thyssenkrupp-Chef: "Wir sehen keine Krise"
Vorstandschef Heinrich Hiesinger über die Krisenfestigkeit des DAX-Konzerns, die Aussichten für die Rohstoff- und Automobilmärkte und für die Dividende.
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von Stephan Bauer, Euro am Sonntag
Aus der Vorstandsetage von thyssenkrupp blickt man weit über die Gewerbegebiete Essens hinaus. Heinrich Hiesinger hat indes wenig Zeit, bei sonnigem Winterwetter die klare Sicht zu genießen. Der Vorstandschef muss zum Weltwirtschaftsforum nach Davos. In der Schweiz trifft er Industrievertreter und Politiker. Es soll um Themen wie die Digitalisierung gehen, um die Zukunft der europäischen Stahlproduzenten und die Handelspolitik in der Europäischen Union.
Am Freitag steht dann die Hauptversammlung an, Hiesingers fünfte als Chef des Stahl- und Industriegüterkonzerns. Der Aktienkurs steht unter Druck, Anleger haben drängende Fragen angesichts der Schwankungen auf den Rohstoff- und Stahlmärkten.
Wann ebbt die Stahlschwemme aus China ab? Wie kann der Traditionskonzern seine Zukunft in der schwierigen Branche sichern? Und ist das Unternehmen, das mit fehlgeplanten Stahlwerken in Übersee einst rund zwölf Milliarden Euro verbrannte, wieder stark genug, auch eine veritable Wirtschaftskrise zu meistern? Trotz vollen Terminkalenders stellte sich Hiesinger den Fragen von €uro am Sonntag.
Euro am Sonntag: Herr Hiesinger, die gute Nachricht ist, dass thyssenkrupp auch im laufenden Geschäftsjahr wieder Gewinne schreiben will. Doch wie knapp stand der Konzern in den vergangenen Jahren vor einer Insolvenz?
Heinrich Hiesinger: Zugegeben, unsere Finanzkennziffern waren schwach und sind es noch. Damit können wir uns nicht zufriedengeben. Inzwischen haben wir aber die Trendwende eingeleitet und uns etwa bei der Eigenkapitalquote von sieben auf neun Prozent verbessert. Wofür wir aber zu jedem Zeitpunkt in den vergangenen Jahren gesorgt haben, war ausreichende Liquidität. Es gab deshalb keine akute Bedrohung. Wir haben immer sichergestellt, dass wir mindestens für zwei Jahre durchfinanziert sind.
Würde der Konzern jetzt eine ernste konjunkturelle Krise überstehen?
Davon bin ich überzeugt. Unsere Nettoschulden haben wir von 6,5 auf 3,4 Milliarden Euro abgebaut. Wir schreiben seit zwei Jahren Gewinne, was dem Eigenkapital bereits zugutegekommen ist. Operativ nehmen wir inzwischen wieder mehr Geld ein, als wir ausgeben, der freie Mittelzufluss ist positiv. Wir wollen die Verschuldung weiter reduzieren und die Bilanz stärken. Wir sind zwar noch nicht durch mit der Transformation, die Richtung stimmt aber.
Der Umsatz soll 2016 stagnieren, der operative Gewinn um bis zu 13 Prozent steigen - oder leicht schrumpfen. Können Sie nach dem ersten Quartal sagen, in welche Richtung es geht?
Die Prognose steht. Sie beruht aber auf der Annahme, dass sich die Werkstoffmärkte im zweiten Halbjahr stabilisieren. Wir halten diesen vorsichtigen Blick für angemessen, weil das Umfeld unsicherer wird.
Ist ein Ende der Stahlschwemme aus China absehbar?
Wir haben eine äußerst schwierige Situation im Stahlmarkt. Die Branche kämpft in Europa um ihre Existenz. In China sind riesige Überkapazitäten vorhanden, der Importdruck ist immens hoch - und Europa ist weltweit einer der wenigen noch offenen Märkte. Die Preisbildung der Chinesen ist unserer Auffassung nach nicht kostenbasiert, die meisten Anbieter schreiben Verluste. Und die Hersteller produzieren bei Weitem nicht mit den Umweltstandards wie wir. Durch die Importe holen wir mehr Kohlendioxid nach Europa, als die Hersteller hier einsparen können.
Fordern Sie Importbeschränkungen oder Strafzölle?
Über die Maßnahmen muss die Politik entscheiden. Aber wenn wir in der Europäischen Union im Wettbewerb bestehen und die Umwelt schützen wollen, dann muss ein Wettbewerb unter fairen Bedingungen her. Das ist nicht der Fall.
Zwei langjährige Verlustbringer, das Stahlwerk in Brasilien sowie das Edelstahlwerk von AST in Italien, stehen zum Verkauf. Kommen Sie hier weiter?
