Euro am Sonntag-Interview

Harvard-Ökonom Rodrik: "Das ist eine Falle"

11.01.16 03:00 Uhr

Harvard-Ökonom Rodrik: "Das ist eine Falle" | finanzen.net

Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik über die gefährlichen Folgen des globalisierten Finanzmarkts, Europas Umgang mit Migration und das Verhältnis zur Türkei.

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von Simon Schmid, Euro am Sonntag

Dani Rodrik wuchs in der Türkei auf. Seit den 70er-Jahren lebt er in den Vereinigten Staaten, wo er sich weltweit einen Namen als Handels- und Entwicklungsökonom und Buchautor gemacht hat. 2002 gewann er den Leontief-Preis, eine renommierte Auszeichnung für Wirtschaftswissenschaften in den USA.



€uro am Sonntag: Acht Jahre nach der Finanzkrise geht es ökonomisch immer noch drunter und drüber. Warum?
Dani Rodrik:
Wir sind politisch nicht weitergekommen. Kleine Zinsschritte in den USA können noch immer Verwerfungen in Südostasien hervorrufen. Wir haben es seit der Krise versäumt, die ­ Finanzarchitektur grundlegend zu reformieren.

Warum wäre das nötig?
Der Finanzmarkt erzeugt große Schwankungen. Doch den Ländern fehlen die Mittel, damit umzugehen. Besonders kleinere Staaten sind der finanziellen Globalisierung ziemlich schutzlos ausgeliefert.


Was heißt finanzielle Globalisierung?
Es geht um Größe und Stellenwert des Finanzmarkts. Um die Kreditmenge im Privatsektor. Das Volumen grenzüberschreitender Kapitalflüsse. Das Ausmaß der Derivatkontrakte auf dem Devisenmarkt. All diese Dinge sind heute im Vergleich zum BIP, zu den realen Einkommen, zum effektiven Warenhandel größer als je zuvor.

Ist freier Kapitalverkehr nicht etwas Gutes?
Diese Story erzählte man bis zur Finanzkrise. Man beschrieb den Finanzmarkt als Schmiermittel für den Handel. Man dachte, er sei förderlich fürs Wachstum sowie für den Zugang zu Krediten, Wohnungen und Konsum. Es hieß, der freie Kapitalverkehr helfe somit auch ärmeren Leuten. Inzwischen aber hat zumindest die Wissenschaft verstanden, dass die unregulierte Finanzglobalisierung eine Falle ist.


Warum?
Wegen der notorischen Boom-und-Bust- Zyklen, die sie hervorbringt. Wenn in optimistischen Zeiten jeweils Kredite en masse vergeben werden, dann geht es aufwärts. Man redet sich ein, alles werde besser und produktiver. Dann ­geraten Schuldner in unerwartete Schwierigkeiten oder irgendein externer Schock trifft die Wirtschaft - etwa beim Rohstoffpreis. Und die typischen Überreaktionen stellen sich ein: Jeder versucht gleichzeitig, Schulden abzubauen, die Gesamtnachfrage bricht zusammen. Investitionen gehen zurück, die Arbeitslosigkeit steigt.

Sind solche Zyklen nicht normal?
Nicht im Sinne einer historischen Notwendigkeit. Immerhin gelang es den ­Industrieländern während 80 Jahren, solche Muster zu unterbinden.

Nicht so den Schwellenländern?
Dort traten seit den späten 70er-Jahren vermehrt Krisen auf. Aber warum? Die verbreitete Meinung war: Aha, Länder wie Mexiko, Argentinien oder Thailand haben ihre Wirtschaft einfach nicht im Griff. Sie machen schlechte ­Politik, es herrscht Korruption und so weiter. Diese Geschichte wurde natürlich weniger glaubhaft, als die Finanzkrise auch die Industrieländer durchschüttelte. Ökonomen realisierten nun, dass die Instabilität nicht bloß der ­Wirtschaftspolitik mancher Länder geschuldet ist. Sondern dass das Finanzsystem per se problematisch gestrickt ist.

