Wirecard-Aktie im Sinkflug: Ein ehemaliger Börsenstar verschwindet von der Bildfläche - Geldwäsche-Fahnder prüfen 144 'relevante Vorgänge'
Derzeit werden in Aschheim bei München nach einer jahrelangen Party in der High Society die Scherben zusammen gekehrt.
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Der dort ansässige Zahlungsdienstleister Wirecard wurde zum Börsenstar mit internationaler Resonanz, stieg in die erste deutsche Börsenliga auf. Er galt als deutsche Antwort auf die wachstumsträchtigen Technologieunternehmen, die sonst meist in den USA angesiedelt sind. Doch dann kam der Bilanzskandal, die Insolvenz und nun die Erkenntnis: In der Substanz ist nicht viel zu holen. Die Papiere gehören jetzt zur Kategorie "Pennystock". Was bei dem Unternehmen los ist, was die Analysten sagen und was die Aktie macht.
DAS IST LOS BEI WIRECARD:
Umstritten war das Geschäftsgebaren von Wirecard schon seit Jahren. So richtig begann das Desaster aber erst Anfang 2019 mit Vorwürfen der "Financial Times" - und mündete in einen Bilanzskandal mit Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro, wie sich im Juni dieses Jahres herausstellte. Binnen weniger Tage brach das Kartenhaus in sich zusammen, der Konzern musste Insolvenz anmelden. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass seit 2015 Scheingewinne ausgewiesen wurden. Ex-Vorstandschef Markus Braun sitzt in Untersuchungshaft, nach dem flüchtigen Ex-Vorstand Jan Marsalek fahndet das Bundeskriminalamt. Marsalek war für das operative Geschäft zuständig gewesen.
Zwei Monate nach dem Insolvenzantrag hat das Amtsgericht München das Verfahren eröffnet. Für den Insolvenzverwalter Michael Jaffé wird die Verwertung der Unternehmensteile zu einer Mammutaufgabe. Die Rahmenbedingungen, wie er jüngst betonte, seien "ausgesprochen schwierig". Das operative Geschäft wird vollständig in einer Vielzahl von Tochtergesellschaften in aller Welt abgewickelt. Eine sehr komplizierte Unternehmensstruktur ist längst bekannt, vielleicht hat dies auch den Aufsichts- und Kontrollinstanzen ihre Arbeit erschwert. Auch diese müssen im Fall Wirecard starke Kritik einstecken.
Jaffé hat nun also das Zepter in der Hand, um für Gläubiger, Investoren und Mitarbeiter noch etwas zu retten. Für letztere gibt es tiefe Einschnitte. Viele Beschäftigte wurden jüngst per Mail über ihre Freistellung informiert. 730 von ihnen sollen vor die Tür gesetzt werden, in etwa die Hälfte der Stellen wird damit wegfallen.
Aber auch für die Gläubiger und Investoren gibt es offenbar wenig Hoffnung. Laut dem "Handelsblatt" zeichnet der Insolvenzbericht von Jaffé, der der Zeitung vorliegt, ein erschreckendes Bild. Frei verfügbare Finanzmittel soll es demnach kaum welche geben, die Liquiditätslücke liege laut dem Bericht bei 99 Prozent. 3,2 Milliarden Euro sollen die Verbindlichkeiten schwer sein, die Vermögenswerte sollen laut der Zeitung aber nur mit 428 Millionen Euro angesetzt worden sein.
Immerhin kommt aber die Zerschlagung schrittweise voran. Für die brasilianische Tochter wurde bereits ein Käufer gefunden und bei jener in Nordamerika gilt die Veräußerung als weit fortgeschritten. Für Teile der britischen Wirecard Card Solutions wurde eine Grundsatzvereinbarung mit der Londoner Railsbank erzielt. Für das Kerngeschäft heißt es zumindest, dass es namhafte Interessenten gibt. Für die Wirecard Bank, die selbst nicht von der Insolvenz betroffen ist, sollen ebenfalls erste Angebote vorliegen.
DAS SAGEN DIE ANALYSTEN:
Der Fall Wirecard ist für die Analystengemeinde eine große Blamage. Zu lange haben auch sie an das Erfolgsmodell geglaubt, den Beteuerungen des Managements und den Testaten des Wirtschaftsprüfers EY vertraut. So hatte das durchschnittliche Kursziel Mitte Juni - also wenige Tage vor dem Auffliegen des Milliardenlochs in der Bilanz - der damals 25 von Bloomberg erfassten Experten noch bei 155 Euro gelegen.
