Vernachlässigt, aber gut

Medizintechnik: Weiter, größer, schneller, besser

22.11.14 11:00 Uhr

Medizintechnik: Weiter, größer, schneller, besser | finanzen.net

Die Medizintechnik-Branche steht oft im Schatten von Biotech und Pharma. Doch in diesem Jahr sorgt eine gigantische Übernahmewelle für attraktive Kursgewinne. Warum die positive Stimmung weiter anhält.

von Julia Groß, Euro am Sonntag

Markus Rehm springt von Rekord zu Rekord. 2012 holte er bei den Paralympics in London mit 7,35 Metern Gold im Weitsprung. 2013 reichte die Weite von 7,95 Metern für den 1. Platz bei den Weltmeisterschaften für Behinderte. Im Sommer dieses Jahres deklassierte er dann bei den Deutschen Meisterschaften mit einem Satz von 8,24 ­Meter sogar alle nicht behinderten Sportler.

Auch die Aktien von Össur, dem isländischen Hersteller von Rehms Unterschenkelprothese, zeigten sich sprungstark. Seit Jahresanfang stiegen sie um mehr als 50 Prozent. Der breit gestreute Index Dow Jones US Healthcare Equipment & Services legte im selben Zeitraum um 20 Prozent zu. Die gute Wertentwicklung stellt eine Branche ins Rampenlicht, die sonst oft im Schatten von Biotech und Pharma steht. Weit defensiver aufgestellt als die Medikamentenentwickler, punktet die Medizintechnik trotzdem mit Wachstum und Innovationen. Dank einer seit Monaten andauernden Übernahmewelle ist der Sektor an der Börse auf der Überholspur.

Ein Bremsmanöver ist dabei nicht in Sicht. Allein im Oktober wurden vier milliardenschwere Akquisitionen angekündigt, zuletzt Anfang des Monats der Kauf von Covance durch LabCorp für 4,9 Milliarden Euro. Das Niedrigzinsumfeld macht es den Unternehmen leicht, solche Summen zu stemmen. Während im Normalfall bei einer Übernahme in erster Linie der Aktienkurs des Kauf­objekts profitiert, gewinnen bei den aktuellen Medtech-Deals auffallend häufig beide Titel. Und das kräftig: Als sich beispielsweise Anfang Oktober die beiden Katheterproduzenten Becton Dickinson & Co. und Care­Fusion zusammenschlossen, kletterten die Aktien des Käufers Becton um 13 Prozent und die Papiere des Übernahmeziels CareFusion sogar um 27 Prozent.

Komplettlösungen gefragt
Hinter den Fusionen steckt ein branchenweites Streben nach Größe, nach dem Aufbau von Unternehmen, die eine Vielzahl von Lösungen für den Klinik- und Ärztealltag aus einer Hand bieten. "Hier passiert etwas Ähnliches wie in der Autozulieferindustrie vor 25 Jahren", sagt Stefan Blum, Portfoliomanager des BB-Medtech-Fonds. "Heute produzieren Autozulieferer nicht mehr Einzelteile, sondern größere, fertige Komponenten. Sie gehen dabei ein sehr enges Verhältnis mit den Autoherstellern ein, arbeiten etwa direkt in der Forschung und Entwicklung mit. Solche Komplettlösungen wollen auch Medizintechnikunternehmen bieten. Dazu muss man aber sehr groß und finanzstark sein."

Konkret bedeutet dies, dass ein Konzern wie Medtronic beispielsweise für ein Krankenhaus einen ganzen Operationssaal einrichtet, finanziert und einen Fixpreis für bestimmte Eingriffe garantiert - zum Beispiel für das Einsetzen eines Herzschrittmachers. Ähnliche Angebote sind für orthopädische Prozeduren oder die Behandlung von Diabetespatienten denkbar.

Getrieben wird diese Entwicklung vor allem in den USA durch die Einführung neuer Qualitätsanforderungen seitens der Kostenträger. Allen voran die staatlichen Versicherungen Medicare und Medicaid haben ihre Erstattungsmodelle für Kliniken vor einiger Zeit radikal umgestellt. Früher zahlten sie quasi für jeden Handgriff eine bestimmte Summe. Je häufiger ein Patient behandelt werden musste, desto mehr Umsatz war mit ihm zu erzielen. Jetzt bekommen Krankenhäuser Geldstrafen aufgebrummt, wenn ein Patient innerhalb von 30 Tagen mit Komplikationen oder den gleichen Beschwerden wie bei der Erstbehandlung erneut auf der Station auftaucht. Das zwingt sie dazu, die Qualität ihrer Behandlungsmethoden zu verbessern.