Freie Märkte fördern doch die Effizienz?
Ja. Doch sie neigen zur Übertreibung. John Maynard Keynes hatte dies schon in den 30er-Jahren erkannt. Die Einsichten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg dann auf das Bretton-Woods-System umgemünzt. In diesem Wechselkurssystem waren explizite Bremsen für den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr eingebaut - um gesunde Volkswirtschaften und stabile Demokratien zu gewährleisten.

Warum wurden die Bremsen ab­geschafft?
Bretton Woods war so erfolgreich, dass die Erfahrungen aus der Großen Depression im Boom der 60er- und 70er-Jahre verloren gingen. Es gab ja gerade wegen der Finanzrepression keine Krisen mehr! Der ökonomische Paradigmenwechsel brachte dann eine Deregulierungswelle. Man begann, den Markt generell als überlegen zu betrachten - auch im Bereich der internationalen ­Kapitalströme.

Wie müsste Bretton Woods 2.0 denn aussehen?
Erstens muss man das Management grenzüberschreitender Kapitalflüsse wieder als integralen Teil der makro­ökonomischen Wirtschaftspolitik begreifen. Finanzielle In- und Outflows zu beobachten, sie auszuwerten und zu lenken muss wieder zu den Routineaufgaben eines Staats und seiner Behörden zählen - ebenso wie die Zins- oder die Fiskalpolitik.

Wie stellen Sie sich das konkret vor? Würden die Leute wieder Bewilligungen brauchen, um Devisen zu kaufen?
Es könnten verschiedene Instrumente zur Anwendung kommen. Industrie­länder könnten zum Beispiel bestimmte Finanztransaktionen besteuern. Andere Länder könnten das auch administrativ über bestimmte Quoten lösen. Die Vielfalt der Wege international zu akzeptieren wäre das zweite wichtige Element der neuen Architektur.

Hätten die USA und Europa nicht einfach auf ihre ultraexpansive Geldpolitik verzichten sollen? Wäre es dann nicht zu Verwerfungen gekommen?
Die US­-Notenbankpolitik hat Schwellenländern wie Brasilien das Leben schon schwergemacht. Doch diese Länder ha­ben ihrerseits nicht annähernd genug un­ternommen, um sich zu schützen. Statt das billige Geld anzunehmen, hätten sie den Wirtschaftsboom bremsen müssen. Sie hätten Banken und Unternehmen da­ran hindern sollen, zu viel Geld zu borgen.

War es richtig, dass die Federal Reserve ihr QE-Programm durchgezogen hat?
Eine noch längere und schwerere Rezes­sion in den USA wäre für die Weltwirtschaft insgesamt das größere Übel gewesen.

Mit Ihrer Auffassung für Kapitalkon­trollen bleiben Sie akademisch ein Exot.
Das sehe ich anders. Unter Wirtschaftswissenschaftlern ist der Enthusiasmus für die Globalisierung zurückgegangen. Auch prominente Organisationen wie der Inter­nationale Währungsfonds (IWF) betrachten völlig freie Kapitalströme in­zwischen mit etwas mehr Bedenken.

Syriza, Front National, UKIP: Warum haben Populisten in Europa überall so starken Zulauf?
Ehrlich gesagt hat mich überrascht, dass diese Parteien nicht noch mehr Erfolge feiern. Es war offensichtlich, dass die Kri­senstrategie antieuropäische Gefühle be­feuern würde - sei es von links oder von rechts. Die Zentrums­parteien haben sich mit ih­rer Politik, die die Wirtschaft noch tiefer in den Morast gebracht hat, selbst diskre­ditiert. Der Fokus lag einseitig auf Struktur­reformen und Austerität. Man hat ver­nachlässigt, dass es daneben auch Maßnahmen braucht, die dem Schaden in den betroffenen Ländern entgegenwirken. Europas Regierungen haben ihre Wählerschaft selbst an die Ränder des politischen Spek­trums getrieben.

Hat der Liberalismus als Leitideologie in Zeiten von Globalisierung und Massenmigration ausgedient?
Der Fehler vieler Liberaler bestand darin, dass sie glaub­ten, sie müssten den Staat abschaffen. Da­bei kommen liberale Systeme ohne Staat gar nicht aus. Sie brauchen ihn politisch und wirtschaftlich: Um Rechtssicherheit und individuelle Frei­heiten zu garantieren, um Märkte zu regulieren und Sozialversicherungen zu betreiben. Der Kapitalismus bezieht seine Legitimität letztlich über den Staat.