Die Spanne reichte dabei von 80 Euro bis immerhin 270 Euro - wert war die Aktie damals noch etwas mehr als 100 Euro. Zehn Analysten hatten die Aktie Mitte Juni noch zum Kauf empfohlen, 13 zum Halten und nur zwei zum Verkauf. Anfang des Jahres, als zumindest die Vorwürfe schon im Raum gestanden hatten, sah das Bild noch deutlicher aus. Das durchschnittliche Kursziel lag bei 190 Euro und 21 der damals 29 erfassten Analysten gaben eine Kaufempfehlung ab.
Inzwischen ist das Papier für die Aktienexperten ein rotes Tuch. Die meisten Analysten haben die Beobachtung der Aktie mittlerweile eingestellt, darunter die Analysten der Baader Bank, der NordLB und von Warburg Research. Wolfgang Donie von der NordLB, der die Aktie bereits im April auf Halten abgestuft hatte, riet den Anlegern zum Schluss "weiterhin dringend von spekulativen Investments bei Wirecard ab."
Schon vor dem düsteren Bild, dass der Insolvenzbericht abzugeben scheint, machte Donie den Anlegern nur wenig Hoffnung, dass sie im Rahmen der Insolvenzabwicklung etwas von der erzielten Masse abbekommen werden. "Auch wenn die Zerschlagung vielleicht einige Arbeitsplätze retten kann, die Aktionäre dürften mit überwiegender Wahrscheinlichkeit leer ausgehen", betonte der Experte. Er hält es für wahrscheinlich, dass selbst die Gläubiger auf großen Teilen ihrer Forderungen sitzen bleiben werden.
Kursziele nennt kaum noch ein Experte. Seit der Zuspitzung der Situation Mitte Juni gibt es im dpa-AFX Analyser lediglich zwei neuere Zielmarken mit maximal einem Euro. Der NordLB-Experte Donie ging in seiner Abschlussstudie noch einen Schritt weiter und senkte das Kursziel von einem Euro auf nur noch zehn Cent. Auch damit untermauerte er seine Einschätzung, dass die Aktie nichts mehr für Anleger ist. "Pennystocks" sind im Allgemeinen wegen einer höheren Schwankungsbreite eher bei Zockern beliebt.
DAS MACHT DIE AKTIE:
Der Status als "Pennystock", also einer Aktie mit einem Wert von unter einem Euro, ist für Wirecard Realität geworden. Sie spielen damit in einer Liga mit berüchtigten Namen wie etwa Steinhoff. Dem Möbelkonzern waren 2017 ebenfalls Unregelmäßigkeiten in der Bilanz zum Verhängnis geworden - das Papier stürzte ab und kostet derzeit nur noch knapp fünf Cent das Stück, nachdem es Mitte 2016 noch mehr als sechs Euro gekostet hatte.
Der erste Kursrutsch bei Wirecard hatte vor etwa zwei Jahren begonnen, nachdem sie bei fast 200 Euro ihren Rekord aufgestellt hatten. Vom späteren Einbruch bis deutlich unter 100 Euro, als Anfang 2019 die Vorwürfe lauter wurden, konnten sie sich über Monate nicht mehr eindeutig erholen. Der große Knall kam dann Mitte Juni, als Wirecard die Luftbuchungen eingestehen und in die Insolvenz gehen musste: Davor noch zu etwa 100 Euro gehandelt, setzte der freie Fall ein.
Die Kapriolen bei einem deutschen Unternehmen waren auch den DAX-Entscheidern so unangenehm, dass die Voraussetzungen für die Indexmitgliedschaft fix geändert wurden, um die plötzlich unbeliebte Aktie aus dem Rampenlicht des deutschen Leitindex nehmen zu können. Gemäß den neuen Bestimmungen sollen insolvente Unternehmen nun mit einer Frist von zwei Handelstagen in den DAX-Indizes ersetzt werden. Der Platz von Wirecard ging an den Essenslieferdienst Delivery Hero.
Wirecard-Konsequenzen: Ministerin kündigt Vorschläge für September an
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hat für September umfassende Vorschläge der Bundesregierung zu Konsequenzen aus dem Wirecard-Skandal angekündigt. Sie sprach am Montag nach einer Sondersitzung des Bundestags-Finanzausschusses von einem Gesamtpaket. Auf Fälle wie bei Wirecard solle künftig konsequent reagiert werden. >Lambrecht sagte, es bestehe Handlungsbedarf. Innerhalb der Bundesregierung werde "unter Hochdruck" an Maßnahmen gearbeitet. So sollten Rotationsfristen bei Wirtschaftsprüfern deutlich verlängert werden.
