Nach durchwachsener Europawahl: Brüsseler Personalpoker beginnt
Nach ihrem Fiasko bei der Europawahl haben Union und SPD über Konsequenzen beraten.
Bei der SPD forderten Vertreter des linken Parteiflügels einen Kurswechsel, zugleich warnten führende Sozialdemokraten vor Personaldebatten. Am Montagvormittag kamen die Parteigremien von Union und SPD in Berlin und München zusammen, am Nachmittag sollten sich dann die Koalitionsspitzen treffen. Nach Angaben der Bundesregierung soll es vorerst keine größere Kabinettsumbildung geben - außer dem vorgesehenen Wechsel im Justizressort, wo Ministerin Katarina Barley, die SPD-Spitzenkandidatin, ins Europaparlament wechselt.
Auch in Brüssel beginnen nach der durchwachsenen Wahl mit Zugewinnen rechter Nationalisten Gespräche. Die EU-freundlichen Parteien loten aus, wer die Europäische Union künftig führen soll und mit welchem Programm. Als Chef der stärksten Fraktion im künftigen Europaparlament lud EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber Grüne, Sozialdemokraten und Liberale für Montag zum Gespräch. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron sondierte, bevor ein EU-Sondergipfel am Dienstag erste Pflöcke einschlagen könnte.
Union und SPD hatten am Sonntag bei der Europawahl in Deutschland historisch schlecht abgeschnitten. Trotzdem blieben CDU und CSU zusammen stärkste Kraft (28,9 Prozent). Die Sozialdemokraten dagegen verloren zweistellig und rutschten mit 15,8 Prozent auf den dritten Platz. Für die SPD, die von den Grünen von Platz zwei verdrängt wurde, kommt hinzu, dass sie bei der zeitgleichen Landtagswahl in Bremen ein Fiasko erlitt und dort erstmals seit mehr als 70 Jahren hinter der CDU landete. Die Ergebnisse könnten Gegnern der großen Koalition innerhalb der SPD Aufwind geben und somit die Stabilität des schwarz-roten Regierungsbündnisses in Berlin stark belasten.
Die Grünen legten auf 20,5 Prozent zu - fast zehn Punkte mehr als bei der Europawahl vor fünf Jahren. Die AfD kommt auf 11,0 Prozent (2014: 7,1 Prozent). Die Linke liegt bei 5,5 Prozent (2014: 7,4 Prozent), die FDP bei 5,4 Prozent (2014: 3,4 Prozent). Von den anderen Parteien erzielten nur die Freien Wähler und die Satirepartei Die Partei mehr als 2 Prozent.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) stärkte der angeschlagenen SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles den Rücken. Nahles solle auch nach den schweren Niederlagen in ihren Ämtern bleiben, sagte Weil am Montag dem Sender Phoenix. "Sie ist es, sie bleibt es. Und sie soll es auch bleiben." Der Absturz der SPD hatte Spekulationen Auftrieb gegeben, dass Nahles zur Aufgabe des Fraktionsvorsitzes gedrängt werden könnte.
SPD-Vize Ralf Stegner sagte, von Personalquerelen halte er sehr wenig. "Das schadet uns in jedem Fall." Drei Vertreter des linken Parteiflügels forderten einen Kurswechsel. "Wir bekennen uns (...) ohne Wenn und Aber zum Ziel, in Zukunft ein progressives Bündnis links der Union anzuführen und dies in Wahlkämpfen auch zu vertreten", schrieben Stegner, Juso-Chef Kevin Kühnert und Fraktionsvize Matthias Miersch in einem Papier, das der Deutschen Presse-Agentur vorlag. Der "Spiegel" berichtete zuerst darüber.
Der Chef des Unions-Mittelstands, Carsten Linnemann (CDU), forderte tiefgreifende Konsequenzen aus dem miserablen Ergebnis seiner Partei. "Die Union ist dabei, den Status als Volkspartei zu verlieren. Es ist Alarmstufe Rot", sagte Linnemann, der auch stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag ist. Die CDU müsse endlich ihre inhaltliche Entkernung beenden und sich "wieder darauf konzentrieren und besinnen, wofür wir stehen und wofür wir nicht stehen". Bundesforschungsministerin Anja Karliczek rief die Union auf, der Klima- und Umweltpolitik mehr Gewicht zu geben.
