Kolumne

Ukraine und Taiwan: Zwei ungleiche Konflikte

12.09.22 09:37 Uhr

Werbemitteilung unseres Partners
finanzen.net GmbH ist für die Inhalte dieses Artikels nicht verantwortlich


Ukraine und Taiwan: Zwei ungleiche Konflikte | finanzen.net

Vergleiche zwischen Chinas Anspruch auf Taiwan und Russlands Einmarsch in die Ukraine sind populär. Die Auswirkungen auf die Weltwirtschaft jedoch könnten unterschiedlicher nicht sein: In der Ukraine geht es um die fossile Vergangenheit, in Taiwan um die digitale Zukunft.

Anfang August reiste die US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi nach Taiwan, um den Präsidenten des Landes in Taipeh zu treffen. Es war ein umstrittener Besuch, der sogar in den eigenen Reihen Kritik hervorrief und das aufgeheizte gesellschaftlich-politische Klima in den USA weiter verschärfte. Denn was wie ein gewöhnlicher Akt der Diplomatie aussah, war eine offene Provokation von Chinas Staatsführung. Peking drohte erwartungsgemäß mit Sanktionen, während chinesische Militärmanöver in den Gewässern um die Insel an die russische Mobilmachung an den Grenzen der Ukraine erinnerten.

Tatsächlich haben beide Konflikte einen ähnlichen Ursprung: Genau wie Russland betrachtet auch die chinesische Regierung den Nachbarstaat als Teil des eigenen Hoheitsgebiets. Und genau wie Wladimir Putin sieht es Chinas Staatschef Xi Jinping als seine historische Aufgabe an, die Einheit der Großmacht wiederherzustellen. So jedenfalls die westliche Perspektive.

Peking dürfte die Ausgangslage anders beurteilen. Immerhin ist die Ukraine als souveräner Staat anerkannt, während Taiwan zumindest auf völkerrechtlicher Ebene weiterhin zu China gehört. Für den Politikwissenschaftler und Sinologen Sebastian Heilmann1, mit dem ich schon im Frühjahr im Kapitalmarkt-Podcast über den Konflikt gesprochen habe, steht fest, dass wir in den kommenden Jahren mit gewaltsamen militärischen Aktionen Chinas rechnen müssen. Die nächste Eskalationsstufe des Taiwan-Konflikts ist für ihn nur eine Frage der Zeit.

Bei meinem jüngsten Podcast mit Thomas Kleine-Brockhoff vom US-Thinktank German Marshall Fund of the US klang das ähnlich. Er geht davon aus, dass China aus der Lage in der Ukraine nicht den Schluss gezogen hat, sich besser aus Taiwan fernzuhalten: "Das heißt, auch in der Südchinesischen See haben wir es mit einer Zuspitzung zu tun. Die Gefahr nimmt zu, nicht ab." Und die Europäer sollten nach seiner Einschätzung dringend ihre Haltung in einem möglichen Krieg klären.2

Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Die Forderung nach einer Position des Westens hat mehrere Ebenen. Zuallererst ist da die Frage nach der Reaktion auf die humanitäre Katastrophe, die ein Krieg mit Toten, zerstörter Infrastruktur, traumatisierten Familien, Flucht und Verzweiflung immer bedeutet. In der Ukraine ist das bereits Realität, bei einem möglichen Waffengang in Taiwan wäre es dort kaum anders.

Und dann kommt noch die wirtschaftliche Tragweite dazu. Hier wiederum unterscheiden sich die Konfliktherde fundamental: Russland mag eine militärische Großmacht sein, spielt wirtschaftlich aber nur im globalen Mittelfeld. Die Wirtschaftsleistung des Landes steht und fällt mit dem Export von Öl und Erdgas - fossilen Rohstoffen also, von denen sich die Industriestaaten ohnehin verabschieden wollen. Mit dem Ausbau erneuerbarer Energien schwindet die Abgängigkeit des Westens von Russland immens.

Ganz anders beim schwelenden Konflikt um Taiwan. Als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt trägt China über 18 Prozent3 zum globalen Bruttoinlandsprodukt bei und ist nicht nur für Deutschland ein unersetzlicher Handelspartner. Über 60 Prozent4 der sogenannten Seltenen Erden, die unter anderem für die Produktion von Elektromotoren, Solarmodulen und Windkraftanlagen unerlässlich sind, werden aus der Volksrepublik importiert. Diese Abhängigkeit lässt sich schwer auflösen. Gerade der Übergang zu erneuerbaren Energien hängt zu großen Teilen davon ab, ob China weiterhin zuverlässig die nötigen Rohstoffe dafür liefert. Käme es im Zuge eines eskalierenden Taiwan-Konflikts also zu Exportstopps, stünde die Energiewende auf dem Spiel - oder würde zumindest erheblich ins Stocken geraten.

Dazu kommt die Schlüsselrolle Taiwans als Exportnation. Der Inselstaat, der etwa die Fläche des Bundeslands Baden-Württemberg hat, produziert aktuell 50 % aller Mikrochips weltweit5 sowie die modernsten Halbleiter der Welt - und ist aufgrund seines fortgeschrittenen technologischen Know-hows dabei fast konkurrenzlos. Schon jetzt ächzt die Wirtschaft unter einem Halbleiter-Mangel, der zu branchenübergreifenden Produktionsstillständen führt. Kriegsbedingte Lieferkettenprobleme würden diese Krise verschärfen und vielen Zukunftstechnologien vorerst das Fundament rauben.

Fest steht: Die Weltwirtschaft ist auf Taiwans High-Tech-Sektor angewiesen - und das gilt auch für China. Aktuell ist nämlich die Volksrepublik selbst der wichtigste Handelspartner des kleinen Nachbarn. Über 42 Prozent der Exporte Taiwans gehen nach China - vor allem Mikrochips und Halbleiterprodukte.6

Fazit

Der Ukraine-Konflikt zeigt, wie wichtig es ist, Abhängigkeiten von autokratischen Staaten zu reduzieren, um wirtschaftliche Stabilität und Resilienz zu sichern. Eine wichtige Lektion, die aber kaum helfen wird, sich auf einen möglichen Einmarsch Chinas in Taiwan vorzubereiten. Eine Eskalation dieses Konflikts würde den Westen in eine geostrategische Ausnahmesituation bringen. Zu einer neuerlichen humanitären Katastrophe käme eine weltwirtschaftliche Krise, der kurzfristig nur schwer beizukommen wäre.

Quellenangaben:

1 https://www.fidelity.de/fidelity-articles/themen-im-fokus/china-russland-taiwan-systemwettbewerb-welthandel/
2 https://www.fidelity.de/fidelity-articles/themen-im-fokus/usa-ukraine-taiwan-supermacht-biden-trump/
3 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/167632/umfrage/anteil-chinas-am-globalen-bruttoinlandsprodukt-bip/
4 https://de.statista.com/infografik/27806/weltweite-reserven-und-minenproduktion-von-seltenen-erden/
5 https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wirtschaft/international/2157105-Taiwan-produziert-jeden-zweiten-Mikrochip.html
6 https://www.dw.com/de/wie-abh%C3%A4ngig-ist-taiwan-von-china/a-62719805

Carsten Roemheld ist Kapitalmarktstratege bei Fidelity International. Er analysiert seit mehr als 25 Jahren die Finanzmärkte und schafft so die Grundlagen für informierte Anlageentscheidungen. Für seine Marktbeobachtungen kann er eines der größten globalen Research-Teams der Branche nutzen.