Wie hoch ist die Crashgefahr im DAX, Folker Hellmeyer?
Der Chefvolkswirt der Bremer Landesbank glaubt an eine nachhaltige Lösung im griechischen Schuldendrama. Den DAX sieht er bis Ende des Jahres bei 13.000 Punkten.
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von Benjamin Summa
Herr Hellmeyer, der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras ist im Kampf gegen die drohende Staatspleite seines Landes auf die Europartner zugegangen. Er hat Steuererhöhungen und Rentenreformen vorgeschlagen. Nun wird auf der Ebene der Finanzminister und der Staats- und Regierungschefs nach einem Kompromiss gesucht. Ist der Grexit damit endgültig vom Tisch?
Folker Hellmeyer: Derzeit besteht immer noch ein Risiko in der Größenordnung von 20 Prozent, dass der Grexit nicht vom Tisch ist. Es liegen weiter Einigungsmängel vor. Aber wir sehen das erste Mal ernsthaftere Bemühungen der griechischen Regierung, dem Forderungskatalog der Institutionen - also von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission - entgegenzukommen. Die Chance auf eine Lösung ist aus meiner Sicht relativ hoch. Die Europäische Union hat ein hohes Interesse an einer Lösung, aber auch die USA, die in erster Linie die geostrategische Bedeutung Griechenlands als Nato-Mitglied im Blick haben dürften.
Die Ursachen der griechischen Probleme - allen voran der hohe Schuldenstand und die angeschlagene Wirtschaft - sind mit einer vorläufigen Einigung im Schuldenstreit nicht beseitigt. Ist eine erneute Eskalation also nur eine Frage der Zeit?
Aus meiner Sicht gibt es die Chance auf eine nachhaltige Lösung. Es wäre zielführend, wenn eine Vereinbarung gefunden wird, Griechenland für mindestens ein Jahr abzuschirmen, um zu gewährleisten, dass das innenpolitische Programm der griechischen Regierungskoalition auch eine Umsetzung erfahren kann. Denn das vorgelegte Programm der Syriza-Regierung hat durchaus Charaktermerkmale, die Defizite in der Verwaltung in Griechenland stärker zu bekämpfen, als es die Vorgängerregierung vermocht hat. Es besteht also die Möglichkeit, dass Griechenland eine strukturelle Gesundung erfährt, die es dann auch ermöglichte, die hohen Staatsschulden zu bedienen. Ob es dann auch noch einen Schuldenschnitt geben muss, kann man diskutieren, aber Fakt ist, dass Griechenland vor dem Hintergrund einer Reformpolitik den Schuldenberg bedienen kann.
Der DAX war in den vergangenen Wochen ausschließlich auf die Griechenland-Frage fokussiert. Die Hoffnung auf eine Lösung der Krise hat zu Beginn dieser Woche die Kurse nach oben getrieben, am vergangenen Mittwoch ist er dann innerhalb von Minuten deutlich abgesackt, als Gerüchte die Runde machten, die Reformvorschläge seien bei den Gläubigern durchgefallen. Wo sehen Sie Rückenwind und wo Crashgefahren für den deutschen Leitindex in der zweiten Jahreshälfte?
In meinem letzten Interview mit finanzen.net im März habe ich vor dem Hintergrund eines DAX-Niveaus von knapp 12.000 Punkten gesagt, dass wir bis Mitte Juni ein Korrekturpotenzial bis 10.500/10.800 Punkte haben. Das Ergebnis waren knapp 10.800 Punkte. Ich habe auch gesagt, dass es danach wieder deutlich nach oben gehen wird. Und so kam es auch. Warum ist der DAX zwischen 10.500 und 10.800 Punkten ein klarer Kauf? Weil die Wirtschaft der Eurozone gut läuft - das können wir an vielen Daten und Indikatoren festmachen. Beim Markit Composite Index, der den Dienstleistungssektor und den produzierenden Sektor abbildet, bewegen wir uns beispielsweise auf einem 49-Monats-Hoch. Insbesondere die Reformländer innerhalb der EU sind Treiber dieser Entwicklung. Die Reformen wirken sich jetzt konjunkturell aus und damit ist die Eurozone relativ stabil. Der DAX liegt bei einem Niveau von knapp 11.000 Punkten mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 12 unter dem historischen Durchschnitt - auch die durchschnittliche Dividendenrendite von 2,9 Prozent kann sich im Vergleich zu anderen Märkten wie den USA sehen lassen. Mein Fazit: Ich halte auch das aktuelle Niveau von 11.400 bis 11.500 Punkten für attraktiv, um in den Markt einzusteigen.
