Belastungsprobe für die Demokratie

07.04.25 17:25 Uhr

Am 4. April hat das südkoreanische Verfassungsgericht einstimmig die Amtsenthebung von Präsident Yoon Suk-yeol bestätigt. Damit wird bereits zum zweiten Mal innerhalb von weniger als zehn Jahren ein südkoreanischer Präsident seines Amtes enthoben. Das Urteil erfolgte 111 Tage nach dem erfolgreichen Impeachment-Antrag in der Nationalversammlung. Der Grund für die Amtsenthebung war die Ausrufung des Kriegsrechts am 3. Dezember 2024. In einer geopolitisch ohnehin angespannten Lage stürzte Yoon das Land dadurch in eine schwere politische Krise. Bur durch den entschlossenen Widerstand von Abgeordneten und Bürgern sah sich Yoon gezwungen, das Kriegsrecht wieder aufzuheben. Auch der Umstand, dass das Militär letztlich nicht eingriff, ließ den Plan scheitern. Nun wird am 3. Juni ein neuer Präsident gewählt. Das Impeachment von Yoon Suk-yeol ist ein Ausdruck der Resilienz der südkoreanischen Demokratie – und dennoch steht ebendiese vor weiteren Herausforderungen.In den Monaten vor der Ausrufung des Kriegsrechts geriet Präsident Yoon durch die Opposition immer stärker unter Druck. Er hatte die Präsidentschaftswahl 2022 lediglich mit 0,7 Prozent Vorsprung gegen Lee Jae-Myung von der Demokratischen Partei gewonnen. Lee ist auch jetzt wieder der aussichtsreichste Kandidat für die bevorstehenden Wahlen, trotz anhängiger Gerichtsverfahren. Bei den Parlamentswahlen 2024 erzielte die Opposition einen Erdrutschsieg. In der Folge nutzte sie ihre Mehrheit für zahlreiche Impeachment-Anträge gegen Regierungsmitglieder, blockierte oder veränderte Regierungsvorhaben und setzte sowohl Yoon als auch seine Ehefrau wegen eines mutmaßlichen Korruptionsfalls unter Druck. Yoon nutzte mehr als jeder Präsident vor ihm sein Vetorecht und suchte letztlich den Ausweg in der verzweifelten Ausrufung des Kriegsrechts. Damit stürzte er Südkorea in die schwerste Krise seit der Demokratisierung. Und das in einer Zeit, in der die geopolitischen Veränderungen Südkorea vor massive Herausforderungen stellen: US-Zölle treffen die exportorientierte Wirtschaft schwer, die Beziehungen zu Nordkorea befinden sich an einem Tiefpunkt, und Donald Trump kokettiert immer wieder mit direkten Gesprächen mit Kim Jong-un. Das Impeachment belegt die Wehrhaftigkeit der südkoreanischen Demokratie, und doch zeugen die Großdemonstrationen sowohl für als auch gegen die Amtsenthebung von einer gespaltenen Gesellschaft. Der Aufstieg antidemokratischer Kräfte und zunehmend aggressive Rhetorik geben Anlass zur Sorge.Die politischen Debatten in Südkorea sind zunehmend unversöhnlich, und die Polarisierung im Land hat sich verfestigt.Neben unbelegten Behauptungen über eine nordkoreanische Unterwanderung warf Präsident Yoon der Opposition vor, ihre parlamentarische Mehrheit zu missbrauchen. Die politischen Debatten in Südkorea sind zunehmend unversöhnlich, und die Polarisierung im Land hat sich verfestigt. Ein besonders dramatisches Zeichen der Eskalation war der Messerangriff auf Oppositionsführer Lee Jae-myung, bei dem er schwer verletzt wurde. Auch aktuell schlägt sich die gesellschaftliche Spaltung in Gewalt nieder: in der Nacht des 19. Januar stürmte ein aufgebrachter Mob jenes Gericht, das zuvor den Haftbefehl gegen Präsident Yoon erlassen hatte. Dabei wurden auch Oppositionspolitiker angegriffen.Angeheizt wird die Stimmung zusätzlich durch Verschwörungstheorien – etwa über angeblich chinesische Einflussnahme, nordkoreanische Unterwanderung oder Wahlfälschung bei den Parlamentswahlen 2024. Erzählungen, die in ähnlicher Form auch in anderen Teilen der Welt zu hören sind. Entsprechend überrascht es kaum, dass bei Demonstrationen gegen das Impeachment „Stop the Steal“-Plakate zu finden sind – ein direkter Verweis auf die Wahlen 2024, als die konservative People Power Party (PPP) eine herbe Niederlage erlitten hat. Auch rote Basecaps in MAGA-Optik sind zu finden. Eine „Wir gegen die“-Stimmungsmache basiert stark auch auf den unterschiedlichen Perspektiven auf China und Nordkorea.Dabei galt Südkoreas Demokratie lange als Erfolgsgeschichte in der Region. Das Land hat einen beeindruckenden wirtschaftlich Aufstieg hinter sich: Aus einem der ärmsten und vom Koreakrieg verwüsteten Staat ist eine führende Industrienation geworden. Doch die Vermögensungleichheit wächst, und immer mehr Menschen arbeiten unter prekären Bedingungen. Gerade jüngere Bevölkerungsgruppen sind besonders stark betroffen und blicken skeptisch in die Zukunft. Südkorea hat weltweit die geringste Geburtenrate, gleichzeitig steigt die Altersarmut und ist fast drei Mal so hoch wie der OECD