Putins neuer Deal?
Seit rund zehn Jahren führt Russland nach eigener Darstellung einen Anti-Terror-Kampf in Syrien. Die eigene Militäroperation in der arabischen Republik begann 2015 und kostete den Kreml schätzungsweise 2,5 Millionen US-Dollar pro Tag. Dabei kamen nach Recherchen von Journalisten mindestens 534 russische Soldaten ums Leben. Die groß angelegte Invasion der Ukraine ab 2022 markierte jedoch auch für die russische Syrienpolitik einen Wendepunkt: Seither begann Moskau, seine Militärpräsenz in der Region schrittweise zu reduzieren. Trotz dieses Rückzugs schien sich die Lage zunächst zu stabilisieren, und Diktator Baschar al-Assad konnte sich an der Macht halten. Er kontrollierte weiterhin weite Teile des Landes und wurde im Mai 2023, nach zwölf Jahren Ausschluss, wieder in die Arabische Liga aufgenommen.Der Kreml verlagerte in dieser Zeit seinen Fokus zunehmend von militärischem Einfluss hin zur politischen Vermittlung. Moskau forderte Präsident Baschar al-Assad wiederholt auf, Gespräche mit der bewaffneten syrischen Opposition aufzunehmen und sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu einigen. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, Assad sei bloß eine Marionette Putins, setzte dieser eigene Prioritäten. So machte er den vollständigen Abzug türkischer Truppen aus syrischem Staatsgebiet zur Vorbedingung für einen Dialog mit Ankara. Russlands Außenminister Sergej Lawrow kritisierte dieses Verhalten später mit dem Worten „trotz unserer dringenden Empfehlungen und unserer aktiven Unterstützung war die bisherige Regierung nicht in der Lage, einen echten politischen Prozess in Gang zu bringen“.Assads Regime fiel überraschend schnell wie ein Kartenhaus zusammen, fast ohne nennenswerten Widerstand der syrischen Streitkräfte.Assads übersteigertes Selbstbewusstsein spielte ihm am Ende einen schlimmen Streich. Ende 2024 fiel sein Regime überraschend schnell wie ein Kartenhaus zusammen, fast ohne nennenswerten Widerstand der syrischen Streitkräfte. Präsident Putin war währenddessen auf die Ukraine fixiert und konnte seinem Diktatorkollegen dieses Mal nicht zur Hilfe eilen – anders als noch zehn Jahre zuvor. Am Ende gewährte Russland Assad zwar Asyl, doch Moskau pochte nicht mehr auf seine Legitimität. Noch 2021 hatte der Kreml ihm zum umstrittenen Sieg bei einer Scheinwahl mit 95 Prozent Zustimmung gratuliert. Damit unterscheidet sich Assads Fall deutlich von der Flucht des prorussischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Jahr 2014, dessen Legitimität Russland trotz seines Sturzes weiterhin betonte.Die Machtübernahme der in Russland verbotenen Terrormiliz HTS (Haiat Tahrir asch-Scham) nahm der Kreml weitgehend kommentarlos hin. Noch 2015 hatte Moskau aktiv darauf hingewirkt, dass HTS auf die Terrorliste der Vereinten Nationen gesetzt wurde. Die Zerschlagung der Gruppe und verbündeter Milizen galt damals als eine der obersten Prioritäten der russischen Syrienpolitik. Heute hingegen vermeiden russische Behörden offene Kritik. In den Staatsmedien wich fast unmerklich die Bezeichnung „Terroristen“ der neutralen Formulierung „bewaffnete Opposition“. Dieser zynische Pragmatismus wird von der Notwendigkeit diktiert, die beiden Militärstützpunkte in Syrien auch unter der neuen Regierung aufrecht zu erhalten: den Marinestützpunkt Tartus und die Luftwaffenbasis bei Latakia. Beide Anlagen besitzen für Moskau strategische Bedeutung. Ihre Lage am Mittelmeer, in unmittelbarer Nähe mehrerer NATO-Staaten, macht sie geopolitisch wertvoll. Zudem dienen