Interview

Nahost-Experte Sons: Die Muslimbrüder sind nicht die einzige Oppositionskraft

09.02.11 15:00 Uhr

Im Nahen Osten brennt es in der politischen Landschaft gewaltig. Die Redaktion von Euro am Sonntag sprach mit Sebastian Sons, dem wissenschaftlichen Abteilungsleiter des Deutschen Orient-Instituts über die Hintergründe der Volksaufstände.

Erst Tunesien, jetzt Ägypten. Wie kommt es zu der Protestbewegung und warum tritt sie gerade jetzt auf?
Die Proteste haben mehrere Ursachen. Zum einen stehen die meisten Menschen in Tunesien und Ägypten unter einem enormen wirtschaftlichen Druck. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Bevölkerung wächst. Viele sind gut ausgebildet, finden aber keine Arbeit. Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind die Folge. Die Menschen zeigen sich weitgehend enttäuscht von ihren Regierungen, die für ungerechte Verteilung der Ressourcen bekannt sind. Die Herrscher werden als korrupt wahrgenommen und weite Teile der Gesellschaft fühlen sich im Stich gelassen. So vermischen sich wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und politische Unzufriedenheit. Dahinter steht der Wunsch, sein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können und nicht von den Patronagenetzwerken der Herrschenden abhängig sein zu müssen. Der Zeitpunkt mag eher zufällig erscheinen. Die Selbstverbrennung des jungen Tunesiers Mohammed Buazizi hatte offenbar eine aufrüttelnde Wirkung auf viele Tunesier. Sie sahen in ihm jemanden von ihnen, der so verzweifelt war, dass er keinen anderen Ausweg sah. Seine finale Tat wirkte als Zündschnur für einen schwelenden Konflikt, der bereits seit Jahren existiert und nun entflammte.

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Wer steckt hinter der Protestbewegung?
Wir erleben hier eine Protestbewegung aus allen gesellschaftlichen Schichten. Dabei wird die Bewegung von der Jugend getragen. Etwa 60% der Bevölkerung in Ägypten und Tunesien sind unter 20 Jahre. Aber: Sie demonstrieren mit älteren Generationen, Armen und Reichen, Frauen und Männern. Offenbar spielt der Bildungsstand keine Rolle. Universitätsprofessoren, Intellektuelle und Teile der gehobenen Mittelschicht gehen ebenso auf die Straße wie Bauern oder Arbeiter. Es scheint, als haben die Ereignisse in Tunesien als Ventil gewirkt, sodass die große Mehrheit der Bevölkerung aufbegehrt und Kritik äußert.

Was sind die Gemeinsamkeiten/Unterschiede der Proteste in Ägypten und in Tunesien?
Augenscheinlich sind ähnliche Forderungen und der große Rückhalt bei der Bevölkerung. Ägypter wie Tunesier wollen eine Zukunft, sie möchten ihr Leben selbst bestimmen dürfen und das meinen sie, nur ohne die alte Regierung schaffen zu können. Wie in Tunesien tut sich auch in Ägypten eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen protegierter Entourage des Herrschers und weiten Teilen der Gesellschaft, auf. Das erzeugt Wut und mittlerweile offene Kritik. Eine wichtige Rolle spielen auch soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook. Unterschiede kann man sicherlich in der sozialen Zusammensetzung der Protestbewegungen ausmachen. Das Bildungsniveau ist in Tunesien höher, hinzu kommt auch die Rolle des Militärs, welches sich in Tunesien auf die Seite der Protestbewegung gestellt hat. Diese eindeutige Parteinahme sehe ich in Ägypten bisher noch nicht.

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Kann sich Tunesien und Ägypten jetzt nachhaltig politisch, wirtschaftlich und sozial verändern?
Es bleibt abzuwarten, welche mittel- und langfristigen Folgen die Proteste haben werden. Mir erscheint es unwahrscheinlich, dass nach einer eventuellen Phase der Unruhe unter veränderten Vorzeichen ähnliche politische Zustände wie in den letzten Jahrzehnten wieder einkehren werden. Die Leute wollen den Wandel, sie wollen ernst genommen werden. Und jeder, der politische Verantwortung übernimmt, wird dem gewiss Rechnung tragen müssen. Wirtschaftlich verfügen beide Länder über hervorragende Potenziale, über enorme Chancen, wenn Reformen implementiert, Arbeitsplätze geschaffen und das Bildungssystem verbessert werden. Dann ist diese junge Gesellschaft nicht unbedingt eine Last, sondern auch ein Versprechen auf die Zukunft.

