S&P Fokus Finanzmarkt

Britische Finanzinstitute müssen einen "Brexit" am meisten fürchten

30.06.15 11:32 Uhr

Ein möglicher Austritt Großbritanniens aus der Eurozone ("Brexit") stellt vor allem ein Risiko für die britischen Finanzdienstleister und exportlastigen Industriesektoren dar.

Ein solcher Brexit könnte die Handelsüberschüsse aus Finanzdienstleistungen von derzeit über drei Prozent des BIP deutlich mindern. Auch könnte ein Brexit zu einer Verlagerung des europäischen Ban-kenzentrums oder zumindest wichtiger Dienstleistungen weg vom Schwergewicht London hin zu Kon-tinentaleuropa führen. Zu diesem Ergebnis kommt Standard & Poor’s Ratings Services in ihrem kürzlich veröffentlichten Kommentar "Brexit Risk For The U.K. And Its Financial Services Sector: It’s Complica-ted".

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Angesichts der Pläne für ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft geht S&P stärker als bisher davon aus, dass die Wirtschaftspolitik in Großbritannien zunehmend eine Angelegenheit parteipolitischer Strömungen ist. Daher wurde Mitte Juni der Ausblick für das langfristige Kreditrating für Großbritanni-en von stabil auf negativ gesetzt.

Das Hauptszenario aus Sicht von Standard & Poor’s geht von einem Verbleib Großbritanniens in der EU aus. Das Referendum dazu ist erst für Ende 2017 vorgesehen. Selbst im Falle eines Brexits hält S&P es für wahrscheinlich, dass manche negativen wirtschaftlichen Auswirkungen durch alternative Vereinba-rungen abgemildert würden, etwa durch bilaterale Freihandelsabkommen oder eine Mitgliedschaft in der europäischen Freihandelszone EFTA. Sollten Verhandlungen darüber aber scheitern, würde ein "Nein" zur Eurozone ein Risiko für nachteilige Entwicklungen bedeuten.

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Finanzsektor leistet wesentlichen Teil für britische Wirtschaft Trotz der Finanzkrise leistet der Finanzsektor nach wie vor einen wesentlichen Beitrag für die britische Wirtschaft. Er bietet geschätzte 1,4 Millionen Arbeitsplätze, die Einnahmen des britischen Fiskus aus Einkommensteuer und Sozialversicherungen betragen 12 Prozent. Ein Brexit würde sehr wahrschein-lich den Zufluss von ausländischen Direktinvestitionen nach Großbritannien und insbesondere in den Finanzmarkt verringern sowie die Geschäftskosten zusätzlich verteuern. Ein potenzieller Ausstieg aus der EU stellt aus Sicht von Standard & Poor’s daher ein Risiko für diesen Wirtschaftszweig dar.

London ist Sprungbrett für außereuropäische Banken

London ist das größte Zentrum für Banken und Finanzmärkte weltweit. Banken außerhalb der EU nut-zen diesen Standort als Sprungbrett für ihre Operationen in der EU. Fast ein Fünftel der globalen Ban-kenaktivitäten finden derzeit in Großbritannien statt. Viele Banken sind in London, weil andere inter-nationale Finanzinstitute dort sind. Darin spiegelt sich all das wider, was London zu einem attraktiven Ballungsbereich im Finanzsektor macht:

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- eine Infrastruktur mit Börsen und Clearing-Häusern
- ein großes Angebot an qualifizierten Arbeitskräften mit internationalem Hintergrund und eine historisch positive Einstellung gegenüber gut ausgebildeten Immigranten
- ein großes Angebot an Dienstleistern
- eine günstige Zeitzone zwischen Asien und Amerika
- ein Rechtssystem mit einer Jahrhunderte langen Historie zum Schutz von Eigentums- und Gläubigerrechten sowie innovative Rechtsstrukturen für handelbare Wertpapiere

EU-Mitgliedschaft bringt Vorteile mit sich

Diese Stärken wären immer noch vorhanden, selbst wenn Großbritannien aus der EU austräte. Aller-dings stellt die Mitgliedschaft auch eine Stärke für die britische Finanzindustrie dar. Denn diese nutzt ihre damit verbundene Berechtigung intensiv, Bank- und Wertpapierhandelsdienstleistungen in der EU sowie im Europäischen Wirtschaftsraum EEA anzubieten. Selbst wenn die britischen Banken dieses sogenannte "passporting" aufrechterhalten könnten, würde ein Brexit den Trend verstärken, dass globale Banken ihr Risikomanagement zumindest teilweise aus Großbritannien weg verlagern und innerhalb ihrer eigenen Jurisdiktionen wie Frankfurt, Paris, Madrid oder Mailand ansiedeln könnten.

Von Frank Gill, Credit Analyst, Sector Sovereign Ratings, bei Standard & Poor’s Ratings Services in Ma-drid

Hier kommentieren jede Woche Analysten von Standard & Poor’s Credit Ratings Services (S&P) die Entwicklungen in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten - und welche Herausforderungen sich daraus für Wachstum und Stabilität ergeben. S&P ist seit 30 Jahren mit inzwischen neun Standorten in Europa vertreten, im Frankfurter Büro arbeiten 120 Mitarbeiter aus 19 Ländern. Mehr Infos unter www.spratings.de



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