Tausende protestieren gegen Festnahme von Erdogan-Rivale
ISTANBUL (dpa-AFX) - Tausende Menschen haben in der Türkei gegen die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu protestiert. In Istanbul und der Hauptstadt Ankara forderte die Menge Präsident Recep Tayyip Erdogan zum Rücktritt auf und warfen ihm vor, durch die Festnahme seinen größten Rivalen ausschalten zu wollen. Am Rande der Proteste kam es zu Ausschreitungen und Festnahmen, wie Medien berichteten. Imamoglus Partei CHP, die wichtigste Oppositionskraft in der Türkei, sprach von einem versuchten Staatsstreich. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bezeichnete die Festnahme als "äußerst besorgniserregend".
Imamoglu gilt als vielleicht wichtigster Gegner und potenziell aussichtsreichster Herausforderer des autoritär regierenden Staatschefs Erdogan bei der für 2028 angesetzten Präsidentenwahl. Die sozialdemokratische CHP wollte ihn am Sonntag zu ihrem Kandidaten wählen. Erdogan äußerte sich bisher nicht zu dem Fall - auch nicht am Abend in einer Rede. Kritik am Vorgehen gegen Imamoglu gab es nicht nur in der Türkei und aus Brüssel, auch in Berlin wurde demonstriert.
Imamoglu war am Mittwochmorgen bei einer großangelegten Razzia festgenommen worden. Die Ermittlungsbehörden, die Kritikern zufolge von Erdogan für politische Zwecke instrumentalisiert werden, werfen ihm Korruption und Terror-Unterstützung vor. Mit Imamoglu wurden laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mindestens 87 weitere Personen festgenommen, gegen 106 werde insgesamt ermittelt.
Imamoglu wurde nach seiner Festnahme in die Polizeidirektion in Istanbul gebracht und soll dort eine Aussage machen. Laut der türkischen Anwaltsvereinigung könnte die Aufnahme aller Aussagen bis Sonntag dauern.
Aktuellen Umfragen zufolge hätte Imamoglu gute Chancen auf einen Sieg bei der kommenden Präsidentschaftswahl gehabt. Erdogan führt die Türkei seit mehr als 20 Jahren als Regierungschef oder Präsident und war einst selbst Bürgermeister von Istanbul. Er darf laut geltender Verfassung beim regulären Wahltermin 2028 kein weiteres Mal als Präsidentschaftskandidat antreten - es sei denn, das Parlament stimmt für vorgezogene Neuwahlen. Dafür brauchen seine Partei und ihre Verbündeten im Parlament Stimmen der Opposition.
Demonstrationsverbot in Provinz Istanbul
In der Provinz Istanbul wurden Demonstrationen auf Anordnung des Gouverneurs der Provinz für vier Tage verboten. Etliche soziale Netzwerke sowie Kurznachrichtendienste waren nur eingeschränkt nutzbar. Der türkische Justizminister Yilmaz Tunc hatte am Mittwoch vor Protesten gewarnt und es "anmaßend" genannt, die von der Justiz eingeleiteten Ermittlungen mit Erdogan in Verbindung zu bringen.
Dagegen kritisierte CHP-Chef Özgür Özel, die Türkei erlebe "einen Putschversuch gegen den nächsten potenziellen Präsidenten". Er wandte sich direkt an Erdogan und warf dem Staatschef vor, nur deshalb gegen Imamoglu vorzugehen, weil der ihn in einer freien Wahl besiegen werde.
EU-Kommissionschefin von der Leyen sagte bei einer Pressekonferenz in Brüssel, die Türkei müsse als Mitglied des Europarats und EU-Beitrittskandidat demokratische Werte und insbesondere die Rechte gewählter Amtsträger achten. "Wir wollen, dass die Türkei in Europa verankert bleibt, aber dies erfordert ein klares Bekenntnis zu demokratischen Normen und Praktiken", sagte die Deutsche.
"Es ist eine Art des zivilen Coups"
In den Anadolu-Berichten heißt es, Hintergrund der Terror-Ermittlungen sei eine Kooperation zwischen der CHP und der prokurdischen Dem-Partei bei den Kommunalwahlen. Die Parteien hatten zusammengearbeitet, um in Gemeinden Mehrheiten zu gewinnen.
Die auf türkische Politik spezialisierte Expertin Hürcan Asl? Aksoy sagte tagesschau.de, es sei das erste Mal in der Geschichte, dass die türkische Regierung sogar partei-interne Wahlen verhindere. "Es ist ein Schritt zum vollen Autoritarismus. Es ist eine Art des zivilen Coups", sagte Aksoy. Die Regierung in Ankara wisse ganz genau, dass derzeit weder von der EU noch von den USA ernstzunehmende Reaktionen auf das innenpolitische Vorgehen zu befürchten seien.
Droht eine Amtsenthebung?
Es sind nicht die ersten Terror-Ermittlungen gegen politische Amtsträger und Erdogan-Gegner in der Türkei. Vor allem Bürgermeister der prokurdischen Dem-Partei wurden zuletzt wegen solcher Ermittlungen ihres Amtes enthoben und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt. Ob es auch im Falle Imamoglu so kommen könnte, ist unklar. Neben ihm wurden unter anderem Bürgermeister von zwei Istanbuler Gemeinden und ein bekannter Sänger festgenommen.
Neue Repressionswelle im Gang
Die geplante Kür Imamoglus zum Präsidentschaftskandidaten der CHP so lange vor der Wahl könnte darauf zurückzuführen sein, dass ihn seine Partei vor politischen Repressionen schützen wollte. Ihm drohen in einer Reihe weiterer Verfahren Haftstrafen und Politikverbote, wobei Imamoglu jegliche Schuld bestreitet.
Seit Monaten mehren sich juristische Verfahren gegen Mitglieder der Opposition und der Zivilgesellschaft. Die Justiz in der Türkei gilt als politisiert. Ebenfalls am Mittwoch wurde der Investigativjournalist Ismail Saymaz in Zusammenhang mit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 festgenommen.
Imamoglus Sieg bei der Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul, der bevölkerungsreichsten Stadt und Provinz, gilt als bis dahin größte Niederlage der Partei Erdogans. Seine islamisch-konservative AKP hatte die Metropole bis dahin regiert. Bei den Kommunalwahlen 2024 gewann Imamoglu in Istanbul dann sogar ein weiteres Mal./hme/DP/stk