Wenn ja, gewinnt die Region an Stabilität oder wird sie instabiler?
Für Europa und die USA war die Nahostpolitik immer geprägt von dem Streben nach Stabilität. Es besteht die Möglichkeit, dass sich die Region durch den Sturz langjähriger Regierungen umorientiert. Alte Strukturen brechen weg, neue müssen erst entstehen. Das kann zu einem vorübergehenden Machtvakuum führen. Allerdings: Dynamik und Stabilität schließen sich meiner Meinung nach nicht zwingend aus.

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Stichwort Muslimbrüder. In Israel scheint die Sorge groß zu sein, dass Ägypten zum „Gottesstaat“ werden könnte. Wie realistisch ist dieses Szenario?
Die Muslimbrüder sind zwar in Ägypten verboten, aber sie partizipieren und engagieren sich trotzdem in der Politik und in sozialen Bereichen und sind eine anerkannte und ernst zu nehmende politische Kraft. Der Gewalt haben sie abgeschworen und bisher spielen sie keine überragende Rolle bei den Protesten. Etwas über die Israelpolitik der Muslimbrüder zu sagen, ist derzeit spekulativ. Außerdem sind die Muslimbrüder zwar eine wichtige Oppositionskraft, aber wahrlich nicht die einzige.

Denken Sie, Mubarak kann wirklich noch bis September im Amt bleiben?
Seine Ankündigung, nicht mehr für die kommenden Präsidentschaftswahlen im Herbst zu kandidieren, hat die Opposition offenbar nicht beruhigen können. Mubarak stand bereits bisher unter Druck wie noch nie zuvor in seinen 30 Jahren Regierungszeit. Dieser Druck nimmt jetzt noch zu – auch von Seiten der USA. Er ist alt und krank, sein Vorhaben, Sohn Gamal als Nachfolger aufzubauen, scheint gescheitert. Viel hängt von der Armee ab. Mubarak hat einen militärischen Hintergrund, die meisten Mitglieder seines neuen Kabinetts ebenso, wie beispielsweise der neue Vizepräsident und Ex-Geheimdienstchef Omar Suleiman. Sollte die Armee Mubarak die Unterstützung entziehen, hätte er kaum noch Fürsprecher und dann könnte die Ära Mubarak bereits vor September zu Ende gehen.

Haben Europäer und Amerikaner in der Vergangenheit falsch gehandelt in dem sie Autokraten im nahen Osten unterstützt haben?
Stabilität in einer sehr krisenbehafteten Region war für Europa und die USA in der Vergangenheit ein wesentliches Kriterium. Dafür stützten sie Regierungen, die ihnen diese Stabilität versprachen. Nun steht diese Politik auf dem Prüfstand und es müssen neue Strategien und Konzeptionen entworfen und umgesetzt werden, bei denen neue Akteure eine wichtigere Rolle spielen könnten als bisher. Hier sollte Stabilität nicht mit Starrheit verwechselt werden.

Wie sollte sich die Europäische Politik jetzt verhalten?
Es steht mir nicht zu, als Berater der europäischen Politik zu fungieren. Wichtig wäre meiner Meinung nach, gelassen zu bleiben und auch die zivilgesellschaftliche Bewegung sowie die Versuche, mit friedlichen Mitteln Veränderungen umzusetzen, gutzuheißen. Die arabische Welt ist sehr dynamisch, sehr agil und es ist begrüßenswert, dass dies jetzt im Westen wahrgenommen wird. Die direkte Beeinflussung von oppositionellen Strömungen wäre sicher nicht hilfreich, da sonst die Protestbewegung als „Instrument des Westens“ diskreditiert werden könnte. Um langfristige Stabilität zu erreichen, muss die EU wirtschaftliche und politische Öffnung und Transformation unterstützen.

