Euro am Sonntag-Interview

Ökonom Naumer: "Wenn das Pferd tot ist, musst du absteigen"

05.08.17 21:48 Uhr

Ökonom Naumer: "Wenn das Pferd tot ist, musst du absteigen" | finanzen.net

Zu lange an einer schlechten Aktie festgehalten? Der Spezialist für Anleger-Psychologie weiß Rat: Die häufigsten Fehler an der Börse, wie man sie vermeidet - und welcher antike Held als Vorbild dient.

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von Martin Reim, Euro am Sonntag

Angenommen, Sie gewinnen mit Aktie A 1.000 Euro an der Börse. Anschließend verlieren Sie 1.000 Euro mit Aktie B. Ist dann Ihr Ärger über den Verlust größer als die Freude über den Gewinn? Falls Sie mit Ja antworten, geht es Ihnen wie den meisten Menschen. Es ist im Durchschnitt ein Plus von 2.000 Euro nötig, um ein Minus von 1000 Euro gefühlsmäßig aufzuwiegen. Das haben Tests zur sogenannten Verlustaversion gezeigt, die die Forscher Daniel Kahneman und Amos Tversky in Alltagssituationen gemacht haben. Kahneman erhielt im Jahr 2002 den Wirtschaftsnobelpreis - als einer der Begründer der sogenannten Verhaltensökonomik.



Dieser Wissenschaftszweig sucht Erklärungen für irrationales Verhalten bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Anschließend geht es darum, wie diese Verhaltensfehler vermeidbar sind. Dreht es sich um die Psychologie von Anlegern, benutzt man oft den englischen Begriff "Behavioral Finance". Wie diese Forschungsergebnisse in die Praxis umsetzbar sind, ist ein Spezialgebiet von Hans-Jörg Naumer.

€uro am Sonntag: Was überwiegt gerade am deutschen Aktienmarkt - Angst oder Gier?
Hans-Jörg Naumer:
Was Privat­anleger betrifft, sicherlich die Angst. Die Hausse der vergangenen Monate ist hauptsächlich von institutionellen Investoren getrieben.


Wann wäre die Grenze zur Gier überschritten?
Falls das einträte, was in der Endphase der New Economy zur Jahrtausendwende zu beobachten war: Wenn ein massiver Zustrom von Kapital privater Anleger zu verzeichnen wäre. Wenn in den Medien nur noch von Rendite die Rede ist, nicht mehr von Risiken. Wenn traditionelle Kenngrößen wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis keine Rolle mehr spielen. Von solchen Phänomenen sind wir noch weit entfernt.

Angenommen, ich bin an der Börse eher ein ängstlicher Typ. Was sollte ich tun?
Den Vertreter einer Gegenposition suchen, einen Advocatus Diaboli. Das kann ein Magazin wie €uro am Sonntag sein, das Anregungen gibt und den Horizont erweitert, oder eine konkrete Person. Wenn ich dann merke, dass ich bei bestimmten Argumenten automatisch weg­höre, muss ich besonders vorsichtig sein. Es ist verhaltensökonomisch bekannt, dass jeder ein gewisses Gesichtsfeld hat, außerhalb dessen er nichts erkennt. So wie der Rahmen, wenn man aus dem Fenster schaut. Was ich da zu sehen bekomme, ist sicherlich nicht die gesamte Welt. Der Advocatus Diaboli funktioniert natürlich auch bei überbordender Gier, eben nur mit dämpfenden Argumenten.


Was sind weitere Psychofallen neben übermäßiger Angst und Gier?
Bei fallenden Kursen beispielsweise der Ankereffekt. Also die Orientierung am Einstandskurs, nach dem Motto: "Ich warte ab, bis sich der Wert wieder erholt und ich ohne ­Verlust verkaufen kann." Das ist ein mächtiger Effekt, der für die Zeit nach der Jahrtausendwende empirisch gut nachweisbar ist.

Was meinen Sie damit?
Zum Beispiel Anleger, die noch mitten im DAX-Höhenflug eingestiegen sind, beispielsweise bei 6.000 Punkten, und die Talfahrt bis auf 2.300 Punkte mitgemacht haben. Sie haben in Scharen verkauft, als der DAX wieder auf 6.000 Punkte geklettert war. Zweites Beispiel: Ich kann mir vorstellen, dass viele Anleger noch jene T-Aktien im Depot haben, die sie beim sogenannten zweiten und dritten Börsengang rund um die Jahrtausendwende gekauft hatten ...

… als der Kurs wesentlich höher lag als heute …
… und sie werden die Papiere so lan­ge nicht verkaufen, bis der Einstandskurs wieder erreicht ist.

