ROUNDUP: Erdogan-Rivale muss in U-Haft - mehr Proteste erwartet
ISTANBUL (dpa-AFX) - Die Entscheidung war von vielen in der Türkei erwartet worden, sie erschüttert das Land aber dennoch: Der Istanbuler Bürgermeister und aussichtsreiche Herausforderer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, Ekrem Imamoglu, muss in Untersuchungshaft.
Ein Gericht in Istanbul folgte damit der Forderung der Staatsanwaltschaft. Die Entscheidung erfolgt an dem Tag, an dem ihn seine Partei CHP zum Präsidentschaftskandidaten wählt. Auf Bildern in Medien waren lange Schlangen vor Wahlboxen zu sehen. Beobachter erwarten eine Ausweitung der Proteste. Die Regierung hat davor bereits gewarnt.
Imamoglu war am Mittwoch mit Dutzenden weiteren Menschen festgenommen worden. Ihm werden Terror- und Korruptionsvorwürfe in zwei Verfahren gemacht. Die Untersuchungshaft wurde nur im Korruptionsverfahren und nicht im Kontext der Terrorermittlungen angeordnet, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu schrieb.
Imamoglu weist alle Vorwürfe zurück. CHP-Parteichef Özgür Özel sagte, es gebe Hinweise darauf, dass Imamoglu in das Marmara-Gefängnis in Silivri gebracht werde.
Hintergrund der Terrorermittlungen gegen Imamoglu ist laut Anadolu eine Kooperation zwischen der CHP und der prokurdischen Dem-Partei bei den Kommunalwahlen. Über diese Kooperation habe die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK versucht, ihren Einfluss auszuweiten, zitierte Anadolu am Mittwoch die Generalstaatsanwaltschaft.
Großer Zulauf an Wahlurnen
Neben Imamoglu wurden auch zwei Bezirksbürgermeister Istanbuls und Imamoglus Berater in Untersuchungshaft geschickt. Insgesamt wird in beiden Verfahren gegen 106 Personen ermittelt.
Das Vorgehen gegen den populären Istanbuler Bürgermeister hat in vielen Städten des Landes Zehntausende auf die Straße getrieben - in Solidarität mit Imamoglu und in Opposition zu Regierung. Dabei kam es zu Hunderten Festnahmen und Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten.
Zahlreiche drücken ihren Protest auch an der Wahlurne aus. Die CHP wählt Imamoglu heute zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Zur Stimmabgabe aufgerufen sind die 1,7 Millionen CHP-Parteimitglieder. Auch jeder andere Bürger kann an symbolischen Stimmzettelboxen in Solidarität mit Imamoglu seine Stimme abgeben. Imamoglu ist der einzige Kandidat.
Der Sender Halk TV zeigte am Morgen Bilder von Schlangen vor Wahllokalen in Städten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Kahramanmaras und Adiyaman. Offizieller Kandidat ist Imamoglu erst, wenn die als regierungsfreundlich geltende türkische Wahlbehörde YSK seine Kandidatur bestätigt.
Sollten die Terrorermittlungen bis dahin nicht aufgegeben worden sein, ist die Annahme seiner Kandidatur unwahrscheinlich. Zudem wurde Imamoglu in dieser Woche der Universitätsabschluss aberkannt. Die Entscheidung ist noch nicht endgültig.
Ein Abschluss ist Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur in der Türkei. Die Kandidatur eines weiteren Aspiranten ist möglich. Der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, gilt als potenzieller Anwärter.
Imamoglus Partei spricht von "zivilem Putsch"
Die Partei Imamoglus übt scharfe Kritik an dem Vorgehen gegen Imamoglu und nennt es einen "zivilen Putsch", mit dem Erdogan seinen schärfsten Gegenkandidaten ausschalten wolle. Die Vorwürfe basierten auf fingierten Fakten, hieß es.
Ein Parteimitglied sagte, die Entscheidung des Richters zur Untersuchungshaft sei in der Geschwindigkeit nur machbar, wenn das Urteil bereits in der Schublade liegt. Die Partei Erdogans wehrt sich gegen den Vorwurf, die Justiz zu beeinflussen und nennt die türkische Justiz unabhängig.
Generalstaatsanwalt aus anderen Verfahren bekannt
Die Ermittlungen führt die Istanbuler Staatsanwaltschaft. Der Vorsitzende Generalstaatsanwalt ist aus anderen Verfahren gegen Oppositionspolitiker bekannt. Akin Gürlek war einst der Richter, der das scharf kritisierte Hafturteil gegen den ehemalige Vorsitzenden der prokurdischen Partei, Selahattin Demirtas, verhängte. Imamoglu wird in einem anderen Verfahren Beleidigung Gürleks vorgeworfen.
Über Imamoglu und seiner Partei schwebt außerdem die drohende Einsetzung von Zwangsverwaltern - für das Amt des Istanbuler Bürgermeisters als auch für die Partei. In der Türkei wurden bereits zahlreiche Bürgermeister der Dem-Partei und kürzlich auch der CHP wegen Terrorermittlungen ihres Amtes enthoben und durch regierungsnahe Zwangsverwalter ersetzt.
Die Absetzung des Bürgermeisters der 16-Millionen-Metropole Istanbul und in der größten Oppositionspartei wären beispiellose Vorgänge.
Damaliger Wahlsieg Imamoglus gilt als herbe Niederlage für AKP
Imamoglus Sieg 2019 in Istanbul gilt als eine herbe Niederlage der AKP-Partei Erdogans, die die Großstadt bis dahin regierte. Imamoglu gewann in Istanbul 2024 ein weiteres Mal. Istanbul ist die bevölkerungsreichste Metropole des Landes und sowohl politisch als wirtschaftlich von zentraler Bedeutung. Politisch wird die Kontrolle über Istanbul oft als Symbol für den allgemeinen politischen Einfluss im Land gesehen.
In Istanbul hatte einst auch Erdogans Aufstieg seinen Anfang genommen, als er 1994 dort zum Bürgermeister gewählt wurde./apo/DP/mis