Großer Euro-Test

Berufsunfähigkeit: Das unterschätzte Risiko

20.08.16 21:47 Uhr

Berufsunfähigkeit: Das unterschätzte Risiko | finanzen.net

Nur jeder Dritte, der Schutz bei Berufsunfähigkeit braucht, hat tatsächlich eine Police. €uro zeigt die besten Angebote - und empfehlenswerte Alternativen.

von Martin Reim, Euro Magazin

Die Zahl ist erschreckend. Die Wahrscheinlichkeit für einen Zwanzigjährigen, im Laufe seines Erwerbslebens zeitweise oder dauerhaft berufsunfähig zu werden, liegt bei 43 Prozent. Das hat die Versicherungsmathematiker-Vereinigung DAV errechnet. Zwar hat die Versicherungsbranche in solche Daten erhebliche Sicherheitspuffer einkalkuliert.



Dennoch sind sich Verbraucherschützer und Anbieter mal ausnahmsweise einig: Verbraucher sollten unbedingt versuchen, eine Police gegen Berufsunfähigkeit abzuschließen. Die Realität sieht anders aus: Es gibt in lediglich knapp einem Drittel aller Haushalte, deren wichtigster Einkommens­bezieher jünger als 65 Jahre alt ist, eine solche Absicherung.

Das mag zum einen daran liegen, dass viele das tatsächliche Risiko unterschätzen. Doch selbst wer sich um einen Vertrag bemüht, tut sich oft schwer - vor allem für Tätigkeiten, die als besonders gefährdet gelten. Das sind insbesondere ­viele Handwerksberufe, beispielsweise Dachdecker, aber auch eine Reihe von Akademikerjobs; betroffen sind etwa Lehrer. Umgekehrt versucht jeder Versicherer, gerade jene Kunden zu bekommen, bei denen eine Berufsunfähigkeit (BU) besonders unwahrscheinlich ist.


Große Unterschiede. Konsequenz für alle Interessenten: Wer exakt ins Raster passt, bekommt einen extrem günstigen Vertrag. Wenn aber auch nur ein Detail abweicht, lehnt der Versicherer mög­licherweise ab, schließt bestimmte BU-Risiken aus, etwa Rückenleiden oder psychische Erkrankungen. Oder die Prämie schnellt in die Höhe.

Wie groß diese Prämienunterschiede sein können, hat die unabhängige Rating­agentur Franke und Bornberg bei einem Versicherer exemplarisch herausgefunden. Wenn ein Einzelhandelskaufmann statt zu 76 Prozent nur zu 70 Prozent im Büro arbeitet, zahlt er möglicherweise mehr als das Doppelte der ursprünglichen Prämie. Hintergrund: Büro­tätigkeit gilt bei Versicherern als eher gesundheitsschonend.


In den Tabellen (siehe unten) hat €uro auf Basis der Daten von Franke und Bornberg die besten Angebote für vier realistische Beispielfälle errechnet. Allerdings gilt auch hier: Selbst kleinste Abweichungen vom Beispielfall können zu großen Unterschieden führen.

Generell empfiehlt es sich, Angebote bei mehreren Versicherern einzuholen. Das zeigt eine Studie des unabhängigen Versicherungsmaklers Helge Kühl. Für die Zeitschrift "Ökotest" wertete er vor einigen Jahren mehr als 5000 Anfragen für 1100 reale Personen aus. In der ersten Runde hatte er sich an jeweils drei Anbieter gewandt. Ergebnis: Nur vier Prozent der Anträge gingen bei allen Unternehmen durch. Im Schnitt waren fünf Anläufe nötig, bis mindestens eine Offerte mit akzeptablen Preisen und Bedingungen zurückkam.

Wichtig: Wer sich für eine BU-Police interessiert, sollte seine Anfragen nicht auf eigene Faust stellen, betont Bianca Boss vom Bund der Versicherten (BdV). Wird der Antrag abgelehnt, riskiert man, dass seine Daten im Hinweis- und Informationssystem der Versicherungswirtschaft (HIS) gespeichert werden. Boss: "Eine Ablehnung verringert die Erfolgsaussichten von Anträgen bei anderen Anbietern."

Mit HIS machen die Versicherer Jagd auf Betrüger und sammeln Daten zur Risikoprüfung. Die eigens gegründete Auskunftei stellt die Daten nur den Versicherern zur Verfügung, eine gesonderte Einwilligung der Betroffenen ist nicht nötig. Sachbearbeiter, die auf HIS-Einträge stoßen, prüfen Anträge besonders eingehend. Für einen HIS-Vermerk reicht bei einem Antrag für eine BU-Police schon eine Vorerkrankung wie ein Hörsturz, ein gefährlicher Beruf oder eine hohe Versicherungssumme.