Die Wahlen waren auch der erste Stimmungstest für CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer seit ihrem Amtsantritt im Dezember, Kanzlerin Angela Merkel hatte sich weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten. CSU-Chef Markus Söder stärkte Kramp-Karrenbauer demonstrativ den Rücken. "Ich schätze sie sehr, und wir arbeiten sehr gut zusammen. Man sollte ihr jetzt die Zeit geben, ihre Arbeit fortzusetzen."
Am Montagnachmittag wollten sich zunächst die Spitzenpolitiker der Union, Kanzlerin Merkel, CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer und der CSU-Vorsitzende Markus Söder, treffen. Wenig später sollen dann SPD-Chefin Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz hinzukommen.
Grünen-Parteichef Robert Habeck sagte, das Ergebnis seiner Partei sei ein "unglaublicher Vertrauensvorschuss". Er hält die Frage nach einer Kanzlerkandidatur seiner Partei trotz der Gewinne für überflüssig. Die Grünen hätten die Wahlen nicht gewonnen, um "um uns selbst zu kreisen", sagte Habeck. Am stärksten punktete die Partei bei jungen Wählern, aber nicht nur dort: Wie eine Erhebung von Infratest dimap für die ARD ergab, wurden sie bei den Unter-60-Jährigen mit 25 Prozent stärkste Kraft. In neun der zehn größten Städte sind die Grünen jeweils stärkste Kraft - mit teilweise deutlichem Abstand.
Die AfD konnte in Ostdeutschland starke Gewinne verbuchen. In Sachsen und Brandenburg wurde sie stärkste Kraft vor der CDU - das ist brisant, weil dort und in Thüringen im Herbst Landtagswahlen anstehen. AfD-Chef Alexander Gauland sagte: "Was man an dem Ergebnis sieht, ist leider eine Spaltung Deutschlands." Die Menschen in Dresden oder Cottbus seien "freiheitsliebend, dadurch sind wir in diesen Ländern jetzt sehr viel stärker", fügte er hinzu.
Auf europäischer Ebene geht es nun zuerst um die Frage: Wer wird Präsident der Europäischen Kommission? Der CSU-Politiker Manfred Weber wurde mit seiner Europäischen Volkspartei (EVP) bei der Wahl am Sonntag wieder stärkste Kraft und erhebt deshalb Anspruch auf den Posten. Doch erlitt die christdemokratische Parteienfamilie fast so starke Verluste wie die sozialdemokratische S+D. Erstmals haben die beiden ehemaligen Volksparteien gemeinsam keine Mehrheit mehr im EU-Parlament. Zuwächse verzeichnen hingegen Liberale und Grüne, die sich wie die geschrumpften Linken als mögliche Partner anbieten.
Doch machten vor allem die Grünen sofort deutlich, dass sie inhaltliche Forderungen stellen, vor allem ein klares Programm für mehr Klimaschutz. Grünen-Spitzenkandidat Sven Giegold stellte im Bayerischen Rundfunk klar, dass Weber noch nicht als künftiger Kommissionschef feststeht. Ansprüche erheben auch der Sozialdemokrat Frans Timmermans und die Liberale Margrethe Vestager.
Die großen Fraktionen im Europaparlament sind sich weitgehend einig, dass nur einer ihrer Spitzenkandidaten Kommissionschef werden kann. Anders Frankreichs Präsident Macron: Er will bei der Auswahl freie Hand für die Staats- und Regierungschefs. Noch am Sonntagabend tauschte sich Macron nach Angaben aus Élysée-Kreisen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel aus. Für Dienstagabend ist in Brüssel ein EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs angesetzt. Die Fraktionschefs im EU-Parlament wollen ihrerseits am Dienstagmorgen möglichst eine gemeinsame Position verabreden. Es könnte auf ein Machtgerangel zwischen dem Rat und dem Parlament hinauslaufen.
/sku/DP/stw
BERLIN/BRÜSSEL (dpa-AFX)
Weitere News
Bildquellen: rawf8 / Shutterstock.com, Symbiot / Shutterstock.com