Michel Barnier: Großbritanniens Angstgegner
Nach dem verkündeten EU-Austritt Großbritanniens müssen nun die Scheidungsmodalitäten geklärt werden. Die EU-Seite vertritt dabei der Franzose Barnier, den die Briten in unguter Erinnerung haben.
Werte in diesem Artikel
von Eva Mackensen, €uro am Sonntag
Der Franzose Michel Barnier ist für viele Briten das, was man im Sport einen Angstgegner nennt. Sie haben schon einmal schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht. In wenigen Wochen müssen sie wieder gegen ihn antreten. Nicht auf dem Spielfeld, sondern in Brüsseler Sitzungssälen und Hinterzimmern.
Zwei Jahre lang wird eine Delegation der britischen Regierung mit dem Chefunterhändler der EU-Kommission über den Austritt des Landes aus der Europäischen Union verhandeln. Es wird um den europäischen Binnenmarkt, die EU-Außengrenzen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit und weitere Streitpunkte gehen. Nicht nur für Großbritannien, auch für die Europäische Union steht viel auf dem Spiel. Wer ist der Mann, der die EU in den Brexit-Verhandlungen auf Erfolgskurs bringen soll?
Dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im vergangenen Sommer ausgerechnet den 65-Jährigen zum Brexit-Chefunterhändler ernannte, passt gut zu einer Karriere, in der sich vieles gegen alle Wahrscheinlichkeit entwickelte. Barnier, 1951 in der Nähe von Grenoble geboren, galt in der französischen Politik lange als Außenseiter. Weil er aus den Bergen kam und keine der Elitehochschulen besucht hatte, aus denen der französische Politikbetrieb seinen Nachwuchs rekrutiert, wurde er in Paris als "Skilehrer" verspottet. Schon damals gelang es ihm, aus dem Nachteil Gewinn zu ziehen. Als Präsident des Departementsrats von Savoie sicherte er Frankreich den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele, die 1992 in Albertville stattfanden.
Diskret, effizient, zuverlässig
Mit diesem Coup begann Barniers leiser, aber unaufhaltsamer Aufstieg in einige der höchsten Ämter in Frankreich und der EU. Im Lauf seiner langen Karriere war er unter anderem französischer Außenminister und Vizepräsident der EU-Kommission. Trotz der prestigeträchtigen Positionen, die er innehatte, steht Barnier bis heute nur selten im Fokus der Öffentlichkeit. Er gehört nicht zu jenem Typ Politiker, der die Aufmerksamkeit der Medien sucht.
Sein diskretes Auftreten nach außen täuscht darüber hinweg, dass er hinter den Kulissen auch heikle Aufgaben effizient und äußerst zuverlässig erledigt. In Paris und Brüssel gilt er als hart arbeitender Pragmatiker, der in der Lage ist, sich schnell in die verschiedensten Themenfelder einzuarbeiten. Und der zu Hochform aufläuft, wenn es schwierig wird. Auf EU-Ebene arbeitete er bereits mehrmals komplexe Verträge mit aus, etwa den Vertrag von Amsterdam und die Europäische Verfassung.
Seine skandalfreie Karriere und die Sachkenntnis, mit der Barnier sich in Bereichen wie der Sicherheits-, Wirtschafts- oder Umweltpolitik bewegt, brachten ihm den Respekt auch seiner politischen Gegner ein. In seiner neuen Rolle untersteht er nun direkt Kommissionspräsident Juncker. Ausschlaggebend für seine Ernennung dürfte auch eine Eigenschaft gewesen sein: Barnier ist ein zäher Verhandler, dem es gelingt, EU-Interessen durchzusetzen. Das hat er schon einmal bewiesen - und zwar ausgerechnet gegen Großbritannien.
Als EU-Kommissar für den Binnenmarkt war Barnier in den Jahren nach der Finanzkrise für die Regulierung des europäischen Finanzsektors zuständig. In der City of London, Europas größtem Finanzzentrum, hat er damals rigoros durchgegriffen und unter anderem die Boni der Banker gedeckelt. Seine Entschlossenheit demonstrierte er mit einer Excel-Tabelle, die er auf Pressekonferenzen in die Kameras hielt. In verschiedenen Farben hatte er darauf die Fortschritte der Regulierungsprozesse markiert. Hinter vorgehaltener Hand machten sich Journalisten über die bunte Tabelle lustig, Londons Finanzelite fürchtete sich. Sogar die britische Presse nahm den EU-Kommissar ernst. "Der gefährlichste Mann Europas", titelte die Zeitung "The Daily Telegraph".
