Die Bernd Niquet Kolumne

Das Lehman-Märchen

aktualisiert 16.11.09 15:20 Uhr

Das Lehman-Märchen | finanzen.net

Gerade jährt sich der Mauerfall zum zwanzigsten Mal, und es ist erstaunlich und bewundernswert, ...

... dass die Geschichtsschreibung sich bisher der Versuchung widersetzen konnte, dass man das doch alles vorher wissen konnte.

Bei viel dichter zurückliegenden Ereignissen sieht es hingegen ganz anders aus, beispielsweise bei der Lehman-Pleite. Am 15. September 2008 hat die große US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz anmelden müssen. Bereits am 11. Juli 2008 war die Indymac Bank (Independent National Mortgage Corporation), die größte Spar- und Darlehenskasse im Raum Los Angeles, zusammengebrochen und unter die Zwangsverwaltung der Einlagensicherung gestellt worden. Heute liest man nun dazu im Internettext der „Tagesschau“: „In den USA wird spätestens mit der Pleite von Indymac klar, dass auch große Institute existenziell bedroht sind.“ Schau an, wie schlau die damals schon gewesen sind.

Doch es geht noch viel weiter. So konnten wir zum Lehman-Jubiläum überall lesen, die Insolvenz von Lehman wäre der Verursacher der Heftigkeit der Krise gewesen. So schrieb „Spiegel-Online“ dazu: „Am 15. September 2008 kollabiert die US-Investmentbank Lehman Brothers und wie ein Orkan wütet diese Nachricht auf den internationalen Finanzmärkten. Es ist der Tag, an dem aus der seit Monaten währenden Krise an den internationalen Kapitalmärkten die weltweite Finanzkrise wird. Binnen Stunden versiegt die Kreditvergabe zwischen den Finanzinstituten.“

Das klingt zwar reichlich plausibel, genau, so war es, wird jetzt sicher beinahe jeder denken. Doch es stimmt in keiner Weise mit den Tatsachen überein. Zwei Gründe habe ich für diese These anzuführen: Erstens, der Aktienmarkt ist danach nicht eingebrochen. Denn der Dax beendet die Woche nach der Pleite von Lehman mit 6.189 Punkten nur wenige Punkte unterhalb des Niveaus vor den Ereignissen, und auch der Dow Jones, der mit 11.416 Punkten in die Woche gestartet war, schließt bei 11.388 Punkten nahezu unverändert.

Der Aktienmarkt ist nun wirklich das sensibelste Wahrnehmungsorgan einer Marktwirtschaft. Wenn es also damals den entscheidenden Knacks gegeben hätte, ist es undenkbar, dass der Aktienmarkt sich gleichzeitig so stabil zeigte. Erstaunlich ist daher nur, dass keiner der Schreiber, die überall das Lehman-Märchen verbreitet haben, darauf nicht geschaut haben.

Und es kommt noch der zweite Punkt hinzu: Auch die Behauptung eines plötzlichen Zusammenbruchs der Kreditvergabe ist ein Märchen. Ich zitiere dazu nur die FAZ aus den Tagen nach der Bear Stearns Rettung im März 2008: „Der Interbankenmarkt, auf dem sich Banken untereinander ohne Stellung von Sicherheiten gegenseitig Geld leihen, ist zum Erliegen gekommen. Die Finanzierung gegen Sicherheiten ist gleichzeitig extrem teuer geworden, weil keine Bank das Risikopotential ihres Nachbarn einschätzen kann. Der Preis der zu stellenden Sicherheiten kann zudem nur schwer ermittelt werden. In zu vielen Segmenten des Kreditmarktes ist der Handel ausgetrocknet.“

Neben diesen objektiven Falschheiten ärgert mich ganz besonders, wie heute von all denjenigen, die vorher stets über „Moral Hazard“ geklagt haben, dass es falsch sei, jeden „Big Player“ zu retten, heute unisono verkünden, es wäre ein grober Fehler gewesen, Lehman in die Insolvenz gehen zu lassen. Ich möchte lieber nicht wissen, wie groß das Geklage heute wäre, hätte man wirklich alle gerettet. Dann wäre das nämlich ganz sicher auch falsch gewesen.

Aber so ist sie eben, unsere Welt: Die Menschen sind Selbstbetrüger, und die Geschichtsschreibung ist keinesfalls Abbild der Welt, sondern bewusste Konstruktion von Wirklichkeiten.

Dr. Bernd Niquet arbeitet seit über zehn Jahren als freier Schriftsteller und Börsenkolumnist und hat in dieser Zeit sämtliche Euphorie- und Depressionsphasen an der Börse mit pointierten Kolumnen sowie Romanen und Tatsachenberichten begleitet.

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