In Brasilien haben wir uns deutlich verbessert und die operative Gewinnschwelle erreicht. Uns geht es heute besser als den meisten anderen Stahlproduzenten im Land. Die operativen Verbesserungen werden allerdings durch währungsbedingte Umrechnungsverluste auf Steuerguthaben aufgezehrt. Ein Verkauf ist im derzeitigen Umfeld kaum realistisch, ändert aber nichts an unserer Absicht. Auch AST schreibt nach der Restrukturierung seit März operative Gewinne. Diesen Turnaround haben viele uns nicht zugetraut. Ich bin überzeugt, dass die Entwicklung von AST gespannt verfolgt wird. Es werden sich Möglichkeiten ergeben.
Im Stahlmarkt gibt es große Überkapazitäten. Stehen Sie womöglich eines Tages auf der Käuferseite?
Wir gehen davon aus, dass es wegen der schwierigen Situation irgendwann zu einer Konsolidierung in Europa kommen wird. Wenn es die Chance dazu gibt, werden wir uns aus einer Position der Stärke heraus daran beteiligen. Meiner persönlichen Einschätzung nach wird es dabei aber nicht um Zukäufe, sondern eher um Partnerschaften gehen.
Der Stahlbereich ist sehr kapitalintensiv. Wäre es für thyssenkrupp langfristig nicht besser, sich auf die Industriegütersparten zu konzentrieren?
Wir haben von Anfang an den Großteil unserer Investitionen in die Industriegüterbranchen gelenkt, weil wir an deren Wachstumspotenzial glauben. Im vergangenen Jahr ist es uns aber auch bei Steel Europe gelungen, das Ergebnis zu verdoppeln - und das lag nicht nur am Effizienzprogramm. Wir haben auch hier in Entwicklung und unsere Anlagen investiert, um weiterentwickelte, höherfeste Stahlgüten anbieten zu können. Automobilhersteller fertigen daraus beispielsweise leichtere und sicherere Karosserien. Um hochfeste Stahlgüten herzustellen, braucht man auch leistungsstärkere Walzwerke. Wir setzen also auf Qualität und Effizienz.
China ist auch ein großer Absatzmarkt. Fürchten Sie eine scharfe Krise?
Wir sehen zurzeit keine generelle Krise, sondern eine Abschwächung des Wachstums. Das ist ein Verlauf, den wir auch in anderen großen Volkswirtschaften beobachtet haben. Auch wenn es Richtung fünf Prozent Wachstum geht, ist das unserer Meinung nach gesund und solide. Wir versuchen hier, pauschale Sorgen und faktische Markttrends analytisch zu trennen.
Die Stimmung ist trüber als die Lage?
Die Sorgen sind aus unserer Sicht für das Geschäft in China etwas übertrieben. Im Automobilmarkt sehen wir in China seit dem Herbst wieder Wachstum. Das dürfte sich fortsetzen. Das ist wichtig für unsere Komponentensparte, die rund 14 Prozent des Umsatzes in China erzielt. Auch im Bereich Windkraft läuft es gut. Anders sieht es etwa bei Baumaschinen aus, hier spüren wir die deutliche Schwäche der Branche. Am meisten Sorgen macht uns, wie schon gesagt, der Stahlexport aus China nach Europa.
Die Automobilbranche bringt knapp ein Viertel des Konzernumsatzes. Wie sind Ihre Markterwartungen für 2016?
Ich rechne damit, dass sich der Automarkt weiter gut entwickelt. Nicht nur in China. Vor allem in den USA läuft das Geschäft robust. Wir erwarten aber auch in Europa ein leichtes Wachstum. Das Geschäft ist überdies besser planbar, weil unsere Kunden ihre Modellplattformen über Jahre entwickeln. Wir bauen unsere Werke erst, wenn wir wissen, dass wir entsprechende Aufträge haben. Im letzten Jahr haben wir lang laufende Aufträge in der Größenordnung von mehreren Milliarden Euro gewonnen. Die Komponentensparte hat so bereits über 60 Prozent des geplanten Volumens im Jahr 2020 durch Aufträge abgesichert.
Bleibt der Anlagenbau das Sorgenkind?
Unsere Kunden kommen hier aus rohstoffnahen Märkten, sie bestellen Zement-, Düngemittel- oder Förderanlagen. Das Geschäft ist wegen der extrem niedrigen Rohstoffpreise schwach und aufgrund der Projektstruktur sehr volatil. Im vergangenen Jahr lagen wir hier beim Auftragseingang eine Milliarde Euro unter Vorjahr, und es flossen 600 Millionen Euro Cashflow ab. Laut Projektliste haben wir für 2016 Chancen, den Auftragseingang gegenüber dem Vorjahr zu verbessern, und müssten den Umsatz zumindest auf Vorjahresniveau halten können.
Die Aufzugsparte lieferte zuletzt beinahe die Hälfte des Gewinns. Wettbewerber wie Kone oder Schindler bringen es auf beachtliche Börsenbewertungen. Denken Sie gelegentlich über einen Börsengang nach?