Was ist das Problem daran?
Beispiel DAX und 6.000 Punkte: Der Einstiegskurs hat keinerlei Aussagekraft für die Zukunft. Man sollte sich immer Fragen stellen, die nach vorn gerichtet sind: Was ist meine Erwartung für den DAX? Da kann es durchaus rational sein auszusteigen, wenn man pessimistisch ist. Aber entscheidend ist: Was ist zukünftig zu erwarten? Der DAX hat an seine Vergangenheit keine Erinnerung, die Uhren werden immer neu gestellt. Und es gibt weitere Probleme des Ankereffekts: Die Kurse können weiter fallen, wenn man das Investment hält und auf den Einstiegskurs starrt. Gleichzeitig verpasst man vielleicht bessere, alternative Anlagemöglichkeiten.

Warum ist dieser Ankereffekt so stark?
Wenn man Verluste realisiert, springt das emotionale Schmerz­zentrum an. Angenommen, jemand hat die T-Aktie für 80 Euro gekauft. Dann denkt er üblicherweise, sie ist eigentlich noch 80 Euro wert, obwohl die Aktie unter 20 Euro notiert. Der Schmerz über den Kursverlust ist kleiner, solange man die Aktie noch nicht verkauft hat.

Was kann man gegen den Anker­effekt tun?
Eine Checkliste entwerfen, die man vor Entscheidungen durchgeht: Was sind meine Erwartungen? Welche Alternativen zu dem Investment gibt es? Würde ich die anfängliche An­lageentscheidung wieder treffen? Und dann passt möglicherweise ein Spruch, der den nordamerikanischen Dakota-Indianern zugeschrieben wird: "Wenn das Pferd tot ist, musst du absteigen." Also verkaufen trotz der inneren Schmerzen.

Was ist mit dem Herdenverhalten als Psychofalle?
Der ist auch sehr wichtig. Dieses Phänomen ist mit Erkenntnissen aus der Evolution untermauert, also noch aus unserer tierischen Vorgeschichte. Wenn etwas Ungewöhnliches passiert ist, wusste der Anführer am schnellsten Bescheid, ob Angriff oder Flucht die beste Strategie ist. Und dem wird dann hinterher­gerannt, das ist in uns immer noch drin. Deshalb warne ich vor Börsengurus. Wenn sie etwas sagen, dient das normalerweise den eigenen Zwecken, nicht dem Wohl der Gesamtheit. Gefährlich ist auch die Illusion, alles wissen und kontrollieren zu können.

Was meinen Sie damit?
Wenn einige Investments gut gelaufen sind, meint man oft, man wisse jetzt, wie die Sache läuft. In dem berühmten Börsenbuch "Der schwarze Schwan" gibt es dafür ein - zugegebenermaßen etwas boshaftes - Beispiel. Es spielt in Nordamerika. Ein Truthahn macht dort folgende Erfahrung: Viele Tage nacheinander kommt ein Mensch und füttert ihn ausgiebig. Das Tier sammelt also ziemlich überzeugende statistische Belege dafür, dass dieser Mensch ihm nichts tun wird. Dann kommt Thanksgiving. Und es passiert etwas, das für den Truthahn aus seiner bisherigen Erfahrung völlig unvorstellbar ist - er wird geschlachtet.

Was können Börsianer daraus ­lernen?
Manche Risiken kann ich, wenn ich allein auf meine Erfahrungen baue, nicht erkennen, geschweige denn kontrollieren.

Sie sind einer der namhaftesten ­Vertreter der Verhaltensökonomik in Deutschland. Was ist der wichtigste Tipp für Anleger?
Erkenne dich selbst! Die meisten Menschen halten sich für rational. Vor allem, wenn Sie den Eindruck haben, sie denken in aller Ruhe über ein Investment nach. Doch wir schleppen eine lange Historie unserer Menschwerdung mit uns herum.

Woran zeigt sich das?
Wir denken einerseits langsam und andererseits schnell. Hintergrund ist, dass unser Gehirn einen sehr schnell denkenden, emotionalen Teil hat, der auf Erkennung von Mustern abzielt. Wenn unsere Vorfahren in der Savanne saßen und es raschelte im Gras, konnte das ein Leopard sein oder eine Antilope. Also Gefahr oder Beute - die Menschen mussten sehr schnell reagieren. Wir haben heute sehr viel mehr Zeit, wir können nachdenken. Und der rationale Gehirnteil, der sich am spätesten entwickelt hat, ist langsamer. Beide Gehirnteile interagieren, und wir wissen nie ganz genau, welcher grade vorn liegt und wie stark die Emotionen sind. Wer sich selbst erkennt, kann über sich selbst nachdenken - und sehen, wann er irrational handelt.

Was ändert sich durch diese Selbsterkenntnis am Anlageverhalten?
Jemand ohne Selbsterkenntnis handelt impulsiv, prozyklisch oder sogar spätzyklisch. Wir sehen uns gern als Mr. oder Mrs. Spock, als hochrationalen Menschen, der auf der Brücke eines Raumschiffs wie ein Computer entscheidet. Aber wir tragen einen hochemotionalen Gehirnteil mit uns herum. Deshalb sollte man sich ein Stück weit selbst überlisten.

