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Zwischen Machtlosigkeit und Druck: Das Dilemma der Notenbanken

20.07.16 15:00 Uhr

Zwischen Machtlosigkeit und Druck: Das Dilemma der Notenbanken | finanzen.net

Nach dem Brexit sind neue Beruhigungspillen für die Börsen gefragt. Die Geldpolitik ist jedoch schon extrem expansiv. Und ob die Medizin auch in der Realwirtschaft noch wirken kann?

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von Birgit Haas, Euro am Sonntag

Verfallen die Investoren in Panik, stehen die Notenbanken parat. Seit Jahren beruhigen sie die Finanzmärkte mit Pillen namens Niedrigzins und Anleihekäufe. Auch nach dem Brexit-­Votum waren sie verlässliche Psychiater auf Abruf. Die Erklärungen der Europäischen Zen­tralbank (EZB) und der Bank of England (BoE), dass sie notfalls mit weiterem Geld bereitstehen, milderten den ersten Schock.

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Auf eine Zinssenkung verzichteten die Briten am Donnerstag indes und beließen den Leitzins bei 0,5 Prozent. Zunächst jedenfalls. "Dann kommt die Zinssenkung eben im August", hieß es auf dem Parkett in Frankfurt. Die Deutsche Bank erwartet, dass der britische Leitzins Ende 2016 bei 0,1 Prozent steht.

Entsprechend reagierten die Aktienindizes: Der DAX etwa sackte nach Bekanntwerden der BoE-Entscheidung kurz unter die Marke von 10.000 Punkten, die er im Lauf der Woche zurückerobert hatte, erholte sich dann aber sehr schnell.
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Vor ein, zwei Jahren war die große Frage, wer den Leitzins als Erster nach der Krise wieder anhebt - die britische Notenbank oder die Fed? Die US-Notenbank erhöhte den Zins Ende 2015 vorsichtig, mit weiteren Schritten bis Ende 2016 rechnet nun aber kaum noch jemand. Ein Ende der weltweit extrem lockeren Geldpolitik ist nicht mehr in Sicht - im Gegenteil. Die EZB könnte die Laufzeit ihres Anleihekaufprogramms verlängern. Und in Japan scheint es gar realistisch, dass die Zentralbank Ende Juli den Helikopter startet und Geld an Konsumenten oder den Staat verteilt, um die Konjunktur anzukurbeln.

Fast alles aufgeboten

Immer höhere Dosierungen, die an den Börsen für Beruhigung sorgen. Wirkt die Medizin aber auch in der realen Wirtschaft? Die Zweifel mehren sich. "Die Geldpolitik ist bereits sehr expansiv ausgerichtet und es wäre fraglich, ob eine noch expansivere Ausrichtung überhaupt stimulierende Wirkung hätte", erklärt Bundesbank-­Präsident Jens Weidmann.

Die Notenbanken haben in den jüngsten Jahren fast alles an Therapiemöglichkeiten aufgeboten. Trotz Nullzins und Anleihekäufen etwa der EZB verharrt die Inflationsrate aber in der Euro­zone bei null und die Konjunktur kränkelt. "Die Investitionstätigkeit war aus sich heraus bereits vor dem Brexit-Votum im Euroraum zu schwach", sagt Martin Moryson, Chefvolkswirt bei der Bank Sal. Oppenheim.
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Einige Analysten sehen inzwischen sogar in der EZB selbst ein Risiko. Die Notenbanker um ­Mario Draghi hätten mit ihrer ultra­lockeren Geldpolitik die Verschleppung von Reformen in den Eurostaaten mitverursacht. Beispiel Italien: Die Banken dort haben noch faule Kredite in Höhe von 360 Milliarden Euro in den Büchern. Es wurde versäumt, sie beispielsweise in Bad Banks auszulagern. Nun könnten die Folgen des Brexit die italienischen Geldhäuser so stark treffen, dass das gesamte Bankensystem wieder leidet.

Marode Banken im Euroraum könnten die EZB zum Handeln zwingen, quasi als indirekte Konsequenz aus dem Brexit. Das vordergründige Ziel der Notenbanker lautet jedoch, die Konjunktur zu unterstützen. Ob das funktioniert? Die Erfahrung liefert weder den Beweis noch kann sie dies widerlegen. Denn in der Vergangenheit gab es noch nie Nullzinsen, und alle Modellrechnungen sind somit zu einem gewissen Teil fiktiv. Ohne die expansive Geldpolitik wären wir eventuell wirtschaftlich noch schlechter dran.