In Indien gibt es ebenfalls Massenproteste. Teile der arabischen Halbinsel und afrikanische Staaten wie beispielsweise Nigeria gelten ebenfalls als potenzielle Umsturzregionen. Droht ein Flächenbrand?
Auch hier möchte ich nicht spekulieren. Indien oder Nigeria können nicht miteinander verglichen werden. Ich glaube aber, dass die ganze Region unter mannigfaltigen Problemen zu leiden hat, die sich nicht schnell lösen lassen. Sie müssen aber gelöst werden, wenn die Regierungen die Unterstützung ihrer Gesellschaften behalten oder neu aufbauen möchten. Dazu gehören die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Demokratisierung, eine Diversifizierung der Wirtschaft, mehr individuelle Freiheit und die Bekämpfung von Korruption – um nur einige Punkte zu nennen. Wichtig ist hierbei auch Vertrauen: Wenn die Bevölkerung ihrem Herrscher nicht mehr vertrauen kann, wird es schwierig. Mir scheint, als sei dieses Vertrauen in einigen Ländern wie Jemen bereits lange nachhaltig gestört.

Welche Länder könnten als nächstes von der Protestwelle ergriffen werden – und warum?
Wir beobachten in Jordanien und Jemen bereits Demonstrationen. Der jordanische König Abdullah II. hat die Regierung aufgelöst, Jemens Präsident Salih angekündigt, nicht mehr kandidieren zu wollen. Vor allem im Jemen herrschen sehr schwierige Verhältnisse. Die Gesellschaft ist in Stämmen organisiert, Noch-Präsident Salih kämpft um Einfluss und Kontrolle. Er kann kaum noch Ressourcen verteilen und sein Patronagenetzwerk bricht ihm weg. Hinzu kommen Separationsbewegungen im Süden, politische Aufstände im Norden durch die Huthis und die Gefahr von al-Qaida, die im Jemen einen „sicheren Hafen“ gefunden hat – obwohl sie von der Bevölkerung kaum unterstützt wird. Daneben ist der Jemen das ärmste Land auf der arabischen Halbinsel, leidet unter gravierender Wasserarmut und hoher Arbeitslosigkeit. In Jordanien finden wir wieder ganz andere Voraussetzungen vor, aber auch hier regt sich Kritik in der Gesellschaft. Allerdings steht hier der relativ junge König Abdullah II. noch außerhalb der Kritik.
Dahingegen glaube ich nicht, dass in den ölreichen Golfstaaten wie z. B. Saudi-Arabien in naher Zukunft Umsturzversuche stattfinden könnten. Ähnliches gilt auch für Algerien und Libyen. Das liegt auch am Öl, mit dessen Einnahmen Oppositionelle gekauft werden können, an der sehr hierarchisch und tribal ausgerichteten Gesellschaft, was einen geeinten Protest unwahrscheinlich werden lässt, und an dem niedrigeren Bildungsniveau.
Interessant wird auch die Entwicklung im Libanon werden, der durch seine ethnische und konfessionelle Heterogenität und sein besonderes politisches System schon immer eine Sonderrolle im Nahen Osten gespielt hat. Hier bleibt vor allem abzuwarten, wie die Hisbollah zukünftig agieren wird.

Wie stehen die Chancen, dass in diesen Ländern ein Umsturz erfolgreich verläuft?
Neben einem möglichen Sturz der jeweiligen Regierung müssen auch immer die Zukunftsperspektiven, die Alternativen berücksichtigt werden. Welche Ziele haben die Oppositionen? Welche Visionen? Hier gibt es in jedem Land unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte. Es wird umso wichtiger werden, welche Lösungsansätze für die Ära nach dem Regime bestehen. Hier braucht es ein Konzept, eine Strategie und eine funktionierende Organisation. Je geeinter und solidarischer die verschiedenen Oppositionsgruppen gegen eine Regierung vorgehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für einen Umsturz. Hier jedoch für den Einzelfall Prognosen abzugeben, ist in der arabischen Welt kaum möglich – wie die Ereignisse in Tunesien eindrucksvoll gezeigt haben. Trotzdem: Die arabischen Regierungen müssen die Probleme der Leute angehen, sonst könnte einigen Herrschern ein ähnliches Schicksal drohen wie Ben Ali.