Durchschnitt– gemessen am Einkommen unterhalb der Hälfte des Medianeinkommens.Die politische Polarisierung hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Indizes wie V-Dem verzeichnen seit der Wahl von Yoon Suk-yeol Rückschritte in zentralen Bereichen demokratischer Standards. Besonders ausgeprägt sind die politischen Meinungsunterschiede entlang von Geschlechterlinien, selbst innerhalb der gleichen Alterskohorte und hier besonders unter den jungen Menschen unter 30. Während diese Gruppe traditionell als eher progressiv galt, zeigen sich nun die Unterschiede: Junge Männer tendieren eher zur konservativen PPP und waren auf Anti-Impeachment Kundgebungen präsent. Präsident Yoon machte Wahlkampf mit explizit antifeministischen Positionen: Er sprach von „Frauenprivilegien", schürte Ängste einer männlichen Benachteiligung oder versprach, das Frauenministerium abzuschaffen. Damit traf er einen Nerv: Tatsächlich sind allein Männer verpflichtet, einen bis zu 21-monatigen Militärdienst zu leisten. Aber die weiter patriarchalen Strukturen, der geringe Anteil an weiblichen Führungskräften und Politikerinnen oder aber die enormen Gehaltunterschiede zeigen, wie bizarr die Angst einer Benachteiligung ist. Der Gender Pay Gap ist mit 31 Prozent der mit Abstand höchste in der OECD.Nicht selten werden ansatzweise progressivere Politiker pauschal als „Kommunisten“ verunglimpft.Zunehmend gewinnen radikale Stimmen an Einfluss. Einende Motive dieser Strömungen sind ein harter Kurs gegenüber Nordkorea, das Narrativ einer angeblichen kommunistischen Unterwanderung durch China oder Nordkorea sowie eine starke proamerikanische Ausrichtung. Präsident Yoon griff auch bei der Begründung für die Ausrufung des Kriegsrechts auf diese Rhetorik zurück. Er sprach erneut von nordkoreanischer Infiltration – sogar innerhalb des Parlaments. Nicht selten werden ansatzweise progressivere Politiker pauschal als „Kommunisten“ verunglimpft. Zu den einflussreichsten Stimmen zählen rechte YouTuber, deren Geschäftsmodell es ist, mit Verschwörungserzählungen von einer kommunistischen Unterwanderung die Stimmung anzuheizen. Ihr Einfluss ist enorm, da die Nutzung von YouTube als primäre Informationsquelle deutlich zugenommen hat.Nun kommt es auf die konservative PPP an, sich von radikalen Kräften loszusagen. Der erste Versuch, Yoon des Amtes zu entheben, scheiterte noch am Widerstand der PPP. Obwohl mehrere PPP-Abgeordnete in einer zweiten Abstimmung schließlich einer Amtsenthebung zustimmten, betonen Teile der PPP weiter ihre Solidarität zu Yoon und stellen die Rechtmäßigkeit des Verfahrens infrage. Zudem fielen einzelne Abgeordnete wiederholt durch aggressive Rhetorik auf. Fest steht, dass die radikalen Stimmen in der Gesellschaft nicht einfach verschwinden und die südkoreanische Demokratie auch nach dem Impeachment weiter unter Druck steht. Im Parlament wird auch mit juristischen Mitteln gekämpft und politische Gegner mit juristischen Beschwerden überzogen. Beide politischen Lager werfen sich gegenseitig vor, juristische Prozesse als Waffe einzusetzen. Schlimmer noch: selbst die Legitimität des Verfassungsgerichts wird von Teilen der Gesellschaft angezweifelt, auch wenn sie von einer Mehrheit anerkannt wird. Beide Parteien erklärten zwar öffentlich, das Urteil zu respektieren. Doch die Saat des Zweifels ist gesät.Dem Land steht nun ein voraussichtlich aggressiver Wahlkampf bevor. Zwar führt Lee Jae-myung, der Kandidat der Demokratischen Partei, in den Umfragen deutlich – doch für viele konservative Südkoreaner und Südkoreanerinnen bleibt er unwählbar. Die Geschehnisse seit dem 3. Dezember 2024 sind beides: ein Zeichen für die demokratische Resilienz, aber eben auch ein Hinweis auf die Gefahren für die Demokratie und auf die radikalen Kräfte, die sie bedrohen. Die Gräben zwischen der DP und der PPP, aber auch innerhalb der südkoreanischen Gesellschaft, sind in den letzten Wochen noch einmal tiefer geworden. Gleichzeitig zeigt die Verständigung über eine Rentenreform, dass parteiübergreifende Kompromisse möglich sind, wenn sie denn politisch gewollt sind. Auf die nächste Regierung wird es ankommen, die strukturellen Probleme anzugehen – neben den massiven Herausforderungen auf internationaler Ebene. Darüber hinaus müssen beide politische Lager einen Weg finden, Dialog und nationalen Ausgleich zu stärken. Nur so lässt sich die lähmende Polarisierung überwinden – und letztlich auch eine schleichende Erosion demokratischer Institutionen verhindern. Der bevorstehende Wahlkampf wird dabei zum ersten Test.Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal

Quelle: IPG Journal