Nachdem nun die britische Premierministerin Theresa May den Austrittsprozess auch formal in Gang gesetzt hat, könnte Barnier dem Land erneut gefährlich werden. So sehen es jedenfalls viele Briten. Zu verschieden sind Barniers und Mays politische Linien. Während May auf unbeschränkten Freihandel setzt, sieht sich Barnier, der dem neogaullistischen Flügel der französischen Republikaner angehört, als Verteidiger bürgerlicher Werte. Er ist davon überzeugt, dass sich Konzerne und Finanzinstitute an Spielregeln halten müssen, die die europäischen Regierungen und die EU-Kommission vorgeben.
Auch in den Brexit-Verhandlungen wird Barnier nicht auf Sonderwünsche der Briten eingehen. Das Signal, das Kommissionspräsident Juncker mit der Ernennung seines Chefunterhändlers nach London durchstellte, ist angekommen. May reagierte klug und stimmte die Briten selbst auf harte Verhandlungen ein, als sie in ihrer Grundsatzrede Mitte Januar einen "harten Brexit" ankündigte. Es werde in Bezug auf die Mitgliedschaft in der EU keine Kompromisslösung geben, die Großbritannien "teils drin, teils draußen" lasse.
Auf der Suche nach Verbündeten
Dass Großbritannien nun mutmaßlich den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlassen will, stellt auch den Chefunterhändler noch vor Beginn der Verhandlungen vor eine neue Situation. Die naheliegende Strategie, den Briten den Zugang zum EU-Binnenmarkt zu bieten und dafür Forderungen zu stellen, etwa die Freizügigkeit für EU-Arbeitnehmer, geht nicht mehr auf. Barniers Reaktion macht deutlich, dass er nicht nur die Rolle des regelversessenen Spielverderbers beherrscht, sondern auch die des flexiblen Spielgestalters.
In den vergangenen Wochen war der Franzose auf der Suche nach Verbündeten - und zwar ausgerechnet unter den Bankern in der City of London. Barnier hat erkannt, dass der Ausschluss des britischen Finanzzentrums aus der EU die finanzielle Stabilität der Union gefährden könnte. Und dass auch die in London ansässigen Banken und Finanzinstitute viel zu verlieren haben. Ihnen droht der Verlust der sogenannten Passporting-Rechte, einer Lizenz, mit der sie von London aus mit allen Ländern im Europäischen Wirtschaftsraum Geschäfte machen können.
Einem Insiderbericht aus dem Europäischen Parlament zufolge strebt Barnier ein Sonderabkommen mit Großbritannien an, das EU-Finanzinstitutionen auch nach dem Brexit den Zugang zur City of London sichert. Im Gegenzug könnte er den internationalen Finanzdienstleistern, die in der britischen Hauptstadt stationiert sind, einen beschränkten Zugang zum europäischen Binnenmarkt ermöglichen. Als der Plan an die Presse durchsickerte, twitterte der Franzose umgehend ein Dementi.
Viel spricht dafür, dass der Widerspruch vor allem Barniers Unbehagen geschuldet ist, vertrauliche Gespräche öffentlich zu kommentieren. Es könnte jedenfalls gut sein, dass London und Brüssel in den kommenden zwei Jahren einen Barnier erleben, der nicht auf die Einhaltung strenger Regeln pocht, sondern kompromissbereit auf die Briten zugeht. Der Franzose spielt schon lange genug in der Politik mit, um zu wissen: Man muss dem Gegner auch mal Raum lassen, um selbst zu gewinnen.
Kurzvita
Michel Barnier
Am 1. Oktober 2016 wurde Barnier von der EU-Kommission zum Chefunterhändler für die Austrittsverhandlungen mit Großbritannien bestimmt. Davor war er von 2004 bis 2005 französischer Außenminister, und von 2010 bis 2014 EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen. Barnier wurde 1951 in La Tronche bei Grenoble geboren. Er ist mit einer Anwältin verheiratet und hat drei Kinder.
Brexit-Fahrplan 2017
• Am 29. April stimmen die EU-Länder die Leitlinien für die
Austrittsverhandlungen mit Großbritannien ab
• Im Juni soll die EU-Kommission das Mandat für die offiziellen
Verhandlungen erhalten
• Bis Jahresende soll die erste Verhandlungsrunde über
Ausgleichszahlungen der Briten an die EU und die Rechte von britischen und EU-Bürgern abgeschlossen sein
Weitere News
Bildquellen: European Union/Mauro Bottaro