Die Welt im Kalten Krieg 2.0 - Eine geopolitische Analyse des ersten Quartals 2022
Das meistverwendete Wort dieser Tage heißt "Zeitenwende". Der Tag des Kriegsbeginns gegen die Ukraine reiht sich ein in eine Reihe von Daten, die jeder auch ohne Nennung des genauen Jahres erkennt: 8. Mai, 13. August, 9. November, 11. September - und jetzt 24. Februar. Künftige Historiker werden ihn als Tag des Beginns einer neuen Weltordnung beschreiben.
Noch wird der Blick auf die neuen Realitäten dieser Weltordnung verschleiert durch "shock and awe" das täglichen Kriegsgeschehens. Die hektische Berichterstattung von "embedded journalists" bringt das Kriegsgeschehen fast zeitgleich in unsere Wohnzimmer. Die schon heute erkennbaren langfristigen Folgen dieses Krieges drohen dahinter in Unkenntlichkeit zu versinken. Dennoch ist es notwendig, diese Strukturen, wie sie immer deutlicher zu erkennen sind, klar zu benennen:
• Nach einer langen Ära der Globalisierung, des Multilateralismus und der Hoffnung auf globale Kooperation hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine uns auf den harten Boden geopolitischer Tatsachen zurückgeholt.
• "Putins Krieg" ist der erste Stellvertreterkrieg an der Schnittstelle der neuen Ost-West-Konfrontation im Kalten Krieg 2.0. • Es geht um die Abwehr westlicher Werte- und Systemvorstellungen, aber auch um traditionelle Einflusssphären und nicht zuletzt um Märkte, Ressourcen und Technologie.
• Die Politik des Westens seit der Zeitenwende von 1989 hat dazu geführt, dass aus zwei skeptischen Partnern eine Zweckgemeinschaft geworden ist, die mittlerweile die Kraft zu haben glaubt, die Politik eben dieses Westens offensiv herauszufordern. Dabei zeichnet sich durchaus eine besorgniserregende Arbeitsteilung ab: Das Kunstwort "Drachenbär" hat seine sicherheitspolitische Berechtigung.
• Putin führt in der Ukraine den Krieg, den Xi Jinping im Westpazifik noch nicht zu führen bereit oder in der Lage ist!!! Und dennoch: Der Gewinner in dieser geopolitischen Auseinandersetzung ist mit Sicherheit China. Ohne eigenes Risiko wird der Westen herausgefordert - und in seine Schranken gewiesen - während China sogar mit dem Image des Moderators spielen kann.
Putins Krieg
Noch sind die Kriegshandlungen in der Ukraine mit täglich schrecklicheren Folgen im Gange. Dennoch zeigt sich bereits in ersten Ansätzen, was die russische Invasion und damit der erste Angriffskrieg auf europäischem Boden seit dem deutschen Angriff auf Polen 1939 für Folgen haben wird. Es wird niemanden in der europäischen Union oder im Westen gefallen, aber es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass die russische Perspektive auf die europäische Sicherheitsordnung, wie sie nach 1989 entstanden ist, eine völlig andere ist als die, auf die wir zu Recht mit Stolz verwiesen haben. Natürlich bedroht die NATO aus unserer Perspektive niemanden, aber die russischen Sicherheitseliten und insbesondere der Präsident Putin haben dies gänzlich anders interpretiert. Einer erfolgreichen Geopolitik des Westens fehlt die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich in das strategische Denken andere Akteure und ihre Interessen hinein zu denken und - ohne diese akzeptieren zu müssen - auf mögliche Konsequenzen dieses Denkens vorbereitet zu sein.Der Angriff auf die Ukraine kam zwar mitten in der Nacht, war aber beileibe keine Nacht- und Nebelaktion. Er war über Monate konsequent und Schritt für Schritt vor den Augen westlicher Sicherheitsexperten durch die Stationierung von bis zu 150.000 Soldaten mit schwerstem militärischem Gerät vorbereitet worden. Putin hat dem gesamten Westen die Grenzen der Diplomatie aufgezeigt, weil er letztendlich andere strategische Ziele verfolgte als diejenigen, die mehr oder weniger intensiv an diplomatischen Lösungsvorschlägen gearbeitet haben.
