Industrie 4.0 ist nicht die Fabrik 4.0
Das neue Schlagwort heißt jetzt Industrie 4.0, das Politik, Industrie, Analysten und Anleger gleichermaßen fasziniert. Die neue Technik bietet dabei oft schon totgesagten Maschinenbauern Chancen.
von Thomas Rappold, Gastautor von Euro am Sonntag
Jüngst präsentierte sich die Hannover Messe wieder als Schaufenster der neuesten Errungenschaften industrieller Technologie. Rund 6.500 Aussteller aus 70 Ländern präsentierten ihre Innovationen. Dabei standen Lösungen rund um Industrie 4.0 im Mittelpunkt. Roboter und Fertigungsstraßen, die, orchestriert durch digitale Sensorik und mithilfe künstlicher Intelligenz, zu denkenden Produktionsstätten mutieren und intelligent auf kurzfristigen Bedarf und individuelle Kundenwünsche hin produzieren, werden uns als das nächste große Ding verkauft. Ist dies zu kurz gesprungen?
Mit der enormen Wucht der zunehmenden Digitalisierung sämtlicher Wirtschaftszweige wird uns von den Propheten des Silicon Valley mit Aussagen wie "Software is eating the world" und "digitale Disruption" wieder weisgemacht, dass alles Produzierende und Reale durch Software und Dienste ersetzt wird.
Hier stehen sich nun zwei Welten oder vielmehr Weltanschauungen gegenüber, die für sich jeweils in ihrem eigenen Territorium sehr erfolgreich sind: die Techindustrie im Silicon Valley und die deutsche Maschinen- und Elektroindustrie. Nun kommen sie sich aber ins Gehege, da die jeweilige Partei versucht, in das Territorium des anderen einzudringen.
Cloud-Computing als Teil
des Maschinen- und Anlagenbaus
Die Amerikaner haben die größere Vision und reden vom "Internet der Dinge", also dass praktisch alles zum Internet wird, wohingegen die Deutschen wieder einmal pragmatisch von "Industrie 4.0", also einer neuen vernetzten und übergreifenden intelligenten Produktionslandschaft, sprechen.
Vielfach hat man bei den Marketingbotschaften der Maschinenbauer den Eindruck, Industrie 4.0 bedeute, eine Maschine mit dem Internet zu vernetzen. Dabei ist es weit mehr als die Optimierung der Produktionssteuerung. Vielmehr muss die deutsche Industrie vom Silicon Valley schnell lernen und viel stärker in neuen digitalen Geschäftsmodellen und vor allem mehr softwarezentriert in App- und Cloud-Plattformen sowie Diensten denken.
Was bedeutet dies nun konkret, und wie können wir beide Welten optimal zusammenführen? Dazu zwei Beispiele: Deutschland ist weltweit einer der Vorreiter bei der Stromerzeugung mittels erneuerbarer Energie. Trotzdem hapert es an einem intelligenten Stromnetz. Ein kalifornischer Internetunternehmer zeigt den Deutschen, wie es geht. Elon Musk, reich geworden durch die Erfindung des Bezahldienstes Paypal, revolutioniert gerade mit Tesla die Automobilbranche und baut ganz nebenbei ein neuartiges intelligentes Stromnetz auf, und dies gleich weltweit. Er nutzt dabei die Ladestationen von Tesla zur Stromverteilung und die Batterien seiner Tesla-Autos als Stromspeicher.
Obendrein hat er sich letztes Jahr mit SolarCity den größten Solarinstallateur für Hausdächer in den USA einverleibt. Statt sich mit dem alten und maroden US-Stromsystem der Energieversorger auseinanderzusetzen, überspringt er es komplett und baut ein technologisch (am Mobilfunk orientiertes) dezentrales Netz von Ladestationen in den USA, aber auch in Europa und Asien auf. Übrigens alles softwaregesteuert. Mittels Big-Data-Technologien werden die lukrativsten Standorte ermittelt, und beim Ladevorgang kann dann auch gleich noch ein Software-Update für das Tesla-Auto vorgenommen werden.
