Die Truthahn-Illusion
"Man kann sich wohl in einer Idee irren, man kann sich aber nicht mit dem Herzen irren." - Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Am 25. November 2021 feierten die Amerikaner wieder Thanksgiving, ihr Erntedankfest. Der wichtigste Teil ist das abendliche Festessen. Es besteht aus gefülltem Truthahn. Mal angenommen, Sie wären ein Truthahn. Wie würde es Ihnen ergehen? Am ersten Tag Ihres Lebens kommt ein unbekannter Mann zu Ihnen und füttert Sie. Sie sind noch jung, unerfahren und fürchten um Ihr Leben. Mit jedem Tag, an dem Sie Nahrung erhalten, gewinnen Sie Zuversicht und kommen zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit umgebracht zu werden mit jedem Tag sinkt. Am hundertsten Tag sind Sie sich fast sicher, dass der Mann Sie wieder füttern wird. Was Sie aber nicht wissen: Es ist Thanksgiving, der Tag an dem der Truthahn auf den Tisch kommt. Sie werden geschlachtet - welch eine böse Überraschung!
In unserem Beispiel hat der Truthahn die Schlachtung, den Trendbruch seines Lebens, nicht kommen sehen. Dazu hätte er die Ursachen des Trends erkennen und die Motivation des Menschen, der ihn gefüttert hat, verstehen müssen. Aufgrund der fehlenden Informationen konnte der Truthahn dies unmöglich erkennen. Nicht jeder Trend muss brechen. Doch überraschende Trendbrüche werden für uns dann vorhersehbar, wenn wir die Ursachen bzw. die Rahmenbedingungen für diesen Trend kennen. Um über den Tellerrand hinauszublicken und bekannte oder vertraute Denkmuster zu verlassen, braucht es Kreativität und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel.
Wie treffen wir Entscheidungen in einer komplexen Welt?
Zugegeben, der Truthahn hat in seinem Leben vermutlich nur einen geringen Handlungsspielraum. Wir Menschen hingegen haben immer die Wahl, wie wir reagieren wollen. Diese Erkenntnis unserer Wahlmöglichkeiten gibt uns unseren inneren Handlungsspielraum zurück, selbst wenn die Komplexität unserer Umwelt zunimmt. Daran wachsen wir und reifen in der Qualität unserer Entscheidungen. Kurzum: wir werden besser.
Manche Menschen glauben, dass man alle unbekannten Risiken berechnen kann. Wissenschaftler haben komplexe Modelle und Algorithmen entwickelt auf deren Basis Computer oder Roboter Entscheidungen treffen. Gefüttert wurden diese künstlichen Intelligenzen mit zahlreichen Daten der Vergangenheit, auf deren Basis Annahmen und Entscheidungen für die Zukunft getroffen werden. Professor Gerd Gigerenzer, seit 2020 Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, hat auf folgende Irrtümer in Bezug auf die Entscheidungsfindung hingewiesen:
Die Intuition ist zweitklassig, ein bewusstes Abwägen der vorhandenen Optionen ist immer besser. Komplexe Probleme erfordern immer komplexe Lösungen. Mehr Informationen, genaue Berechnungen und ausreichend Zeit führen zu besseren Ergebnissen.
Daraus zieht Gigerenzer folgende Schlüsse: Komplexe Optimierungen und der Einsatz von Big Data machen dann Sinn, wenn die Ausgangslage stabil ist, es wenig Alternativen gibt und viele Daten verfügbar sind. Dann gilt der Grundsatz: "Mach es komplex!" Dazu gehört das Schachspiel zwischen Mensch und Computer. Wenn jedoch eine unstabile Situation mit vielen unbekannten Faktoren wie die Lage am Kapitalmarkt vorliegt, dann liefern die komplexen Modelle meist keine brauchbaren Ergebnisse, da sie mit vielen Annahmen und Schätzungen arbeiten.
Wenn es dazu noch viele Alternativen gibt und wenig Daten vorliegen wie in der aktuellen Corona-Pandemie, dann helfen Algorithmen nicht in der Entscheidungsfindung. In diesen Fall hält Professor Gigerenzer eine intuitive gesunde Bauchentscheidung für besser. Hier gilt der Grundsatz: "Mach es einfach!" Die Kunst mit begrenztem Wissen, unvollständigen Informationen und wenig Zeit zu wahrscheinlichen Aussagen zu praktikablen Lösungen zu kommen. Dabei geht es Gigerenzer um unseren Selbstreflexionsprozess. Wir werden gezwungen, uns mit unseren Erwartungssystemen auseinanderzusetzen und überlassen die Entscheidungen nicht dem Computer. Wir übernehmen Verantwortung für unser Leben. Letztlich hängen unser Erfolg, unsere Zukunft und unser gutes Leben von unserem Erwartungsmanagement ab. Was wollen wir und was erwarten wir? Wenn wir scheitern, dann scheitern wir an falschen Risikoeinschätzungen und den damit verbundenen Fehlallokationen.
Dies gilt für die Vermögensallokation genauso wie im privaten Bereich und im öffentlichen Leben. Wir leben in einer komplexen, unübersichtlichen Welt mit vielen unbekannten Einflussfaktoren. Doch anstatt zu vereinfachen und heuristische Modelle einzusetzen um zu praktikablen Lösungen mit guten Ergebnissen zu gelangen, machen wir das Gegenteil. Aus Unsicherheit vor der Zukunft machen wir die Systeme noch komplizierter, noch unübersichtlicher und haben Angst, einfache Entscheidungen zu treffen. Dies gilt für viele Organisationsabläufe in den Unternehmen, für die Risikomodelle in den Banken und unser öffentliches Leben im Allgemeinen. Die Bürokratie und die Komplexität im Alltag haben deutlich zugenommen.
Heuristik in der Geldanlage
Gestärkt durch diese Erkenntnisse dürfen wir ganz bewusst vereinfachen ohne Gefahr zu laufen, dass sich die Ergebnisse signifikant verschlechtern. Im Gegenteil - wir finden mehr Zeit uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, auf das Portfolio- und Risikomanagement. Wir reduzieren die Komplexität ganz bewusst und finden einfache und überzeugende Lösungen. Je nach Risikoklasse verteilen wir Vermögen gleichmäßig und verzichten auf Überoptimierungen. "Mache die Dinge so einfach wie möglich - aber nicht einfacher." (Albert Einstein).
von Wolfgang Juds, Geschäftsführer der CREDO Vermögensmanagement GmbH in Nürnberg
Immer mehr Privatanleger in Deutschland vertrauen bei ihrer Geldanlage auf bankenunabhängige Vermögensverwalter. Frei von Produkt- und Verkaufsinteressen können sie ihre Mandanten bestmöglich beraten. Mehr Informationen finden Sie unter www.v-bank.com.
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