Boss empfiehlt, vor einem konkreten Antrag per anonyme Anfrage zu ermitteln, ob es überhaupt Chancen auf einen Vertrag gibt. Diese Risiko-Voranfrage können Verbraucher laut Boss über Versicherungsberater und -makler stellen.

Richtig anfragen. Was ist beim Antrag noch zu beachten? "Sich dagegen wappnen, dass der Versicherer im Schadensfall nicht zahlen will", rät Beatrix Hüller, Fachanwältin für Versicherungsrecht, die jahrelang Berufsunfähigkeitsfälle bei einem großen Versicherer reguliert hat. Konkret bedeute das: "Erstens: Die Antragsfragen zur Gesundheit möglichst exakt beantworten, sonst ist die Gefahr groß, dass der Versicherer mit einer Verweigerungstaktik durchkommt." Zweitens: Wenn ein Versicherungsvermittler den Antrag ausfüllt, können Fehler passieren, die sich später rächen. "Deshalb sollte man von dem Termin ein Gedächtnisprotokoll anfertigen und einen Zeugen dabeihaben."

Drittens hält Hüller es für ratsam, vor einem Antrag die Auskunft der Krankenkasse einzuholen und die Krankenkartei des Hausarztes beizufügen. Viertens: "Eine Rechtsschutzpolice bei einer anderen Gesellschaft abschließen oder einen bereits laufenden Vertrag überprüfen, ob diese auch Versicherungsstreitigkeiten umfasst." Die Rechtsschutzpolice muss vor dem BU-Abschluss mindestens ein viertel Jahr laufen und jene zehn Jahre abdecken, in denen der Versicherer wegen falscher Angaben im Antrag eine Zahlung verweigern kann.

In die Bewertung des Versicherungsangebots, die €uro-Note, fließt auch das Verhalten der Versicherer bei einem ­Antrag auf Berufsunfähigkeitsrente ein. Denn Franke und Bornberg hat an eine Reihe von Anbietern Unternehmensratings vergeben. Dabei wird auch die Regulierungspraxis bewertet. Anbieter mit einem Unternehmensrating bekommen in nebenstehender Tabelle einen Punkteaufschlag in der Kategorie "Rating".

Sollte man angesichts solcher Unsicherheiten überhaupt versuchen, eine BU-Versicherung abzuschließen? Vorausgesetzt, dass man einen bezahlbaren Vertrag bekommt, sagt BdV-Sprecherin Boss klipp und klar: "An dieser Police führt kein Weg vorbei."

Garantiezins beachten. Und es gibt noch einen weiteren Grund, möglichst bald abzuschließen. Zum 1. Januar sinkt der gesetzliche Garantiezins von 1,25 auf 0,9 Prozent. Das betrifft vor allem Kapitallebens- und private Rentenversicherungen - aber auch Berufsunfähigkeitspolicen. Denn die Versicherer bauen ein Finanzpolster in Höhe der voraussichtlichen Leistungen auf. Dieser Kapitalstock wird mit dem Garantiezins verzinst: je niedriger die Verzinsung, desto höher der Beitrag.

Wie groß der Effekt ist, hat der Finanzdienstleister MLP für die Senkung des Garantiezinses Anfang 2012 berechnet, als es von 2,25 auf 1,75 Prozent nach unten ging. Damals kam es zu einer durchschnittlichen Steigerung von immerhin vier Prozent bei der Bruttoprämie - also jenem Wert, bis zu dem der Versicherer den Beitrag im Vertragsverlauf maximal erhöhen kann.

Doch auch wer einen schnellen Abschluss sucht, kann an untragbar hohen Prämien oder einer branchenweiten Ablehnung scheitern. Was tun? Dann gibt es eine Reihe von Alternativen. All diese Policen bieten - wenn man eine Parallele zum Auto zieht - quasi eine Teilkasko-Lösung mit unterschiedlichen Umfängen, während Berufsunfähigkeitspolicen der Vollkaskoschutz für die Arbeitskraft sind.

Die Test-Ergebnisse

So lesen Sie die Tabellen (PDF)

Die besten Policen für Studenten und junge Angestellte (PDF)

Die besten Policen für ältere Angestellte und Selbstständige (PDF)

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