Briten droht Rezession

Klar ist: Die britische Konjunktur braucht bis zum tatsächlichen Austritt Großbritanniens in frühestens zwei Jahren mehr Unterstützung als die europäische oder die amerikanische Wirtschaft. Darin sind sich die Volkswirte weitgehend einig: Der Brexit wird weder in der EU noch in den USA eine Rezession auslösen - in Großbritannien halten dies jedoch viele Beobachter für wahrscheinlich.

Schon jetzt ist die Konsumentennachfrage eingebrochen und viele Investitionen liegen wegen der politischen Unsicherheiten auf Eis. Das schwache Pfund gibt exportstarken Firmen zwar Auftrieb. Aber ein Nettoimporteur wie Großbritannien muss mit der schwachen eigenen Währung am Weltmarkt einkaufen - und importiert damit auch Inflation. Zusammen mit steigender Arbeitslosigkeit könnte ein explosiver Cocktail entstehen.

Zuschauen ist da keine Option für die Zentralbanker. "Wenn die BoE nichts unternehmen würde, wäre das nicht vertrauensfördernd", sagt Stefan Schneider, Chefvolkswirt für Deutschland bei der Deutschen Bank. Eine schnelle Reaktion erwarten viele Marktteilnehmer stets von den Notenbanken. Und auch wenn die BoE den Leitzins erst mal nicht angetastet hat, sie hat nicht nur verbal interveniert. Schon kurz nach dem Votum hatte sie etwa entschieden, dass die Banken die für Anfang 2017 geplanten höheren Anforderungen ans Eigenkapital erst später erfüllen müssen.

Notenbanker im Dilemma

Gespannt erwarten nun die Beobachter die nächste Zinssitzung einer der wichtigen Notenbanken. Dass die EZB am 21. Juli den Leitzins weiter senkt, also in den negativen Bereich, damit rechnen die meisten Analysten allerdings nicht. Draghi dürfte aber versuchen, kommunikativ Einfluss zu nehmen. "Die EZB könnte mit der Ankündigung eines langen Anleihekaufprogramms die Zinsen drücken", sagt Timo Wollmershäuser, Leiter des Zentrums für Konjunkturforschung am Ifo-Institut. Psychologie wirkt auch.

Eine weitere Öffnung der Geldschleusen oder beschwichtigende Worte können aber vielleicht die Börsen stabilisieren, einen Boom in der Realwirtschaft werden sie kaum auslösen. "Weitere Zinssenkungen sind rein kosmetisch-homöopathischer Natur", sagt Schneider von der Deutschen Bank. Das Dilemma der Notenbanken, zwischen Machtlosigkeit und Druck zu handeln, ist indes nicht hausgemacht. "Die Politik hat ihren Teil des Deals nicht eingelöst", sagt Schneider. Das dürfte wiederum ein Grund sein, weshalb sich die Briten vom Festland verabschieden wollen und die am Mittwoch ins Amt berufene Premierministerin Theresa May protektionistische Reformen auf den Weg bringen könnte.

Den Notenbanken bleibt, das zu machen, was sie können - und dürfen. Dazu gehört nach Ansicht von Bundesbank-Chef Weidmann eines nicht: "Wenn wir versuchen, ein von uns erwünschtes politisches Handeln zu erzwingen, dann würden wir unser Mandat, Preisstabilität zu gewährleisten, verletzen und unsere Unabhängigkeit missbrauchen." Die Notenbanken sind dazu verdammt, den Patienten weiterhin mit allen Mitteln zu therapieren - und zu hoffen, dass er irgendwann reagiert.

Investor-Info

Comgest Growth Europe
Keine Banken im Portfolio

Von der Niedrigzinsstrategie der Notenbanken profitieren erfahrungsgemäß die Aktienmärkte. Allerdings erwarten Marktteilnehmer eine hohe Volatilität im weiteren Jahresverlauf. Damit Anleger nicht mit den Indizes auf Berg-und-Tal-Fahrt gehen, ist ein wachsamer Fondsmanager hilfreich. Der Comgest Growth Europe setzt auf europäische Werte, die langfristig gute Wachstumsperspektiven haben. Die Fondsmanager investieren vor ­allem in defensive Aktien. Banken und Ver­sicherungen, die unter den Niedrigzinsen ­besonders leiden, sind aufgrund des höheren Risikos nicht im Portfolio, weshalb auch der Anteil britischer Firmen ­relativ gering ist.

Bildquellen: DANIEL ROLAND/AFP/Getty Images, BsWei / Shutterstock