Euro am Sonntag

Steuerhinterzieher nicht kriminalisieren

13.09.15 03:00 Uhr

Steuerhinterzieher nicht kriminalisieren | finanzen.net

Fehler der Finanzverwaltung und Steuergeldverschwendung von Politikern bleiben lässliche Sünden, Fehler bei der Erfüllung der Steuerpflichten werden dagegen hart verfolgt.

von Peter Lüdemann, Gastautor von Euro am Sonntag

Ach Juristen: Ihre ganze Kunst, so ein legendäres Bonmot, beschränke sich darauf, bei der Rechtsbeugung Formfehler zu vermeiden. Doch so schön diese kleine Spitze auch ist, ganz so schlimm sind ­Juristen nicht. Viele ergreifen ihren ­Beruf aus wirklichem Interesse und in manchen Fällen sogar aus Idealismus.

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Einen ganz besonderen Reiz hat für mich das Steuerrecht als Teil des öffentlichen Rechts; denn es erfasst die Lebenswirklichkeit des Menschen, bewertet diese in Zahlen und errechnet da­raus einen vom Einzelnen zu entrichtenden Beitrag zum Gemeinwesen. Ohne Geld kein Staat. Kein Eis wird gegessen, kein Auto gefahren, kein Haar geschnitten, kein Handel getätigt, ohne dass der Staat nicht daran beteiligt wäre.

Dabei interessieren nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen bis ins Detail. Auch sein Privatleben wird unter die Lupe genommen. Damit dringt der Staat tief in die intimsten Lebensdetails seiner Bürger ein. Als Gegengabe legt der Staat den Mantel des Steuergeheimnisses über jeden Menschen. Klingt nach einem Vertrauensverhältnis. Das ist es auch, wird aber leider hin und wieder gebrochen. Dies geschieht meist dann, wenn sich der Staat und seine Diener offensichtlich abschreckende Wirkung davon er­hoffen, Prominente und ihre Sünden medienwirksam öffentlich zu inszenieren, anstatt, dem Gesetze folgend, solche Fälle für sich zu behalten und im Stillen abzuwickeln.

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Das Steuerrecht ist ein gänzlich un­demokratisch zustande kommendes, einseitig konzipiertes und obendrein noch einseitig umgesetztes Instrument zur Finanzierung eines überbordenden Staates. Dabei versagt dieser Staat seinem Bürger jeglichen ausreichenden Rechtsschutz und jede Einflussnahme. Er macht seinen Bürger vom Souverän ­wieder zum Untertan - mithilfe einer Finanzverwaltung, die sich nicht als ­demokratisch legitimierte und rechtsstaatlich gebändigte Exekutive im In­teresse der Bürger versteht, sondern als autokratische, selbstbezogene und allmächtige Entscheidungsinstanz darüber, wer welche Steuern in welchem Umfang wann und wo zu entrichten hat.

Für die Begründung und Erhebung der Steuern in Deutschland sorgen rund 120 Gesetze, 80 Verordnungen, 20 Richtlinien, 2.000 Schreiben des Bundesfinanzministeriums und 185 Steuererklärungsvordrucke. So fließen derzeit mehr als 600 Milliarden Euro jährlich aus den Taschen der Bürger in die Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden. Nimmt man dann noch die Sozialabgaben dazu, kommt man (2013) auf 1,164 Milliarden Euro. Dies entspricht 41  Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

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Es ist ein Unding, dass sich in unserem Land die Finanzverwaltung, also die Exekutive, zum Gesetzgeber aufschwingt und sich das Steuerrecht so gestaltet, wie sie es braucht. Dieser Umstand wäre noch verkraftbar, würde die dritte Gewalt im Staate in Bezug auf das Steuerrecht funktionieren. Leider funktioniert dies in unserem Staat nicht.

Die Finanzgerichtsbarkeit begnügt sich nicht nur bis zum Finanzgericht mit den Beteiligten selbst, und dies, obwohl es keine zweite Tatsacheninstanz gibt, in der eine rechtliche Vertretung vor­geschrieben ist. Nein, man kann das ­Finanzgerichtsverfahren auch führen, indem man sich von einem Steuer­berater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer vertreten lässt.

Dies gilt auch für die Revisionsinstanz. Der Finanzgerichtsweg ist der nun wirklich einzige in Deutschland, der nur eine einzige Tatsacheninstanz kennt, danach nur eine Revisionsinstanz. All dies wird dem Steuerpflichtigen aufgebürdet, im Zweifel ohne dass sich dieser ein einziges Mal mit seinem Problem an einen Anwalt wendet.

Das muss anders werden,
damit es besser wird

Es braucht eine radikale Veränderung. Der fiskalpolitische Komplex muss aufgebrochen werden:

1. Die Anzahl der Steuern reduzieren!
2. Die Gewerbesteuer abschaffen!
3. Die unterschiedlichen Umsatz­steuersätze abschaffen!
4. Eine Steuergesetzgebungskommission einführen!
5. Die Finanzverwaltung zur Achtung der Gewaltenteilung verpflichten!
6. Die Rechtsprechung als unsere dritte Gewalt stärken!
7. Das Steuerrecht zum Pflichtfach in der Juristenausbildung machen!
8. Die kalte Progression abschaffen!
9. Die Finanzverfassung ändern!
10. Den Straftatbestand der Steuerhinterziehung abschaffen!