Gegenwind ist einzig von der geopolitischen Flanke zu erwarten: Da hätten wir das Thema "Griechenland", das aber jetzt das 15. Mal durchdiskontiert ist. Außerdem könnten wir mit einem Grexit heute umgehen, ich sehe im Fall der Fälle nur ganz kurzfristige Marktreaktionen. Das zweite Thema findet derzeit nur im Hintergrund statt - die Ukraine-Krise. Diese halte ich im Vergleich mit Griechenland für das weitaus größere Problem. Aber das ist derzeit ein sogenannter "Frozen Conflict", der sehr kritisch von den Anlegern beobachtet werden sollte.
Wagen Sie eine Prognose für den Dax am Jahresende?
Ja, ich wage eine. Diese setzt jedoch voraus, dass sich die Ukraine-Krise nicht von einem "Frozen Conflict" in einen heißen entwickelt. Unter der Maßgabe sehe ich mindestens 13.000 Punkte bis zum Jahresende als sehr realistisch an.
Welche Länder und Branchen favorisieren Sie derzeit?
Ich favorisiere alle Branchen, die mittel- bis langfristig mit dem Aufbau der Infrastruktur in Eurasien zu tun haben. Dazu gehören der Anlagen- und Maschinenbau und natürlich die Chemieindustrie. Mir gefallen auch Automobilwerte gut. Ich erwarte, dass sich die konjunkturelle Lage - insbesondere in den Schwellenländern - im Jahresverlauf weiter verbessern wird. Das wird positive Akzente auf der Nachfrageseite setzen. Das ist sicherlich keine Mainstream-Sichtweise derzeit, aber ich fühle mich deswegen umso wohler mit meiner Analyse.
Die Griechenlanddiskussion überdeckt gerade alle anderen Themen, auch den Ukraine-Krieg, den Sie für das gefährlichere Problem im Vergleich zu Griechenland halten. Wegen seiner unrühmlichen Rolle in diesem Konflikt haben die EU-Staaten die Wirtschaftssanktionen gegen Russland bis Januar verlängert. Schaden diese Wirtschaftssanktionen der deutschen Wirtschaft tatsächlich so stark?
Ich halte die Russland-Politik, die der Westen verfolgt, für vollkommen verfehlt. Die USA haben eine aktive Rolle beim Regimewechsel in Kiew gespielt und einen Staatsstreich forciert. Vor diesem Hintergrund stellt sich für mich ganz klar die Frage, wer der Aggressor ist. Bei diesem Staatsstreich war für mich der demokratischste Prozess die Abstimmung der Bevölkerung der Krim, sich Russland anzuschließen - 93 Prozent der Wähler stimmten im Referendum für den Russland-Beitritt. Diese verfehlte Politik hat schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen: In den ersten vier Monaten sind die Exporte aus Deutschland nach Russland um 33 Prozent auf Jahresbasis zurückgegangen. Wir haben auch Sekundäreffekte: EU-Länder wie Österreich und Finnland sind noch schwerer von der Sanktionspolitik gegenüber Russland betroffen. Diese Länder bestellen dann auch weniger in Deutschland. Zudem bauen internationale Großunternehmen wie Daimler Produktionsstätten in Russland auf - das ist nichts anderes als entgangener Kapitalstock für Westeuropa. Und das Schlimmste: Der Westen spielt bei der größten Wachstumsgeschichte seit dem Bau der Chinesischen Mauer keine wesentliche Rolle mehr, nämlich beim Aufbau der eurasischen Infrastruktur - von Moskau bis Wladiwostok, bis Südchina, Südindien und Afrika. Siemens hat beispielsweise kürzlich bei der Bahnstrecke Moskau - Kasan den Kürzeren gezogen. Russland sucht sich neue Versorgungswege. Auch wenn wir irgendwann eine Normalisierung des Verhältnisses auf politischer Ebene sehen werden, wird es Jahre dauern, bis der Westen dort wieder wirtschaftlich Fuß fassen kann.
Janet Yellen, die Chefin der US-Notenbank, zögert mit Zinssteigerungen. Die wirtschaftlichen Bedingungen rechtfertigten noch keine Erhöhung, sagte sie kürzlich. Der private Konsum hat sich in den USA zwar erholt, auch der Arbeitsmarkt zeigt sich sehr robust, allerdings leiden viele US-Unternehmen im Export unter dem starken Dollar. Wann rechnen Sie mit einer substanziellen Zinsanhebung und welche Auswirkungen wird dieser Schritt dann auf die Finanzmärkte haben?
