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Dirk Müller: Die Gefahr eines Schocks an den Aktienmärkten bleibt hoch

09.06.20 23:00 Uhr

Dirk Müller: Die Gefahr eines Schocks an den Aktienmärkten bleibt hoch | finanzen.net

Mr. DAX spricht im Interview über die Crashgefahren an den Aktienmärkten, Deflationsängste und Gold als Krisenschutz.

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Von Benjamin Summa

Herr Müller, die Turbulenzen an den Börsen waren in den vergangenen Monaten atemberaubend. Zwischen Mitte Februar und Mitte März hat der DAX beispielsweise bis zu 40 Prozent verloren - und seither wieder ordentlich zugelegt. In den USA und an vielen anderen Börsen zeigte sich ein ähnliches Bild. Warum ist das so?
Dirk Müller: Das, was wir momentan an den Börsen sehen, hat sich vollkommen losgelöst von der Realwirtschaft. Diese Situation können wir schon seit einigen Jahren beobachten, jetzt hat es jedoch extreme Züge angenommen. Privatanleger decken sich massiv am Aktienmarkt ein, weil ihnen jede Alternative fehlt und auch weil die Angst vor einer heftigen Inflation stark verbreitet ist. Ich kann diese Kursrally mit realwirtschaftlichen Gründen nicht nachvollziehen, denn wir befinden uns mitten in einer Jahrhundertkrise, deren konkrete Folgen für die Weltwirtschaft noch gar nicht absehbar sind. Dazu kommen die gesellschaftlichen Verwerfungen in den USA. Und was machen die Börsen? Sie notieren wieder nahe ihrer Allzeithochs. Die Börse ist derzeit eher ein in sich geschlossenes Casino.

Was erwarten Sie: Bleiben die Börsen auf einem Pfad der Erholung oder geht es wieder tief in den Kurskeller?
Die Gegenbewegung an den Aktienmärkten nach dem Crash im März ist tatsächlich stärker ausgefallen, als ich sie erwartet habe. Meines Erachtens befinden wir uns jetzt im Auge des Hurrikans. Wir sehen bislang einen ruhigen Frühsommer. Aber ab Herbst wird man das ganze Ausmaß des wirtschaftlichen Flurschadens sehen. Zudem ist das Risiko einer zweiten Corona-Welle durchaus hoch. Das liegt weniger am Virus als an den Messmethoden. Es wird schwer werden, im Herbst zwischen Erkältung und Virus zu unterscheiden, nachdem über den Sommer eine große Durchseuchung der Bevölkerung stattgefunden hat. Was passiert, wenn es wieder einen Lockdown geben wird? Die Krise, die aus einem erneuten Anhalten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens entstünde, würde das, was wir bisher gesehen haben, deutlich in den Schatten stellen. Zudem wäre die Akzeptanz in der Bevölkerung für einen zweiten Lockdown auch nicht mehr so ausgeprägt. Viele, die jetzt kurzarbeiten, sind womöglich bald konkret von Arbeitslosigkeit bedroht. Die Gefahr eines richtigen Schocks an den Aktienmärkten schätze ich vor diesem Hintergrund als hoch ein.

Wie sind Sie mit Ihrem eigenen Fonds bisher durch die Krise gekommen?
Wir waren mit unserem Fonds von Anfang an nach unten abgesichert und sind damit sehr gut durch die Krise gekommen. Den Einbruch konnten wir komplett verhindern und die Gegenbewegung nach oben haben wir verpasst. Aber dafür gibt es gute Gründe. Wie gesagt: Ich gehe davon aus, dass uns das eigentliche Drama an den Aktienmärkten noch bevorsteht. Die Zuflüsse in unseren Fonds sind nach wie vor stark, derzeit haben wir ein Fondsvolumen von 600 Millionen Euro. Viele Anleger folgen uns also bei unserer Analyse der Krise und unserer Antwort auf diese Krise.

Die Corona-Pandemie hat die Welt möglichweise an einen Scheideweg katapultiert. Wie könnte ein Neustart nach der Überwindung der Krise aussehen?
Die Welt wird aus meiner Sicht nach dieser Krise eine komplett andere sein. Manche Soziologen sprechen ja schon von einer weltgeschichtlichen Zäsur. Das Weltwirtschaftsforum hat dieser Tage digital getagt. Das Thema war "The Great Reset". Man sieht die Corona-Pandemie als Möglichkeit für eine nachhaltigere Zukunft - die Krise als Chance sozusagen. Davon betroffen sind die Art, wie wir leben, und vor allem die Gestaltung der Weltwirtschaft. Die Entscheidung der Bundesregierung, bestehende Prämien für den Kauf von Elektrofahrzeugen zu verdoppeln, Autos mit Verbrennungsmotor jedoch nicht, weist genau in diese Richtung. Im Jahr 2015 hat die Weltgemeinschaft die Agenda 2030 verabschiedet. Man könnte diese Agenda als Fahrplan für die Zukunft bezeichnen. Das große Ziel: weltweit eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen.