Bevor Sie Ihrer Empörung freien Lauf lassen, halten Sie bitte erst einmal die Luft an und lassen Sie sich auf meine Gedanken ein. Ich weiß, dass gerade Steuerfahnder und Staatsanwälte aufstöhnen, wenn sie das lesen. Und mir ist klar, dass eine zurzeit nach der öffentlichen Hinrichtung von Steuerhinterziehern gierende Öffentlichkeit eine solche Forderung kaum nachvollziehen kann.

Aber es bleibt ein Fakt, dass staatsbürgerliches Handeln nicht durch das Strafrecht erlangt werden kann. Wir reden hier nicht über einen Dieb, einen Betrüger, einen Räuber oder Mörder. Wir reden über Menschen, die teils aus Absicht, teils aus Unachtsamkeit, teils aus Gleichgültigkeit ihren Pflichten ­ gegenüber dem Gemeinwesen nicht in vollem Umfang nachkommen, das heißt: nicht so viel in den Topf einzahlen, wie sie sollten.

Ein demokratischer Staat lebt jedoch davon, dass seine Bürger sich mit ihm identifizieren und für ihn engagieren. Wenn dieser Staat versucht, staatsbürgerliches Handeln durch strafrechtliche Sanktionen zu erzwingen, zerstört er mehr im Verhältnis zwischen Bürger und Staat, als er an Steuereinnahmen gewinnen kann.

Wenn bei uns derzeit eine Welle von Selbstanzeigen durchs Land rollt, hat das ja nichts mit dem geläuterten Bewusstsein der Steuerzahler zu tun. Nein, diese Steuerehrlichkeit hat viel mit den rechtsmissbräuchlich erlangten Daten zu tun, deren sich die Finanz­verwaltung bedient.

Will man nun den strafrechtlichen Zwang zur Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten und den fortwährenden Rechtsbruch durch die Finanzverwaltung ad acta legen und trotzdem nicht auf die heilende Wirkung einer gewissen Öffentlichkeit verzichten, drängt sich eine ganz andere Vorgehensweise auf: Warum machen wir es nicht wie die Schweden? Dort ist die Steuererklärung eines jeden Steuerbürgers einsehbar.

Sie können also nachsehen, was ihr Nachbar an Steuern zahlt und wie sich dies zu seinem tatsächlichen Lebenswandel verhält. Denn wenn die Steuerhinterziehung keine Straftat mehr ist, entfällt auch der Zwang zum Steuer­geheimnis. Es wird nicht mehr nur zwischen Staat und Bürger verhandelt oder gewaltsam durchgesetzt, was der Bürger an den Staat zu entrichten hat. Nein, es kann öffentlich diskutiert werden, wer wie viel zum Gemeinwesen beiträgt. Und es könnte auch bei jedem Einzelnen, der dies in besonders großem Umfang tut, öffentlich Dank abgestattet werden.

Modell Schweden: Steuermoral
durch Öffentlichkeit stärken

Es würde ja auch keiner von uns die Versicherung betrügen, schwarzfahren oder zu schnell durch die 30er-Zone Auto fahren, wenn all diese Handlungen öffentlich wären und er dabei identifizierbar wäre. Holen wir doch die Steuerzahlung aus der trauten Zweierbeziehung zwischen Staat und einzelnem Bürger und machen sie öffentlich! Nichts würde der Steuermoral so guttun wie dies. Und verzichten wir dafür auf die Kriminalisierung der Mehrheit unserer Bürger.

Von alleine wird nichts besser. Über­legen Sie sich ab heute, wie Sie dazu beitragen können! Verweigern Sie, wie es mein Kollege Professor Paul Kirchhof vorexerziert, die Unterschrift unter ihre Steuererklärung, weil sie aufgrund der Komplexität des Steuerrechts nicht für deren Richtigkeit und Vollständigkeit geradestehen wollen. Legen Sie gegen Ihren Steuerbescheid Einspruch ein mit der Begründung, die Einkommensteuer sei verfassungswidrig, weil a) der Steuertarif in den letzten 50 Jahren nicht der Inflation angepasst wurde und b) das Gesetz unter Missachtung der Gewal­tenteilung und nicht im verfassungsgemäß vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren erlassen worden sei.

Wenn wir Politiker und Finanzverwaltung nicht massenhaft spüren lassen, dass wir die bestehenden Verhältnisse nicht länger hinnehmen werden, wird sich nichts ändern. Und wir wollen doch, dass sich etwas ändert.

Kurzvita

Peter Lüdemann, Vorstand und
Teilhaber ETL-Gruppe, European Tax & Law

Professor Dr. Peter Lüdemann promovierte über verfassungsrecht­liche Fragen der Steuergesetzgebung. 2005 Ernennung zum Honorarprofessor durch die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Er ist Mitgründer der Münchner Kanzlei Lüdemann Wildfeuer und als Rechtsanwalt und Steuerberater tätig. Seit 2015 ist er im Vorstand und Teilhaber der ETL-Gruppe.

Bildquellen: ETL-Gruppe, filmfoto / Shutterstock.com