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Reform der Pflegestufen: Wer profitiert

12.11.16 22:20 Uhr

Reform der Pflegestufen: Wer profitiert | finanzen.net

Ab 2017 greifen die neuen Gesetze bei der Pflege. Was sich dadurch ändert, wer profitiert - und wer womöglich noch in diesem Jahr ­einen Antrag stellen sollte.

von Maren Lohrer, Euro am Sonntag

Je mehr Kerzen deine Geburtstagstorte hat, desto weniger Atem hast du, um sie auszublasen", sagte der französische Schriftsteller Jean Cocteau. Hinfälligkeit im Alter - ein Thema, das besonders in einer überalterten Gesellschaft anzugehen ist. "Jeder zweite Mann und drei von vier Frauen werden in ihrem Leben pflegebedürftig", weiß Heinz Rothgang, Gesundheitsökonom an der Uni Bremen. Daher hat die große Koalition die Pflegeversicherung auf den Prüfstand gestellt. Zum Jahreswechsel ändert sich einiges: Das sogenannte Pflegestärkungsgesetz II tritt in Kraft - mit Auswirkungen auf Millionen Menschen.

Wer ist pflegebedürftig?

Zentraler Punkt der Reform ist ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff, der Demenzkranken Anspruch auf die gleichen Leistungen einräumt wie Menschen, die körperlich beeinträchtigt sind. Aktuell orientiert sich die Pflegebedürftigkeit daran, wie viel Zeit ein Mensch am Tag an Hilfe braucht. Dies wird oft als "Minutenpflege" kritisiert, denn die Vorschriften regeln genau, wie viele Minuten für welche Tätigkeit vom Pflegedienst abgerechnet werden können. Beispiel: "Waschen Hände/Gesicht: ein bis zwei Minuten" oder "Zahnpflege: fünf Minuten".


"Es ist gut, dass hier ein Umdenken stattfindet", sagt Verena Querling, Referentin für Pflegerecht bei der Verbraucherzentrale in Nordrhein-Westfalen (VZ NRW). Künftig wird die Pflegebedürftigkeit danach beurteilt, wie selbstständig Menschen im Alltag tatsächlich sind, welche Fähigkeiten sie haben und wie oft sie personelle Hilfe benötigen.

Hierzu werden nun sechs Bereiche untersucht und entsprechend gewichtet: Mobilität (zehn Prozent), Kognition und Verhalten (15 Prozent), Selbstversorgung (40 Prozent), Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen (20 Prozent), Gestaltung des Alltags­lebens, soziale Kontakte (15 Prozent).

Von Stufe zu Grad

Zugleich sollen die bisher üblichen drei Pflegestufen auf künftig fünf sogenannte Pflegegrade ausgeweitet werden. So werde dem Pflegebedarf jedes Einzelnen besser Rechnung getragen, sagt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Es gilt: Je höher der Pflegegrad, desto mehr ist der Mensch in seiner Selbstständigkeit beeinträchtigt und auf Hilfe angewiesen.


Die Überleitung in die neuen Pflegegrade erfolgt automatisch und nach ­gesetzlich vorgegebenen Regeln. Die Empfänger müssen also keinen neuen Antrag zum Jahreswechsel stellen, um für 2017 dem entsprechenden Pflegegrad zugeordnet zu werden.

Pflegebedürftige mit ausschließlich körperlichen Handicaps erhalten anstelle der bisherigen Pflegestufe den nächsthöheren Pflegegrad, etwa statt Pflegestufe  1 den Pflegegrad  2. Ist zudem die Alltagskompetenz eingeschränkt, erhalten Betroffene den übernächsten Pflegegrad, zum Beispiel statt Pflegestufe 1 den Pflegegrad 3. Mit dem neuen, umfassenderen Begriff lassen sich auch Demenzkranke erfassen. Es wird damit gerechnet, dass etwa 500.000 Menschen zusätzlich Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung haben.

Frage der Finanzierung

Die gesetzliche Pflegeversicherung trägt stets nur einen Teil der Kosten. In der Pflichtversicherung finanziert die aktuell erwerbstätige Generation über das Umlageverfahren die Versorgung der älteren Generation. Das Problem dabei: Rücklagen werden kaum gebildet. Wer also im Bedarfsfall weder das eigene Vermögen noch seine Kinder belasten oder abhängig vom Sozialamt werden will, der sollte sich frühzeitig Gedanken über eine zusätzliche Absicherung machen.


Aktuelle Zahlen aus der Pflegedatenbank des Verbands der Privaten Krankenversicherung (PKV) ergeben, dass im Schnitt die Kosten für eine vollsta­tionäre Versorgung in der heutigen Pflegestufe 3 rund 3.570 Euro monatlich ­betragen. Legt man die Leistungen der Pflegepflichtversicherung zugrunde, so bleibt eine Finanzierungslücke von rund 1.960 Euro.

Auch der Beitrag zur gesetzlichen Pflegeversicherung steigt. Zu Jahresbeginn 2016 nahm er bereits von 2,05  Prozent auf 2,35 Prozent zu. ­­2017 folgt eine weitere Steigerung um 0,2  Prozentpunkte, für Kinderlose erhöht sich der Satz dann auf 2,8 Prozent. Beide Erhöhungen bringen zusammen fünf Milliarden Euro.

Die Zuschläge sind nötig, um den Bestandsschutz zu gewährleisten. Mit der Umstellung im Rahmen der Reform soll keiner der heute rund 2,8 Millionen Leistungsbezieher aus der Pflegeversicherung schlechter gestellt werden. Grundsätzlich werden Leistungsan­sprüche nach oben angepasst.

Noch 2016 anmelden?

Doch das ist gar nicht der Punkt, sagt VZ-Referentin Querling: "Es geht vielmehr um die Menschen, die noch keine Leistungen der Pflegeversicherung ­erhalten, im neuen System aber voraussichtlich weniger Leistungen bekommen würden als im heutigen." Also vor allem Betroffene, die 2017 bei der Neuanmeldung mit einem niedrigen Pflegegrad rechnen müssten. Daher rät sie ­allen, die medizinisch begründet an eine Pflege denken, den Antrag noch in diesem Jahr zu stellen.

So kommt es 2017 für Neufälle unter den Heimbewohnern zu einem höheren Eigenanteil für diejenigen, die sonst in Stufe 1 eingruppiert würden. "Das sind rund ein Drittel der Heimbewohner", erklärt Gesundheitsexperte Rothgang. "Zwar ist der zukünftige einheitliche ­Eigenanteil sachgerecht und gut begründet", so Querling, "aber er führt für die neuen niedrigen Pflegegrade erst einmal zu einer Kostenerhöhung."

Trotz der Reform bleiben noch Baustellen bei der Sicherung der Pflegeversorgung bestehen, wie Heinz Rothgang betont. Hierunter fallen die Finanzierung der Pflegeversicherung sowie Maßnahmen gegen den Pflegenotstand. Immerhin will der Gesetzgeber die ­Laienpflege stärken und damit helfende Angehörige besser absichern. Wer mindestens 14 Stunden in der Woche pflegt und nicht über 30 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist, für den zahlt die Pflegeversicherung die Beiträge zur Rentenversicherung.

Die neuen Pflegegrade (pdf)

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