielle Währungsregime. Mit der Einführung des Euro sind die Wechselkurse zwischen den Mitgliedsländern weggefallen. Damit kann eine unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr über den Außenwert etwa von D-Mark und Lira stattfinden. Verliert ein Land an Konkurrenzfähigkeit - wie die südeuropäischen Länder seit Einführung des Euro - ist der Weg der Währungsabwertung versperrt. Stattdessen muss die Anpassung über Löhne und Preise stattfinden, bei unverändertem Wechselkurs. Man spricht von "interner Abwertung".
Der zweite Punkt betrifft den Zusammenhang zwischen Inflation und Konjunktur. Brummt die Wirtschaft, steigen die Preise. Warum? Die Arbeitnehmer erzielen dann bessere Lohnabschlüsse, während die Unternehmen für ihre Produkte höhere Preise durchsetzen können. In einer Rezession kehrt sich dieser Mechanismus um: Die Einkommen der Konsumenten stagnieren, und die Konzerne sehen sich einem härteren Wettbewerb ausgesetzt. Volkswirtschaftlich gesprochen hängt die Inflation somit von der Auslastung der Produktionskapazitäten ab: Je mehr freie Ressourcen, umso billiger ist deren Einsatz und umso geringer fällt die Teuerung aus.
Bei hoher Auslastung des Produktivstocks an Arbeit und Kapital verteuern sich hingegen diese Faktoren deutlich. Derzeit ist die Kapazitätsauslastung nicht nur in der Eurozone sondern auch global als Folge der Finanzkrise (noch) gering. Anschaulich wird dies zum Beispiel an der Arbeitslosenrate in der Europäischen Währungsunion (EWU), die im Februar bei 11,9 Prozent im Währungsraum lag. Dabei reichte das Spektrum von 2,6 Prozent in Oberbayern bis 36,3 Prozent im spanischen Andalusien - entsprechend schwach ist dort die Lohnentwicklung.
Und schließlich ist die Eurozone mit einem Bankenproblem konfrontiert: Die Geldhäuser bekommen zwar von der Europäischen Zentralbank (EZB) Liquidität zum historisch niedrigen Leitzins von 0,25 Prozent, aber sie geben diese Mittel nicht in entsprechendem Umfang an die Realwirtschaft weiter. Die Gründe reichen von Bilanzreparaturen über regulatorische Anforderungen bis hin zur schwachen Kreditnachfrage. Für die Inflation sind die Ursachen allerdings unerheblich. Fakt ist: Der Geldkreislauf ist gestört, und dadurch wird auch die Preisentwicklung gedämpft.
Warum gibt diese Entwicklung Anlass zu Besorgnis? Verfestigt sich bei Unternehmen und Konsumenten erst einmal die Erwartung, dass die Preise für Güter und Dienstleistungen immer weiter fallen, droht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. In der Annahme, zu einem späteren Zeitpunkt einen geringeren Preis zu zahlen, werden viele Anschaffungen in die Zukunft verschoben. Das Resultat ist eine Beeinträchtigung des Wachstums, die wiederum den Spielraum für künftige Lohn- und Preisanstiege einengt. Die Volkswirtschaft droht in eine Abwärtsspirale zu geraten. Genau mit diesem Problem hat Japan seit Jahren zu kämpfen.
Liquidität ist bei den Banken
ausreichend vorhanden
Befindet sich ein Land erst einmal in der Deflation, ist der Kreislauf nur noch schwer zu durchbrechen. Daher wacht die EZB in Frankfurt mit Argusaugen darüber, dass sich die Situation in der Eurozone nicht zuspitzt. Ihr Chef Mario Draghi betonte, dass man bereit sei, jede erdenkliche Maßnahme zu ergreifen, um einer drohenden Deflation Einhalt zu gebieten. Dazu hat die Notenbank noch verschiedene Pfeile im Köcher. Das wahrscheinlichste Instrument ist eine weitere Verringerung des Leitzinses auf null Prozent mit gleichzeitiger Absenkung des Einlagenzinses auf einen negativen Wert. Dieser Schritt wäre kaum umstritten. Allerdings ist offen, inwiefern eine Senkung noch einen Effekt hätte - der Leitzins ist ja bereits sehr niedrig.
Außerdem könnten die Mindestreserveanforderungen gelockert werden. Die Geschäftsbanken müssten weniger Kapital bei der EZB hinterlegen und könnten dadurch die Kreditvergabe ankurbeln. Der Haken: Liquidität ist auch ohne diesen Schritt ausreichend vorhanden. Dasselbe Argument spricht gegen einen Mega-Tender, wie sie die EZB in der Vergangenheit schon durchgeführt hat. Wirkungsvoller dürfte ein Anleiheankaufprogramm, das sogenannte Quantitative Easing (QE), nach dem Vorbild anderer Notenbanken sein. Allerdings ist umstritten, ob derartige Maßnahmen der EZB überhaupt erlaubt sind oder ob sie gegen das Verbot der Staatsfinanzierung verstoßen. Staatsanleihekäufe nach US-Muster sind daher eher unwahrscheinlich.
Falls sich die EZB zu einem QE entscheiden sollte, sind Ankäufe von verbrieften Unternehmensdarlehen zum Aufbrechen der Kreditklemme wahrscheinlicher und könnten eventuell von Staatsanleihekäufen aller Mitgliedsländer der EWU begleitet werden. Damit würden die Währungshüter das Kapital direkt in die Realwirtschaft pumpen, die Geldschöpfung also wieder in Bewegung setzen. Einen derart radikalen Weg wird die EZB aber wohl nur im Notfall gehen.
Wahrscheinlicher ist hingegen ein negativer Einlagenzins. Dabei bekommen die privaten Geldhäuser keine Zinsen auf ihre bei der Notenbank lagernden Einlagen. Im Gegenteil, es wird eine Gebühr, ein Strafzins für das Geldparken, fällig. Dadurch hätten die Geschäftsbanken einen Anreiz, die reichlich vorhandene Liquidität in andere Kanäle wie die Kreditvergabe zu leiten. Auch dies würde die Voraussetzungen für mittelfristig wieder steigende Preise erhöhen.
Aktuell steht ein Abdriften der Eurozone in die Deflation zwar nicht zu befürchten, aber: Die Inflation dürfte auf längere Sicht niedrig bleiben. Für Anlagen in der Eurozone bedeutet dies, dass die lockere Geldpolitik der EZB weiter anhalten dürfte. Trotz der wirtschaftlichen Belebung ist mit einem Kurswechsel angesichts der geringen Teuerung zunächst kaum zu rechnen. Anziehendes Wachstum, niedrige Inflation, lockere Geldpolitik - das dürften die Rahmenbedingungen für die europäischen Kapitalmärkte bleiben. Ein gutes Umfeld für chancenorientierte Anlagen.
zur Person:
Frank Engels,
Leiter des
Rentenfondsmanagement Union Investment
Der promovierte Volkswirt leitet das 46-köpfige Rententeam der Fondsgesellschaft Union Investment und ist dort für ein Portfoliovolumen von mehr als 75 Milliarden Euro verantwortlich. Zuvor arbeitete Engels unter anderem als Ökonom für den Internationalen Währungsfonds und als Länderexperte für Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Griechenland bei der Europäischen Zentralbank.
Union Investment ist die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken und mit aktuell mehr als 200 Milliarden Euro verwaltetem Vermögen einer der größten deutschen Vermögensverwalter für private und institutionelle Anleger.