Wirecard-Skandal: Geldwäsche-Fahnder prüfen 144 'relevante Vorgänge'
Im Wirecard-Skandal prüft die Anti-Geldwäsche-Einheit des Bundes FIU mittlerweile 144 Vorgänge, die als relevant für die Vorwürfe gegen den Zahlungsdienstleister eingestuft werden. Sie teilten sich in 102 Verdachtsmeldungen und 42 sonstige Informationen auf, teilte ein Zoll-Sprecher am Montag in Bonn mit. Die Mehrzahl der Verdachtsmeldungen sei der FIU erst nach dem 22. Juni 2020 zugeleitet worden. An diesem Tag hatte Wirecard Luftbuchungen von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt. Die "Bild"-Zeitung hatte zunächst über die Zahl Prüfvorgänge berichtet.
Bis zum 22. Juni hätten der FIU im Rahmen ihrer Analyse zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zwei Verdachtsmeldungen in Zusammenhang mit den ersten Vorwürfen gegenüber Wirecard vorgelegen, erläuterte der Zoll-Sprecher. Diese Meldungen seien bereits im Jahr 2019 an das zuständige Landeskriminalamt Bayern abgegeben worden. Zusätzlich sei die Finanzaufsicht Bafin unterrichtet worden. Die FIU habe insoweit ihr vorliegende relevante Erkenntnisse zu Wirecard unmittelbar weitergeleitet und sei damit ihrem gesetzlichen Auftrag vollumfänglich nachgekommen.
Seitdem bewerte die FIU im Rahmen einer vertieften Analyseoperation nochmals alle ihr bislang vorliegenden Informationen zu Wirecard einschließlich der neu bei ihr eingehenden Verdachtsmeldungen im Lichte der aktuellen Erkenntnisse. Dabei habe die FIU den Kriterienkatalog der Untersuchung - über ihren gesetzlichen Kernauftrag hinaus - um Bilanzbetrug, Insiderhandel, Marktmanipulation sowie Betrugs- und Untreuevorwürfe erweitert.
Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Wirecard seit 2015 Scheingewinne auswies - und ermittelt wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs. Der Schaden für die kreditgebenden Banken und Investoren könnte sich auf 3,2 Milliarden Euro summieren.
Staatsanwaltschaft greift nach Konten von Ex-Wirecard-Managern
Im Bilanzskandal bei Wirecard sichert sich die Staatsanwaltschaft Zugriff auf erhoffte Vermögenswerte bei früheren Top-Managern.Die Strafverfolger erwirkten beim Amtsgericht München so genannte Arrestbeschlüsse in dreistelliger Millionenhöhe bei insgesamt vier Personen und drei Gesellschaften, teilte die Staatsanwaltschaft am Montag mit. Zuerst hatte darüber die "Süddeutsche Zeitung" berichtet. Nach Angaben zweier mit dem Vorgang vertrauter Personen ist unter den Managern auch der frühere Vorstandschef Markus Braun, der wegen Betrugsverdachts in Untersuchungshaft sitzt. Brauns Verteidiger war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Mit solchen Arrestbeschlüssen versucht die Staatsanwaltschaft, für die Geschädigten des mutmaßlich milliardenschweren Betrugs zu retten, was zu retten ist. Damit dürfen unter anderem Banken Geldbeträge von Konten der Betroffenen nicht mehr auszahlen. Die in derartigen Beschlüssen genannten Summen besagen aber normalerweise nicht, wieviel Geld tatsächlich noch vorhanden ist - sondern lediglich, bis zu welcher Höhe die Staatsanwaltschaft Zugriff hätte.
Um wenigstens einen Bruchteil der Forderungen von Wirecard-Geschädigten zu erfüllen, hat Insolvenzverwalter Michael Jaffe parallel mit der Zerschlagung des Konzerns begonnen. Das einstige Vorzeigeunternehmen der Finanztechnologiebranche war nach dem Bekanntwerden von milliardenschweren Luftbuchungen zusammengebrochen.
Am Montag sackte die Wirecard-Aktie im XETRA-Handel um 27,92 Prozent auf 0,62 Euro ab.
(dpa-AFX/Reuters)
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Bildquellen: Wirecard
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14.05.2020 | Wirecard buy | Baader Bank | |
11.05.2020 | Wirecard buy | Baader Bank | |
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08.06.2020 | Wirecard Neutral | Oddo BHF | |
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02.06.2020 | Wirecard Neutral | UBS AG | |
26.05.2020 | Wirecard Halten | Norddeutsche Landesbank (Nord/LB) |
Datum | Rating | Analyst | |
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26.06.2020 | Wirecard Verkaufen | Independent Research GmbH | |
25.06.2020 | Wirecard Verkaufen | Norddeutsche Landesbank (Nord/LB) | |
22.06.2020 | Wirecard Verkaufen | Independent Research GmbH | |
19.06.2020 | Wirecard Reduce | Oddo BHF | |
18.06.2020 | Wirecard Verkaufen | Independent Research GmbH |
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