Krankenhäuser brauchen Hilfe
Für die Hospitäler ist das eine riesige Umstellung. Einheitliche Standards und Leistungsvergleiche standen für sie bisher nicht im Vordergrund. "Die Medizintechnikunternehmen können die Krankenhäuser mit Komplettlösungen unterstützen. Für die Medtech-Konzerne bedeutet das eine höhere Wertschöpfung", erklärt Cyrill Zimmermann von der Schweizer Vermögensverwaltung Adamant Biomedical Investments. "Wir erwarten deshalb weiterhin eine hohe Übernahmeaktivität in der Branche."

Die veränderte Kostenerstattungs­praxis in den USA sorgt für ganz neue Anreize. Der Einsatz von Operationsrobotersystemen wie da Vinci von Intuitive Surgical gewinnt an Attraktivität für die Kliniken, weil der Standard von Operationen dadurch vergleichbarer wird, egal ob sie der Starchirurg oder seine Vertretung ausführt. Viele Medtech-Unternehmen expandieren auch in Serviceleistungen wie die Fernüberwachung chronisch kranker oder gerade aus dem Krankenhaus entlassener Pa­tienten. Ziel ist es, die Notwendigkeit eines erneuten Klinik­aufenthalts zu minimieren. "Es ist eine echte Qualitätsoffensive. Billig ist nicht mehr zwangsläufig am besten", sagt Stefan Blum.

Diese Komplettlösungsstrategie bringt auch in den Emerging Markets Vorteile. Die Schwellenländer steuern rund die Hälfte zum Wachstum des Medizintechniksektors bei, eine Präsenz dort ist somit für jedes Unternehmen wichtig. Doch diese Märkte sind nicht immer einfach zu erobern. Beispiel Indien: "Etwa 30  Millionen Menschen dort könnten sich moderne Medizintechnik wie zum Beispiel Herzschrittmacher leisten", sagt BB-Medtech-Manager Blum. "Aber die potenziellen Patienten kennen die Möglichkeiten gar nicht, und es gibt weder genügend ausgebildete Ärzte noch entsprechend ausgerüstete Krankenhäuser." Darum bauen Medtech-Konzerne auch hier die fehlende Infrastruktur inzwischen selbst auf, richten eigene Kliniken und Labors ein und stellen medizinisches Personal an, das vor Ort Aufklärungsarbeit leistet. Auch das treibt die Konsolidierung der Branche voran: Wem Fachwissen vor Ort fehlt, der kauft es dazu.

Als einer von wenigen Medtech-Kunden muss sich Weitspringer Rehm nicht darauf gefasst machen, dass sein Prothesenhersteller demnächst einem anderen Konzern gehört: An der hochinnovativen Össur hat sich der dänische Hörgerätekonzern William Demant bereits vor neun Jahren 40 Prozent gesichert. Und er hegt weder Verkaufs- noch Übernahmeambitionen.

Investor-Info

Übernahmewelle
Zeit für Milliardeneinkäufe

Mehr als zehn große Übernahmen haben im Medtech-Sektor 2014 bereits stattgefunden, und das Jahr ist noch nicht zu Ende. Häufig waren Ergänzungen des Produktportfolios das Motiv der Käufer.

Übernahmekandidaten
Attraktive Spezialisten

Der Branchendienst Evaluate Group hat die bisherigen Übernahmen analysiert und festgestellt, dass überdurchschnittlich häufig mittelgroße bis große Firmen mit einem klaren Schwerpunkt gekauft wurden. In dieses Raster passen die Kardiologie­experten St. Jude und Edwards sowie Smith & ­Nephew mit einem Fokus auf Orthopädie. Ihre Aktien sollten von Übernahmespekulationen profitieren.

Unternehmen ISIN Kategorie 1) MK in Mrd. € 2)
St. Jude Med. US 790 849 103 5 Kardiologie 15,0
Smith & Neph. GB 000 922 320 6 Orthopädie 12,0
Edwards Life. US 281 76E 108 2 Kardiologie 10,6
1) mindestens 45 Prozent des Umsatzes, 2) Marktkapitalisierung
Quelle: Evaluate MedTech, finanzen.net

BB Medtech
US-lastiges Portfolio

Die Fondsmanager Stefan Blum und Marcel Fritsch legen den Fokus auf große, langfristig erfolgreiche Medtech-Unternehmen wie Medtronic, Abbott oder Baxter, da sie ein schwankungsarmes Portfolio anstreben. Dazu kommen wachstumsstarke Innovatoren wie der Katheterpumpen-Hersteller Abiomed oder Novadaq, ein Anbieter neuartiger bildgebender Verfahren. Mehr als 70 Prozent der Aktien im Fonds stammen aus den USA.

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Bildquellen: Bernhard Lelle/Istockphoto, Raev Denis/Istockphoto

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26.01.2018Intuitive Surgical HoldCanaccord Adams
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