Meinungsumschwung in Schottland - London reagiert
Die britische Regierung hat am Sonntag auf den Schwenk in den Meinungsumfragen zugunsten einer Unabhängigkeit von Schottland reagiert.
Sie versprach neue Machtbefugnisse für Schottland in den Bereichen Steuern, Ausgaben und Sozialstaat, sofern es im Vereinigten Königreich verbleibe.
In einer am Samstag veröffentlichten Umfrage lagen die Unterstützer einer schottischen Unabhängigkeit erstmals vor den Gegnern einer solchen. Der Stimmungswechsel vor dem am 18. September anstehenden Referendum zeigte die Möglichkeit eines Wahlausgangs auf, der noch vor Wochen undenkbar erschien - und richtet das Augenmerk auf zahlreiche Probleme, die sich aus einer Loslösung Schottlands ergäben, von Währungsfragen und Bankenregulierung bis zu potenziell erheblichen politischen Konsequenzen.
"Es ist klar, dass Schottland mehr Kontrolle über Entscheidungen haben will, die Schottland betreffen", sagt Finanzminister George Osborne am Sonntag. "Sie werden in den nächsten Tagen einen Aktionsplan von uns sehen, der Schottland mehr Kompetenzen gibt."
Osborne sagte, diese Befugnisse würden genau dann in Kraft treten, wenn das Referendum mit einem Nein-Votum beendet ist. "Die Uhr tickt für die Übergabe dieser Kompetenzen, und dann wird Schottland das beste beider Welten haben", sagte er.
Weniger als zwei Wochen vor der Abstimmung der Schotten, ob sie aus dem Vereinigten Königreich austreten wollen, hatten sich laut einer Umfrage von YouGov 47 Prozent der Befragten für die Unabhängigkeit ausgesprochen, während 45 Prozent mit Nein stimmen wollten. Der Rest der zwischen dem 2. und 5. September 1.084 Befragten hatte sich noch nicht entschieden oder wollte nicht zur Abstimmung gehen.
In einer anderen Zählweise ohne Berücksichtigung der Nichtwähler und der Unentschiedenen sprachen sich 51 Prozent für die Unabhängigkeit und 49 dagegen aus, heiß es von YouGov.
"Ein Abstand von zwei Punkten ist zu klein, um eine Prognose für den Ausgang abzugeben", sagte Peter Kellner, Chef von YouGov. "Aber allein die Tatsache, dass das Rennen offen ist, ist schon bemerkenswert, weil Better Together den Sieg schon in der Tasche zu haben schien."
Schottlands Erster Minister Alex Salmond, der die Unabhängigkeitskampagne anführt, wies am Sonntag das Angebot neuer Machtkompetenzen von Osborne zurück und bezeichnete es als Zeichen für die Panik des Pro-Großbritannien-Lagers.
"Das Momentum ist ganz klar auf der 'Ja'-Seite", sagte Salmond in einem Interview mit der BBC. Das Umfrageinstitut schreibt die zunehmende Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit den erfolgreichen Bemühungen Salmond zu, die Sorgen vor den wirtschaftlichen Risiken eines solchen Schrittes zu mindern. Zudem wirke die Kampagne für die Unabhängigkeit dynamischer und optimistischer. Sie spreche vor allem junge Menschen und Wähler aus der Arbeiterschaft an. Der Wahlkampf für die Einheit des Landes, die unter dem Motto Better Together läuft, wird laut YouGov von den Menschen als eher negativ gesehen.
Eine Loslösung Schottlands führte kurzfristig zu erheblichen Problemen sowohl für Schottland als auch für Großbritannien und hätte auch das Potenzial, an den Finanzmärkten für großen Wirbel zu sorgen, sagen Analysten. Rob Wood, Chefvolkswirt für Großbritannien bei der Berenberg Bank, schrieb am Sonntag in einem Brief an seine Kunden, dass sich Finanzfirmen veranlasst sehen könnten, ihre Zentrale von Schottland nach England zu verlegen. Und wenn Schottland neue Kompetenzen zu einer neuen Wirtschaftspolitik erhielte, die Firmen von der Arbeit dort abschreckt, wäre das Land schlechter dran, so Wood.
Der Vorstandschef von Royal Dutch Shell, Ben van Beurden, hatte ebenfalls seiner Sorge über die Auswirkungen eines unabhängigen Schottlands Ausdruck verliehen. Wirtschaftsführer sagten, eine Loslösung brächte erhebliche Unsicherheit in Steuer- und Handelsfragen mit sich und könnte die weltweiten Export-Fähigkeiten schottischer Unternehmen beschneiden.
Vor dem Referendum haben sich Unionisten und Sezessionisten bereits intensiv darüber gestritten, wer dem Land die bessere wirtschaftliche Zukunft bieten könne. Für die Schotten, die gerne unabhängig sein möchten, ist ein Austritt nicht nur eine Frage der Wirtschaftskraft. Sie betrachten die britische Regierung in London als abgehoben und taub gegenüber den Wünschen schottischer Wähler. Für diese Schotten verspricht die Unabhängigkeit, dass in Schottland eingenommene Steuern auch in Schottland für Dinge ausgegeben werden, die englische Wähler weniger stark unterstützen, etwa ein besseres soziales Netz für die Ärmeren.
Das Referendum hat auch die schottische Opposition gegen die von Premierminister David Cameron angeführte Konservative Partei wiederaufleben lassen, die Großbritannien von London aus regiert. Viele Schotten geben der Wirtschaftspolitik der ehemaligen konservativen Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980ern die Schuld für den rasanten Abstieg der einst mächtigen Industriegebiete in Schottland.
Von Jenny Gross und Jason Douglas
Copyright (c) 2014 Dow Jones & Company, Inc.- - 11 24 AM EDT 09-07-14