Experten sind sich uneinig, welche langfristigen Folgen die Corona-Pandemie haben wird, auch in Bezug auf die Entwicklung der Preise. Was spricht Ihrer Einschätzung nach für eine Inflation und was für eine Deflation?
Meine Erwartung ist, dass wir bis Herbst einen deflationären Schock sehen werden. Das hat sich im Frühjahr bereits angekündigt durch den Einbruch der Ölpreise. Jetzt ist aufgrund der Corona-Krise die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen stark zurückgegangen. In vielen Teilen der Welt ist ein wahrer Nachfrage-Schock zu beobachten. In dieser Gemengelage erwarte ich zunächst einen deutlichen Rückgang der Verbraucherpreise (Sonderangebote durch Notverkäufe) und einen massiven Einbruch an den Aktien-, Edelmetall- und Immobilienmärkten. Die Notenbanken werden dann die Schleusen noch weiter aufmachen. Und anschließend kommt dann ein Kipppunkt, an dem sich alles dramatisch dreht. Wenn die Wirtschaft den Boden findet und wieder langsam in den normalen Modus schaltet, dann werden wir starke inflationäre Tendenzen sehen. Denn extrem viel neues und extrem viel altes Geld treffen dann auf anfangs noch relativ wenige Waren und Dienstleistungen.

Die Wirtschaft der Eurozone könnte laut der EU-Frühjahrsprognose wegen der Corona-Krise dieses Jahr um 7,7 Prozent schrumpfen und sich auch im nächsten Jahr nicht vollständig erholen. Auch Fed-Chef Jerome Powell warnte kürzlich vor einer langwierigen Wirtschaftsschwäche in den Vereinigten Staaten. Wie ist Ihre Lesart hinsichtlich der künftigen Entwicklung der globalen Wirtschaft?
Keine Frage, in den kommenden zwölf bis 24 Monaten werden wir dramatische wirtschaftliche Konsequenzen sehen mit einem starken Anstieg der Arbeitslosenzahlen. Danach wird es aber meiner Ansicht nach sehr viel Unterstützung für das wirtschaftliche Wachstum geben, weil dann Wirtschaftszweige im Sinn der nachhaltigen Agenda 2030 stark gefördert werden. "Shared Economy", Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Renaturierung, Öko-Tourismus, erneuerbare Energien sind die Stichworte dieses sogenannten "Green Growth". Hier werden neue Arbeitsplätze geschaffen - und in den alten Industrien werden Arbeitsplätze sukzessive verschwinden.

Wo sehen Sie Deutschland bei diesem Umbau positioniert?
Deutschland steht meiner Einschätzung nach leider ganz schlecht da. Unsere Kernindustrie ist seit Jahrzehnten die Automobilindustrie. Diese hat es aber nicht geschafft, rechtzeitig auf erneuerbare Energien umzustellen. Die Autowirtschaft lebt von ihren alten Produkten; diese Welt muss deswegen aufrechterhalten werden. Hier sind milliardenschwere Investitionen gebunden und hier sitzt auch das Know-how. Die deutschen Autokonzerne können sich nicht sicher sein, ob sie von den neuen Produkten ähnlich gut leben können. Das große Problem ist auch, dass an der Automobilindustrie andere deutsche Kernindustrien mit Millionen von Arbeitsplätzen hängen wie etwa die Chemiewirtschaft und der Maschinenbau. Die deutschen Hersteller werden von der jetzt beschlossenen Prämie für Elektroautos nicht großartig profitieren, da sie zu wenige Modelle im Angebot haben. Dieses Geld fließt an Tesla und ausländische Hersteller. Deutschland hat auch im Hinblick auf die angesprochene Agenda 2030 wenig beizutragen. Die deutsche Wirtschaft lebt davon, anfassbare Dinge herzustellen. Die künftige Welt findet jedoch weitestgehend digital statt.

Gold hat in Dollar und Euro stark zulegen können. Welche Funktion messen Sie dem Edelmetall angesichts der Corona-Krise bei?
Gold war immer schon ein Safe-haven-Investment, auch in der aktuellen Krise. Es gehört als Vermögensversicherung in jedes Portfolio. Künftig wird es auch seine Rolle als Inflationsschutz ausspielen können.

Disclaimer: Der Autor, Benjamin Summa, ist freier Mitarbeiter bei finanzen.net. Er interviewt regelmäßig Finanzexperten zu aktuellen Themen.








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Bildquellen: Dirk Müller

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