Türkei-Boom: Wie lange noch?
Boom am Bosporus: Wie lange noch? Die Erfolgsgeschichte ist einzigartig in Europa.
Seit dem ersten Wahlerfolg Recep Tayyip Erdogans 2002 hat sich die türkische Wirtschaft von dem Niveau des heutigen Griechenlands zu der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaft Europas gemausert.
Jetzt - kurz nach der erneuten Wiederwahl Erdogans - mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Wirtschaft heiß gelaufen ist und dringend Abkühlung benötigt.
Anlegern, die mit Index- oder Basket-Lösungen in der Vergangenheit profitieren konnten, wird geraten auszusteigen. Ist ein Ausstieg aber zu diesem Zeitpunkt wirklich sinnvoll?
Wer durch Istanbul fährt, kann die Ursache des Aufschwungs am Bosporus sofort erkennen: Im Banken- und Geschäftsviertel Levent wachsen die Stahl- und Glasfassaden in den Himmel. Riesige Neubaugebiete entstehen an den Stadträndern. Baustelle reiht sich dort an Baustelle, dort wo bis vor wenigen Jahren noch armselige, einfache Hütten standen. Es werden echte Werte geschaffen.
Dabei scheint immer höher, immer schneller die Devise zu sein, was auch dem enormen Bevölkerungswachstum geschuldet ist. 12 bis 13 Millionen Einwohner soll Istanbul bereits haben. Wahrscheinlich sind es noch viel mehr, die Schätzungen gehen hoch bis 20 Millionen.
Die Bauwirtschaft – das wird jedem Beobachter schnell deutlich – ist der Katalysator der türkischen Wirtschaft, gilt als Wachstumsgarant: Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich in den letzten neun Jahren mehr als verdreifacht, das Wachstum liegt bei fast neun Prozent, die öffentlichen Schulden sind nur halb so hoch wie in Deutschland, und die Arbeitslosigkeit, einst eines der Kernprobleme in der Türkei, ist unter zehn Prozent gesunken.
Keine Rede mehr vom „kranken Mann am Bosporus“, wie das Land lange verspottet wurde. Also doch alles gut?
Hohes Leistungsbilanzdefizit
Nicht so ganz. Die Prognose, eine Abkühlung der türkischen Wirtschaft stehe bevor, ist keine Erfindung von Miesepetern, sondern beruht auf harten Fakten, denen sich auch Anhänger des „türkischen Modells“ stellen müssen. So hat sich zuletzt das Leistungsbilanzdefizit stark ausgeweitet, steuert in diesem Jahr auf acht bis neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu. Vergrößert hat sich das Defizit vor allem durch den nach der Wirtschaftskrise gestärkten Privatkonsum, sowie einem Wiederanstieg ausländischer Investitionen (FDI) in der Türkei. Auf Dauer kann ein solches Defizit jede Volkswirtschaft in Schieflage bringen.
Dazu kommt, dass die Inflation wieder zum Problem wird. Die Inflationsdaten vom Mai waren für viele Ökonomen ein Schock. 7,2 Prozent machte die Teuerung aus, und das nach moderaten 4,3 Prozent im Vormonat - die größte Steigerung der jährlichen Rate seit Januar 2002. Die Argumentation der Notenbank, die Leitzinsen können bei einem Rekord-Tief von 6,25 Prozent gehalten werden und auf diesem Niveau Preisstabilität ebenso wie Wachstum garantieren, gerät gehörig ins Wanken. „Die türkische Zentralbank wird ihre Geldpolitik radikal ändern müssen“, sind sich die Analysten der britischen Bank Standard Chartered sicher.
Die Zweifel, ob die Zentralbanker wirklich in der Lage sind, den Aufschwung zu beherrschen, mehren sich. Zu zögerlich war das, was in der Vergangenheit geschah. Kurz gesagt: Mit einer Politik des „Ein Schritt vor, einer zurück“, kann man keinen Boom am Leben erhalten.