Chinas Rolle
Chinas Haltung wirkt auf den ersten Blick disparat, weil unterschiedliche Interessenbündel einander zu widersprechen scheinen. Einem unklaren Ergebnis des Zusammentreffens von Xi Jinping und Putin während der Olympiade folgt die klare Aussage des chinesischen Außenministers auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass die Souveränität aller Mitgliedstaaten der UNO, einschließlich der Ukraine, zu wahren sei. Die offizielle Sprache Regelung der chinesischen Regierung folgt allerdings mehr oder weniger der Linie der russischen Propaganda, die die NATO-Osterweiterung kritisiert und damit dem Westen die Schuld für den Konflikt zuweist. Der chinesische Präsident wiederum zeigt sich besorgt über die Auswirkungen des Krieges und schweigt sich über eine mögliche Unterstützung Russlands in diesem Konflikt aus. Offiziell behauptet Peking, keine militärische Unterstützung für Putins krieg zu leisten.Geopolitisch steht China eindeutig auf der Seite Russlands, wenn es an eine Kritik der westlichen Politik geht. Ökonomisch allerdings hat China erhebliche Interessen in der Ukraine, vor allem aber daran, dass weltwirtschaftliche Folgen sich in einem ohnehin schwierigen Jahr nicht negativ auf die chinesischen Wachstumschancen auswirken. Noch hält der chinesische Präsident diesen schwierigen Spagat aufrecht. Ob und wie er ihn aufgibt, ist derzeit unklar.
Präsident Biden droht mit Sanktionen, sollte China Russland militärisch unterstützen. Gleichzeitig sind die USA und viele NATO-Partner bereit, genau dieses gegenüber der Ukraine zu tun. Und die deutsche Bundesregierung muss sich wieder einmal dafür kritisieren lassen, weil sie nicht genug von dem tut, was China auf keinen Fall tun darf. Die Logik leidet in Zeiten des Krieges genauso wie die Wahrheit.
Drachenbär - Eine hochriskante sicherheitspolitische Kooperation zu Lasten des Westens Den Bären haben wir durch Missachtung seiner Schutzbedürfnisse so lange gereizt, bis er zu gebissen hat. Wir wären gut beraten einen ähnlichen Fehler mit dem chinesischen Drachen nicht zu machen. Denn aus der Einschätzung der Entwicklungen um die Ukraine lässt sich eine fundamentale Leere im Umgang mit China ableiten: Wer dem Drachen lange genug droht, darf sich nicht wundern, wenn der Drache sich plötzlich umdreht und Feuer spuckt. Dies gilt insbesondere für geradezu verantwortungslose Versuche amerikanischer Politiker - gelegentlich im Verbund mit europäischen Parlamentariern, denen die notwendige Sachkenntnis ganz offensichtlich fehlt - die Taiwanfrage als Sack zu benutzen, um den Esel China zu treffen.
Und eigentlich sollte es uns mehr als verwundern, dass die Kriegsberichterstattung die tagtägliche Konzentration auf Corona-Kurven, aber auch die Aufregung über Menschenrechtsverletzungen in China fast gänzlich verdrängt hat.
Geoökonomische Folgen
• Globalisierung wird politisiert• Lieferketten werden versicherheitlicht
• Technologie wird vom Innovationsinstrument zum Machtfaktor
• Sanktionen bleiben Ausdruck symbolischer Hilflosigkeit
• Die Rückkehr der Eindämmungspolitik
• Zukunftsbranchen verlieren nicht ihre Bedeutung (Technologie, Biotech)
• Fundamentaldaten behalten ihre Aussagekraft (Dividenden).
Gerade in Zeiten beschleunigter Umbrüche bleiben die fundamentalen Leistungsdaten von Unternehmen wichtig, sie verändern sich nicht von heute auf morgen und bilden die Grundlage für die zukünftige Leistungsfähigkeit. Hier investiert zu sein und zu bleiben, ist auch in Zeiten steigender geopolitischer Risiken sinnvoll.
von Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Experte für Politik Chinas und Internationale Politik
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