Was bedeutet das für die Zukunft?
Wir besitzen heute keine klare Vorstellung davon, wie die Balance zwischen dem Li­beralismus - der Freiheit, sich zu bewegen und Handel zu treiben - und dem Staat in Zukunft austariert werden muss. Die Weltwirtschaft ist global, doch der Staat operiert auf nationaler Ebene. Solan­ge diese Diskrepanz weiterbesteht, kann es keine absolute Freiheit geben, weder für Kapital noch für Menschen.

Soll Europa die vielen Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen?
Auch wenn es in der Praxis schwierig ist, sollte man eine klare Trennlinie zwischen Kriegsflüchtlingen und ökonomischer Mi­gration ziehen. Humanitäre Hilfe für Menschen auf der Flucht zu leisten ist ein uni­versaler Impuls. Anders verhält es sich mit der Wirtschaftsmigration. Offene Grenzen sind objektiv zwar eine gute Sache, aber aus Sicht der Bewohner des Einwanderungslands kann Stress ent­stehen. Wenn ein Land die Wirtschaftsmigration regulieren will, ist das okay.

Soll Europa dazu auch Allianzen mit Ländern wie der Türkei eingehen?
Die EU hofft nun, dass sie einen Deal mit der Regierung von Präsident Erdogan ein­gehen kann: Die Türkei ­erhält Geld und Vi­sumsfreiheit, dafür soll Erdogan den Europäern die Flüchtlinge vom Leib halten. Europa tut sich damit aber keinen Gefallen. Eine EU, die im Geist ihrer demo­kratischen Werte handelt, sollte klar Stel­lung beziehen und die derzei­tigen Ein­schränkungen der zivilen Freiheiten klar verurteilen. Sie sollte Erdogan und seinen Kumpanen entschlossen gegenübertreten.

Warum?
Die EU schätzt die Türkei seit der Macht­übernahme der AKP in den Nullerjahren falsch ein. Sie hat die Schauprozesse und die Manipulationen der Justiz als Schritt zur Demokratisierung verstanden, ob­wohl sie in Wahrheit der Bildung eines neuen Autoritarismus dienten. Die Gülen-Bewegung, mit der Erdogan verbündet war, wurde als eine harmlose NGO einge­stuft, obwohl es sich um eine zwielichtige und mächtige Organisation handelt, die Erdogan die Möglichkeit gegeben hat, ein autoritäres Regime aufzuziehen.

Droht Europa selbst Errungenschaften des 20. Jahrhunderts - Freiheit und Demokratie - zu verlieren?
Das Dilemma ist grundlegend. Liberale Werte­ und Wirtschaftsordnungen sind nur schwer mit der Globalisierung vereinbar. So bleibt die kosmopolitische Vorstellung einer globalisierten Weltgemeinschaft für den Moment eine Utopie.
Das Interview wurde von der "Handelszeitung" (Schweiz) geführt

Vita:

Dani Rodrik ist ­Professor für internationale politische Ökonomie an der ­Universität Harvard. Nach seinem Master in Public Affairs und dem Doktorat in Ökonomie an der Universität Princeton war er ab 1989 als Professor für Wirtschaftspolitik, Ökonomie und politische Ökonomie an den Universitäten Columbia und Harvard tätig. Der 58- jährige Vater von drei Kindern ist auch als Autor bekannt.

Buch:

Kritik an Dogmatismus
In seinem neuen Buch "Economics Rules: The Rights and Wrongs of the Dismal Science" erneuert Rodrik seine Kritik am dogmatischen Umgang mit ökonomischen Modellen. Darin formuliert er seine Vision der Wirtschaftswissenschaften als einer Disziplin, die ihr Forschungsobjekt aus einer Vielzahl von Blickwinkeln betrachtet und eine ganze Reihe von Modellen hervorbringt.

Bildquellen: Dani Rodrik, Semmick Photo / Shutterstock.com