Wirtschaftskrise

Die Lehren aus dem großen Crash

29.10.09 10:30 Uhr

Vor 80 Jahren kollabierte die Wall Street. Warum sich die Katastrophe 2009 nicht wiederholt hat.

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von Sven Parplies, €uro am Sonntag

Nichts deutet darauf hin, dass es ein Tag für die Geschichtsbücher werden würde. Sicher, der Dow Jones Industrial hat seit seinem Rekordhoch im September 20 Prozent an Wert verloren, liegt auf Jahressicht aber immer noch deutlich im Plus. Es gibt mahnende Worte, etwa vom Wirtschaftsforscher Roger Babson („Früher oder später kommt der Crash, und er kann schrecklich sein“), doch kann man diesen notorischen Pessimisten wirklich glauben? Schließlich sind die Aktienkurse fünf Jahre lang fast ununterbrochen gestiegen.

Die ersten Verkaufsorders am Morgen des 24. Oktober 1929, einem Donnerstag, weiten sich schnell zu einer Flut aus. Der Kursticker verweigert wegen Überlastung den Dienst. Draußen auf der Wall Street drängeln sich Menschen, besorgt oder von Schaulust getrieben. Polizei marschiert auf, um Tumulte zu verhindern. Meldungen, dass die wichtigsten Banker des Landes zu einer Krisensitzung zusammengetroffen sind, beruhigen Börsianer – die Banken würden die Kurse stützen; also konnte alles nicht so schlimm sein. Die Verluste gehen zurück, der Dow rettet sich mit einem Tagesverlust von zwei Prozent aus dem Handel. Doch der Schock sitzt tief.

Viele Investoren nutzen das Wochenende, um sich Gedanken zu machen. Und kommen zu demselben Ergebnis: verkaufen! Am Montag stürzt der Index um 13,5 Prozent, am Dienstag um fast zwölf Prozent. Drei Jahre lang, bis in den August 1932, fallen die Aktienkurse an der Wall Street, erholen sich nur moderat und stürzen 1937 erneut ab. Schlimmer noch: Der Börsencrash leitet die schlimmste Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts ein, die sich als Große Depression in das Bewusstsein der Amerikaner brennt, in Deutschland den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt.

Wie so viele Krisen beginnt auch der Kollaps von 1929 mit verdächtig vielen glücklichen Menschen. Die Börse haussiert. Von 1924 bis September 1929 ist der Dow Jones von knapp 100 auf 382 Punkte gestiegen und hat eine für jene Generation beispiellose Börseneuphorie ausgelöst. Und weil die Kurse scheinbar unaufhaltsam steigen, investieren viele Anleger – selbst bei Kreditzinsen von bis zu zwölf Prozent – auf Pump.

Als dann die Notenbanken, um die Börseneuphorie zu drosseln, die Zinsen erhöhen, kühlen sie die ohnehin bereits abflauende Konjunktur zusätzlich ab. Als mit zeitlicher Verzögerung die Aktienkurse purzeln, wird eine Lawine losgetreten: Anleger, die auf Kredit spekuliert haben, können ihre Schulden nicht bedienen und bringen die Banken in Bedrängnis; Sparer, die um die Zahlungsfähigkeit der Banken fürchten, ziehen ihre Ersparnisse von Konten ab und verschärfen die Bankenkrise. Nahezu jedes zweite Geldhaus in den USA muss Anfang der 1930er-Jahre geschlossen werden. Unternehmen reagieren auf die Krise mit Preis- sowie Lohnsenkungen und verstärken damit die verhängnisvolle Abwärtsspirale.

Die Fehler von 1929: Die US-Regierung senkt als Reaktion auf die Krise zunächst zwar die Steuern, aber so gering, dass die Entlastungen den Konsum nicht stützen können. Sonderzölle, mit denen die Staaten ihre Heimatmärkte schützen wollen, lähmen den Welthandel und schwächen die Wirtschaft zusätzlich. Versuche, ausfallende Steuereinnahmen durch höhere Abgaben auszugleichen, beschleunigen den Niedergang. Konsequenz: Die Industrieproduktion der USA halbiert sich, das Bruttoinlandsprodukt sinkt um mehr als 25 Prozent, die Arbeitslosenquote steigt in den USA im Jahr 1932 auf knapp 24 Prozent.