Wir schließen einen Börsengang aus. Wir wollen das Wertsteigerungspotenzial dieses stabilen Geschäfts für thyssenkrupp heben. Die Gewinnmarge werden wir von elf auf 15 Prozent steigern und damit mehr als eine Milliarde Ergebnis und Mittelzufluss liefern. Die Mannschaft hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, die Profitabilität jedes Jahr um 0,5 bis 0,7 Prozentpunkte zu steigern. Vor allem würden wir aber durch einen Börsengang die Kontrolle über den stärksten und stabilsten Cashbringer im Konzern abgeben. Das ist nicht sinnvoll.
Viele Mischkonzerne konzentrieren sich, spalten Teile ab - Ihr Ex-Arbeitgeber Siemens etwa, oder GE. Warum halten Sie an dieser Struktur fest?
"Mischkonzern" trifft für thyssenkrupp nicht zu, unsere Struktur ist nicht beliebig zusammengewürfelt. Wir sind ein diversifizierter Industriekonzern, der integriert geführt wird. Das verschafft uns Vorteile, die die Geschäfte allein nicht hätten. Warum sind wir als integriert geführtes Unternehmen in der Lage, 2,7 Milliarden Euro an Einsparungen zu erzielen? Weil wir etwa den Einkauf gebündelt haben. Daraus stammt die Hälfte dieser Einsparungen. Diese Verbesserungen hatten wir in der Vergangenheit, in der die Einheiten selbstständig agiert haben, nicht. Wir stehen zu der integrierten Führung des Konzerns in dieser Struktur, weil wir die positive Wirkung sehen und von dem Potenzial in der Zukunft überzeugt sind.
Wo sehen Sie sonst Synergien?
Bei Innovationen etwa. Wir forschen bereichsübergreifend. Daraus entstehen echte Technologiesprünge wie unser seilloser Aufzug Multi. Bei der Entwicklung haben vier Geschäftsbereiche ihr Wissen gebündelt. Oder nehmen Sie das Thema der Digitalisierung. In der alten Organisationsform hatten die Einheiten nicht den Mut und die Ressourcen, sich den Herausforderungen der digitalen Transformation zu stellen. Wir bauen jetzt weltweit leistungsfähige IT-Strukturen auf, harmonisieren und automatisieren unsere Prozesse. Das ist die Voraussetzung, damit wir die enormen Datenmengen der Industrie 4.0 verarbeiten können.
Solche Themen kann doch auch ein fokussiertes Unternehmen angehen?
Sie brauchen hier eine kritische Masse an Ressourcen, Kompetenzen, Managementkapazitäten. Wir stellen fest, dass wir hier viel schneller vorankommen, wenn wir das gemeinsam angehen statt wie früher aus den Sparten heraus.
Die Dividende ist noch recht bescheiden. Wann wird sie attraktiver?
Die Ausschüttungsfähigkeit ist für uns ein wichtiger Parameter. Die Verbesserung unseres Jahresüberschusses im vergangenen Jahr geben wir deshalb mit der erhöhten Dividende an unsere Aktionäre weiter. Sicher können wir uns mit dem aktuellen Niveau auf Dauer nicht zufriedengeben. Das Niveau berücksichtigt aber auch, dass wir unsere Bilanz weiter stärken.
Investor-Info
Der Konzern
Einzigartige Legierung
thyssenkrupp besteht aus zwei Teilen: dem Stahlbereich, der auch den Materialhandel umfasst und etwa 55 Prozent zum Umsatz beisteuert, sowie den Industriegütersparten, also Anlagenbau, Komponenten und Aufzugsparte. Der mit Abstand größte Gewinnbringer ist die Aufzugsparte, die im Geschäftsjahr 2014/15 (Ende September) mit knapp 800 Millionen Euro fast die Hälfte des operativen Konzerngewinns von insgesamt knapp 1,7 Milliarden Euro lieferte. Der europäische Stahlbereich erreichte zuletzt mit knapp 500 Millionen Euro Vorsteuergewinn eine deutliche Ergebnissteigerung. Das Stahlwerk in Brasilien schreibt weiterhin Verluste.
Die Aktie
Heißer Zykliker
Die Aktie ist eine der volatilsten im DAX. Das liegt vor allem am Stahlgeschäft, das stark von der Konjunkturentwicklung beeinflusst wird und große Ergebnisschwankungen aufweist. Im Vergleich zu anderen Stahlherstellern wie ArcelorMittal hat sich die Aktie zuletzt gut gehalten - Grund ist der Einfluss der stabileren Industriegütersparten. Die Konzernprognose geht von einem Gewinnplus von bis zu 13 Prozent im laufenden Geschäftsjahr aus. Angemessen bewertet.Ausgewählte Hebelprodukte auf thyssenkrupp
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