Wie?
Indem man sich vorab eine Strategie zurechtlegt, was das wirkliche Anlageziel und die grundsätzliche Allokation ist, und nicht wesentlich davon abweicht - egal, was passiert. So wie Odysseus bei der Insel der Sirenen. Die verzauberten durch ihren Gesang alle, die vorbeifuhren. Doch wer sich herüberlocken ließ, fuhr gegen Klippen. Daher verklebte Odysseus seinen Gefährten mit Wachs die Ohren. Er selbst verzichtete darauf, ließ sich an den Mast binden und befahl, ihn nicht zu befreien, bis sie an der Insel vorbeigesegelt waren.

Wie sollte so eine Strategie aussehen?
Es geht grundsätzlich um die Mischung zwischen Aktien und An­leihen. Dazu zwei Grundgedanken. Erstens: Angesichts von etwa 70 Prozent deutscher Staatsanleihen mit Negativrenditen und Sparbüchern mit Nullzinsen ist Sicherheit die ­falsche Zielgröße im Portfolio. Ich brauche als unterste Messlatte den Kaufkrafterhalt, wir setzen ihn derzeit mit zwei Prozent Rendite an als Inflationsausgleich. Zweitens sollte man die eigene Lebensbiografie in den Mittelpunkt stellen. Die Faustregel für die Aktienquote "100 minus Lebensjahre" ist recht passend.

Warum fällt es uns so schwer, solch eine Strategie durchzuhalten?
Das hat viel mit einem zu kurzen Zeit­horizont zu tun. Experimente, die die Hirnaktivität messen, zeigen: Menschen entwickeln für ihr zukünftiges Selbst keine Gefühle. Denn das Gehirn hat keine Vorstellung davon, wie es mir in zehn bis 15 Jahren geht. Das bedeutet: Wenn ich für mein künftiges Selbst etwas mache, wird das vom Gehirn automatisch als Verlust gebucht. Das ist bei allen Sparvorgängen so, denn sie schlagen sich in entgangener Lustbefriedigung nieder. Wir sind als Menschen darauf getrimmt, sofortige Befriedigung zu wollen.

Wie sieht Ihr persönliches Anlageverhalten aus?
Ich bin ein Anleger vom beschriebenen Typ "Odysseus", der sehr langfristig investiert und auf die Risikoprämie von Aktien setzt - das passt aber sicher nicht zu jedem Anleger. Gleichzeitig streue ich breit, da dies die beste Möglichkeit ist, quasi kostenlos sein Risiko zu senken, ohne die Rendite zu verwässern. Entsprechend habe ich Fonds im Depot …

... was für den Mitarbeiter einer Fondsgesellschaft durchaus passend scheint. Haben Sie denn ­überhaupt keine Einzelaktien im Depot?
Nein. Da habe ich aus schlechten Erfahrungen gelernt. Als Schüler und Student hatte ich so meine Lieblingsaktien. Damals hatte ich nur gekauft, was ich kannte, und eben nur auf das geachtet, was innerhalb meines Gesichtsfelds lag. Beispielsweise stand bei mir, wie damals bei vielen jungen Leuten, ein PC von Commodore auf dem Schreibtisch. Weil ich an das Unternehmen glaubte, habe ich meiner Schwester die Aktie zur Konfirmation gekauft. Das hat sie nicht besonders glücklich gemacht - von dieser Investition ist nichts ­geblieben.

Vita

Der Brückenbauer
Hans-Jörg Naumer (50) leitet seit 2000 die Abteilung "Kapitalmärkte & Investmentthemen" bei der Fondsgesellschaft Allianz Global Investors. Die Tochterfirma des Versicherers Allianz ist mit Anlagen von etwa einer halben Billion Euro einer der größten aktiven Vermögensverwalter der Welt. Sie hat ein Zentrum für Verhaltens­ökonomik in den Vereinigten Staaten, als dessen europäischer Brückenpfeiler sich Naumer versteht. Zuvor arbeitete er bei der französischen Großbank Société Générale. Der Volkswirt startete seine Kar­riere 1994 in der Firmenkundenabteilung der Deutschen Bank. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Tipps

Was erfolgreiche Investoren ausmacht
1. Erkenne dich selbst, und hinterfrage dein Verhalten.
2. Kaufkrafterhalt, nicht Sicherheit sollte die Steuergröße der Anlageentscheidung sein.
3. Auf die Risikoprämie zu setzen, ist das fundamentale ­Gesetz der Kapitalanlage.
4. Investieren geht vor Spekulieren.
5. Selbstbindung ist wichtig.
6. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.

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Bildquellen: Andreas Varnhorn/Allianz Global Investors

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