Kann sich das Desaster von 1929 wiederholen? Knapp 80 Jahre später wähnen Experten die Welt am Rande einer neuen Depression. Die Schockwellen, die der Kollaps der amerikanischen Immobilienblase und der Zusammenbruch der Investmentbank Lehman im Sommer 2008 auslösen, sind dramatisch: Die Industrieproduktion der USA sinkt zunächst ähnlich dramatisch wie in der ersten Phase der Großen Depression, in Deutschland sogar stärker.

Bedrohlich: Anders als 1929 hat die Finanzkrise ihren Ursprung im Bankensystem. Am Immobilienmarkt sind die Preise seit der Jahrtausendwende im Schnitt um mehr als 100 Prozent gestiegen, getrieben durch großzügig bis fahrlässig vergebene Kredite, die gebündelt zwischen den Banken gehandelt und zu deutlich überhöhtem Wert in die Bilanzen aufgenommen wurden. Als die Immobilienpreise einbrechen, platzt die Blase. Die Pleite von Lehman Brothers bringt den Geldverkehr zwischen den Banken fast zum Erliegen. Um die eigene Existenz nicht zu gefährden, verweigern Banken Kredite und bringen damit Unternehmen in Bedrängnis.

Was 2009 richtig gemacht wurde: Ben Bernanke, seit 2002 Chef der amerikanischen Fed, hat sich bereits als Professor an der amerikanische Eliteuniversität Princeton eingehend mit den Ursachen der Großen Depression befasst und eine wesentliche Lehre aus der Tragödie von 1929 gezogen: Die Banken haben eine Sonderstellung. Sollten sie in ernsthafte Probleme geraten, könnte das großen Schaden für die Gesamtwirtschaft anrichten. Er hoffe, die Zentralbanken hätten gelernt, dass sie „schnell und wirksam“ handeln müssten, erklärt Bernanke 2005 in einem Interview.

Mit der Finanzkrise hat Ber­nanke selbst Gelegenheit, seine theoretischen Erkenntnisse in die Realität umzusetzen: Ende 2008 senkt die Fed den Leitzins auf fast null Prozent und flutet die Märkte mit billigem Geld. Bei besonders gefährdeten Finanzunternehmen wie dem Versicherungskonzern AIG steigt der Staat direkt ein. Zusätzlich legen die Regierungen weltweit massive Konjunkturprogramme auf, um den Konsum zu stützen – das Bundeswirtschaftsministerium taxiert das Gesamtvolumen bis zum Jahr 2010 auf 2,9 Billionen Dollar, knapp fünf Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. „Die Wirtschaftspolitik, insbesondere die Fiskal- und Geldpolitik, hat schwerwiegende Fehler der 1930er-Jahre nicht wiederholt“, lobt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln in einer aktuellen Untersuchung.

Zugleich hilft der unaufhaltsame Aufstieg der Schwellenländer Asiens und Südamerikas. Staaten wie China und Brasilien sind selbst nicht unmittelbar von der Finanzkrise betroffen, anders als 1929 aber inzwischen wichtige Stützen des globalen Systems. Drei Viertel des weltweiten Wachstums dürften 2010 aus Schwellenländen kommen und damit den westlichen Industrienationen die Krisenbewältigung erleichtern. Chinas Wirtschaft etwa wird nach Hochrechnungen des Internationalen Währungsfonds im kommenden Jahr um fast neun Prozent zulegen – das entspräche einem Zuwachs von drei Prozent in den USA.

Ist die Finanzkrise wirklich überstanden? Unter dem Strich sei es unwahrscheinlich, dass die Welt in eine neue Große Depression abgleite, kalkuliert das IW Köln. Allerdings gebe es Risikofaktoren: Abschreibungsbedarf in den Bilanzen vieler Banken; Bestrebungen einzelner Staaten, neue Handelsschranken zu errichten; hohe Staatsverschuldung und steigende Arbeitslosigkeit. Die Börse hat wie fast immer ein feines Gespür: Der Dow Jones hat fast die Hälfte der Kursverluste seit Krisenbeginn bereits aufgeholt.

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