Während die Verbraucher- und die Produzentenpreise stiegen und dieses auch weiter tun werden – die Trends bei beiden Indikatoren zeigen deutlich nach oben, senkte die Zentralbank die Leitzinsen zuletzt sogar noch. Damit gefährdete sie ihre Glaubwürdigkeit noch mehr, weil die Realzinsen im Land negativ sind, während die Industrieproduktion beispielsweise im März im Vergleich mit dem Vorjahr um 10,6 Prozent zunahm.
Auf die Bremse treten
Ein weiteres Problem: Zum großen Teil von kurzfristigem Kapital, also von so genanntem „hot money“ befeuert, ist der Aufschwung anfällig für einen möglichen plötzlichen Abzug des Spargeldes aus dem Ausland. Die Ratingagentur Moody’s warnte bereits vor den Gefahren und sieht die Bonitätsnote für das Land (derzeit „Ba2“) unter Druck. „Die Herausforderung für die Türkei besteht darin, Überschüsse zu erwirtschaften, die Fremdwährungsreserven zu vergrößern und den Schuldenstand zu senken“, so Sarah Carlson, Analystin bei Moody's.
Die Schwierigkeit dabei werde sein, auf die Bremse zu treten, ohne dabei den Motor abzuwürgen und die Lira weiter schwach zu halten. Bisher ist wenigstens das gelungen. Gegen den Euro befindet sich die Lira in einem langfristigen Abwertungstrend.
Der starke Mann der Türkei, Erdogan, will eine neue liberalere Verfassung mit Hilfe aller Bürger und Parteien durchsetzen. Dazu will er das Pro-Kopf-Einkommen verdoppeln, das freie Unternehmertum fördern, weitere gigantische Bauprojekte in Auftrag geben. Hier Erfolg zu haben ist ihm zuzutrauen, trotz der Delle, die jetzt auf die türkische Wirtschaft zukommen könnte. Denn die Türkei kann Krisen besser meistern als viele andere Staaten: Die letzte große Finanzkrise konnte der Türkei quasi kaum etwas anhaben. Keine Bank ging damals Bankrott oder musste gerettet werden, einen IWF-Kredit lehnte man dankend ab.
Die Entwicklung in der Türkei ist rasant und in gewisser Hinsicht unvergleichbar mit der Entwicklung anderer Staaten. „Wer seinen eigenen Weg geht, kann auch nicht von anderen eingeholt werden“, antwortete ein türkischer Unternehmer sibyllinisch, als ich ihn fragte, was die türkische Ökonomie auszeichne und antreibe.
Der türkische Aktienmarkt kommt bei dem Tempo allerdings nicht mehr mit. Nach Kursgewinnen von bis zu 240 Prozent in Landeswährung in den Jahren 2009 und 2010 stagniert der Istanbul Stock Exchange National 100 Index. Dabei ist der Markt nach wie vor vergleichsweise preiswert. Mit einem durchschnittlichen 2011-er KGV von rund zehn werden Dividendentitel niedrig bewertet, werden allerdings nicht an den deutschen Börsen gehandelt.
MEIN FAZIT:
- Die Türkei gehört zu den am dynamischsten wachsenden Volkswirtschaften und es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass sie das in naher Zukunft nicht bleiben wird.
- Allerdings gibt es berechtigte Sorgen, ob der Aufschwung in diesem Tempo weiterlaufen kann. Die Abhängigkeit von der Bauwirtschaft ist zu groß, die Inflation wächst.
- Vom Kauf eines Türkei-Fonds rate ich derzeit ab, bis klar ist, ob es Erdogan gelingt, seine ambitionierten Reform-Pläne für die neue Amtszeit auch umzusetzen.
- Die Lira wird kurz- und mittelfristig schwach bleiben, weil es im Interesse der Türkei ist, sie schwach zu halten.
Armin Brack ist Chefredakteur des Geldanlage-Reports. Gratis anmelden unter: www.geldanlage-report.de. Der obige Text spiegelt die Meinung des jeweiligen Kolumnisten wider. Die finanzen.net GmbH übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche Regressansprüche aus.