Beispiel Nr. 2: Apple, Google, Facebook und Amazon haben vorgemacht, wie man über sogenanntes Cloud-Computing enorme Rechenleistung flexibel für unterschiedlichste Anwendungsfälle bereitstellen kann. Amazon hat mit seinen Erfahrungen aus dem Betrieb des größten E-Commerce-Angebots weltweit mit dem Geschäftsbereich AWS (Amazon Web Services) den größten Rechenzentrumsprovider für Dritte geschaffen. Schauen Sie einen Film über den Streamingdienst Netflix oder verschieben Sie eine Datei über den Speicherdienst Dropbox, so geschieht dies alles auf Rechnern von Amazon. Der Trend geht hin zur Virtualisierung und weg vom Eigenbetrieb und der physischen Vorhaltung von Infrastruktur.
Übertragen auf den deutschen Maschinen- und Anlagenbau ergibt sich ein neues Anwendungsszenario: Die Maschine wandert in die Cloud, und man spricht von "Cloud Machinery". Wie geht dies in der Praxis? Der Anlagenbauer wird selbst zum Betreiber eines Maschinenparks. Seine Produkte und Geschäftsprozesse stellt er in Form einer Maschinen-API (Service- und Programmierschnittstelle) über das Internet zur Verfügung. Die erfolgreichen Internetunternehmen haben hierzu Basisschnittstellen für Autorisierungs- und Kommunikationsprozesse entwickelt, die auch sehr gut im Maschinen- und Anlagenbau eingesetzt werden können.
Der Kunde kann diese Schnittstellen flexibel in seine eigene Software-Infrastruktur integrieren. Folglich stellt er beispielsweise seine herzustellenden Produkte als 3-D-Muster in einen eigenen Datenraum ein und stößt mit der Maschinen-API über das Internet die Produktion beim entfernt liegenden Anlagenbauer an. Die fertig produzierten Teile werden nach erfolgter Endkontrolle an den Kunden ausgeliefert.
Statt dem Produkt wird
nun der Service verkauft
Mit der Maschinen-API hat der Anlagenbauer zudem einen nicht zu unterschätzenden Hebel in der Internetwelt: Über die digitale Infrastruktur mit den App Stores von Apple und Google kann er seine Maschinenservices potenziell 2,5 Milliarden Smartphone- und mehreren Hundert Millionen Tablet-Nutzern anbieten. Ohne weitere Maschinen physisch zu exportieren, vermag er dadurch seine Exportquote im Umsatz deutlich zu steigern. Beispiele aus dem Cloud-Computing zeigen, dass die Unternehmen dabei deutlich höhere Margen erzielen können, fallen doch die logistischen Aufwendungen für Transport und Wartung weg.
Der Anlagenbauer schafft sich damit einen neuen Markt für Kunden, die ad hoc und unkompliziert ohne Rüstzeiten und ohne den hohen finanziellen Einsatz für den Kauf einer Maschine auf "Machinery as a Service" zugreifen wollen. Statt des Verkaufspreises für die einzelne Maschine erhält der Anbieter eine leistungsabhängige Servicegebühr.
Dies sind zwei konkrete Beispiele im Kontext von Industrie 4.0, wie man sich den Brückenbau zwischen dem Silicon Valley auf der einen und dem Produktionsstandort Deutschland auf der anderen Seite vorstellen kann.
Kurzvita
Thomas Rappold,
Unternehmens-
berater und Gründer
Rappold ist seit über zehn Jahren erfolgreicher Unternehmer einer Internet-Beratungs- und Beteiligungsgesellschaft und Gründer von zahlreichen Internet-Start-ups. Zudem konzipierte er den weltweit ersten Industry 4.0 Performance Index, auf den es zum Beispiel ein Open-End Partizipations-Zertifikat von Solactive gibt.
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