Ich schließe nicht aus, dass die amerikanische Zentralbank die Leitzinsen in den kommenden neun bis zwölf Monaten um bis zu einem halben Prozent erhöht, ich schließe aber definitiv eine substanzielle Zinswende aus. Die fragile US-Wirtschaft würde das gar nicht aushalten. Die USA haben - anders als die Eurozone - seit 2008 keine Strukturreformen gemacht. Die Wirtschaft jenseits des Atlantiks ist heute fragiler als vor der Lehman-Pleite. Die mittleren Einkommen - das ist die entscheidende Größe - sind nominal seit 2008 um gut drei Prozent gestiegen, die Konsumverschuldung ist im selben Zeitraum um 25 Prozent, die bei Automobilkrediten um 24 Prozent und die bei den Studentenkrediten um 130 Prozent angestiegen. Zinserhöhungen hätten also eine dramatische Wirkung auf das potenzielle Konsumverhalten der Amerikaner - und die US-Wirtschaft hängt, wie wir wissen, sehr stark am Konsum.
Seitdem die Fed die quantitativen Maßnahmen eingestellt hat, ergibt sich gegenüber der Erwartungshaltung ein dramatisch verlangsamtes Wachstum: Im vierten Quartal 2014 haben wir ein Wachstum von knapp zwei Prozent gesehen, im ersten Quartal dieses Jahres minus 0,2 Prozent und jetzt wieder um die zwei Prozent. Das ist übrigens sehr beschönigend, denn die Methoden zur Berechnung der Wirtschaftsleistung der USA sind nicht vergleichbar mit den Methoden, die wir in Europa haben.
Wann geht der Höhenflug des Dollars Ihrer Meinung nach zu Ende?
Ich halte es für hochwahrscheinlich, dass wir uns diesbezüglich in einem Prozess der Bodenbildung befinden und die Tiefstkurse bei 1,05 US-Dollar gesehen haben. Ich rechne damit, dass der Euro gegenüber dem Dollar zum Jahresende bei 1,20 oder leicht darüber tendieren wird.
Mitte April schien es noch, als würden die Anleihezinsen dank der ultralockeren Geldpolitik der EZB ins Negative rutschen. De facto hätten Gläubiger dem deutschen Staat also Geld bezahlt, um ihm etwas leihen zu dürfen. Doch dann stiegen die Zinsen der Staatspapiere rasant. Haben wir hier lediglich eine technische Reaktion gesehen oder deuten Sie dies schon als Zinswende?
Für mich handelt es sich hier um eine Normalisierung. Bei den zehnjährigen Bundesanleihen sind wir wieder bei einem Niveau angekommen, bei dem wir im November 2014 lagen. Wir hatten durch die Ankündigung des Ankaufprogramms der EZB, das größer war als vom Markt erwartet wurde, einen enormen Anpassungsdruck, der zu einer Überreaktion geführt hat mit Bundesrenditen bei 0,04 Prozent. Jetzt ist die Normalisierung da. Ich gehe davon aus, dass wir im besten Fall noch mal Renditen bei zehnjährigen Bundesanleihen bei knapp 0,7 Prozent oder leicht darunter sehen werden, ansonsten ist in den kommenden zwölf Monaten ein leichter Anstieg vorprogrammiert, ich rechne mit 1,2 bis 1,5 Prozent.
Bisher konnte Gold nicht von der Diskussion um Griechenland profitieren. Warum eigentlich nicht? Welche Prognose haben Sie in Bezug auf den Goldpreis?
Wir sehen seit mittlerweile vier Jahren eine massive Korrektur am Goldmarkt. Ich bin der Meinung, dass wir bei einer Bodenbildung angekommen sind. Die Tatsache, dass der Goldpreis überhaupt nicht mehr auf geopolitische oder markttechnische Zuspitzungen reagiert, ist für mich Ausdruck dessen, dass viele Märkte nicht mehr funktional sind. Der Algorithmushandel weniger Banken determiniert den Preis und nicht etwa die physischen Märkte, nicht die reale Nachfrage. Das ist ein endliches Spiel. Je mehr die physischen Bestände von westlichen Tresoren in solche der aufstrebenden Länder - allen voran Russland, China und Indien - wandern, desto schneller werden wir sehen, dass die Preissensibilitäten beim Gold steigen. Der aktuelle Preis des Edelmetalls ist meiner Ansicht nach sehr attraktiv, um sich noch mittel- bis langfristig für eine Hausse in diesem Bereich aufzustellen. Die aufstrebenden Länder bauen gerade ein neues Weltfinanzsystem auf - dabei spielt das Edelmetall eine große Rolle. Aber eines muss hinzugefügt werden: Investoren brauchen einen langen Atem, um an den künftigen Entwicklungen am Goldmarkt zu partizipieren.
Disclaimer: Der Autor, Benjamin Summa, ist freier Mitarbeiter bei finanzen.net. Er interviewt regelmäßig Finanzexperten zu aktuellen Themen.
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