sie als logistische Drehscheiben für den Transfer von Truppen und Waffen nach Afrika, das für Russland eine wachsende sicherheits- und wirtschaftspolitische Bedeutung einnimmt.Umso günstiger für Moskau ist es, dass auch die neuen syrischen Machthaber – zur Überraschung vieler westlicher Beobachter – an besseren Beziehungen mit Russland interessiert sind. Auffällig war bereits während ihres Vormarschs im Jahr 2024, dass die Kämpfer von HTS die russischen Militärstützpunkte in Syrien bewusst mieden – obwohl sie diese militärisch hätten erreichen können. Stattdessen griffen die Rebellen bei ihrem Einmarsch in Damaskus am 8. Dezember gezielt die Botschaft des Iran an, den zweiten langjährigen Verbündeten des gestürzten Regimes. Die Russische Botschaft blieb unversehrt. Bereits Ende Januar kam es unter Leitung des stellvertretenden russischen Außenministers Michail Bogdanow zu einem ersten Besuch einer russischen Delegation im Syrien nach Assad.Ein Motiv der HTS: Sie strebt eine Streichung von der Liste der Terrororganisationen des UN-Sicherheitsrates an.Es wurde klar: Moskau und die neuen Machthaber in Damaskus verfolgen gemeinsame Interessen, auch wenn zunächst keine konkreten Ergebnisse bekannt gegeben wurden. Nur zwei Wochen später telefonierte Wladimir Putin mit dem HTS-Chef und selbsternannten Präsidenten Syriens, Ahmed al-Sharaa. Nach dem Gespräch betonte der syrische Anführer, die Beziehungen zwischen Moskau und Damaskus seien „strategischer Natur“. Er braucht Russland vor allem aus geopolitischen Erwägungen. Die Präsenz der russischen Truppen im Westen seiner Arabischen Republik schafft in seinen Augen ein Gleichgewicht zwischen den türkischen Einheiten im Norden des Landes, dem US-amerikanischen Militär im Osten und den israelischen Streitkräften im Süden Syriens. Ein weiteres Motiv der HTS: Sie strebt eine Streichung von der Liste der Terrororganisationen des UN-Sicherheitsrates an. Dort ist Russland bekanntlich eine Vetomacht und könnte eine Schlüsselrolle spielen. Beobachter halten es für möglich, dass die Miliz sich in diesem Zusammenhang umbenennt oder neu strukturiert.Moskau wird derweil im vorsichtigen Dialog mit der neuen syrischen Regierung bleiben und abwarten, wie stabil deren Machtbasis ist. Bezeichnend ist Russlands Verhalten während der jüngsten Eskalation im syrischen Westen, wo die religiöse Minderheit der Alawiten lebt, zu der auch Baschar al-Assad angehört. Der Kreml gab sich betont neutral und äußerte lediglich „Besorgnis“. Im Gegensatz dazu machten etwa Institutionen der Europäischen Union deutlichere Schuldzuweisungen: Sie erklärten, „pro-Assad-Elemente“ hätten Truppen der Übergangsregierung angegriffen und dadurch den Tod hunderter Zivilisten verursacht. Ein zentraler Streitpunkt bleibt weiterhin Baschar al-Assad selbst. Presseleaks zufolge fordert die neue syrische Regierung seine Auslieferung aus dem Moskauer Exil sowie die Rückgabe von Vermögenswerten im Wert von zwei Milliarden US-Dollar, die Assad bei seiner Flucht mitgenommen haben soll. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Moskau diesen Forderungen nachkommen wird. Moskau könnte Damaskus allenfalls Nahrungsmittel oder begrenzte militärtechnische Hilfe anbieten – beides jedoch eingeschränkt aufgrund der eigenen Konzentration auf die Ukraine. Gleichzeitig dürfte es Präsident Putin nicht unrecht sein, dass er das weitere Schicksal jenes Mannes in seinen Händen hält, den Russland jahrelang politisch und militärisch gestützt hat.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal