Euro am Sonntag-Interview

Holger Bonin: "Zehn Milliarden Euro reichen vermutlich nicht"

14.09.15 03:00 Uhr

Holger Bonin: "Zehn Milliarden Euro reichen vermutlich nicht" | finanzen.net

Der Arbeitsmarktforscher am Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschafsforschung sprach mit €uro am Sonntag über Kosten und Nutzen von Migration.

von Sonja Funke, Euro am Sonntag

Der Strom von Flüchtlingen nach Deutschland hält unvermindert an. Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft rechnet inzwischen für 2015 mit mehr als den bisher erwarteten 800.000 Flüchtlingen in Deutschland.

€uro am Sonntag sprach mit Holger Bonin, Arbeitsmarktforscher und Experte für Zuwanderung am Mannheimer Zentrum für Wirtschaftsforschung (ZEW), über Chancen und Herausforderungen, die der Flüchtlingsstrom für die deutsche Wirtschaft mit sich bringt.

€uro am Sonntag: Bis Jahresende werden in Deutschland mindestens viermal so viele Flüchtlinge erwartet wie im Vorjahr. Vor welche Herausforderung stellt das unser Land?
Holger Bonin:
Die unmittelbare Herausforderung ist natürlich die Erstversorgung und Aufnahme all dieser Menschen. Dann muss ihr Status festgestellt und möglichst schnell entschieden werden, wer bleiben darf. Für die, die bleiben dürfen, muss Wohnraum gefunden werden, und die Menschen müssen wirtschaftlich und sozial integriert werden.

Was ist das Schwierigste dabei?
Eine große Hürde ist die Sprache, eine andere die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt.

Ist es überhaupt möglich, für so viele Zuwanderer, das heißt, möglicherweise auch unqualifizierte neue Arbeitskräfte, Beschäftigung in Deutschland zu finden?
Wegen der schieren Zahl der Menschen, die derzeit gleichzeitig zu uns kommen, wird das wohl etwas Zeit brauchen. Wichtig ist, dass die Arbeitsagentur möglichst früh auf die Flüchtlinge zugeht und den Qualifikationsbedarf feststellt. Die Menschen haben gute Chancen, in Arbeit zu kommen, wenn man auf dieser Basis eine individuelle Förderung und Begleitung aufbaut. Dafür sollte der Staat auch die Arbeitgeber mit ins Boot holen.

Daimler-Chef Dieter Zetsche hat als einer der Ersten angekündigt, man werde in den Flüchtlingszentren nach Arbeitskräften suchen.
Das zeigt, wie knapp inzwischen in Teilen der deutschen Wirtschaft die Fachkräfte sind. Da die Unternehmen von zusätzlichen Fachkräften etwas haben, darf die Politik auch einfordern, dass sie sich in die Integration der Flüchtlinge einbringen.

… und wie kann das aussehen?
Erfolgversprechend sind zum Beispiel Programme, die den Spracherwerb und Ausbildung oder Praktika miteinander verzahnen. Dafür muss die Wirtschaft entsprechende Angebote machen.

Was hindert die Arbeitgeber?
Es gibt Rechtsunsicherheit. So dürfen Flüchtlinge inzwischen zwar relativ schnell arbeiten, aber erst muss geprüft werden, ob nicht auch ein Arbeitsloser aus Europa den Job machen könnte. Oder es ist unklar, ob ein Auszubildender auch nach dem Abschluss weiter in Deutschland bleiben darf. Damit die Arbeitgeber investieren, müssen die Menschen eine gesicherte Bleibeperspektive haben.

In Schweden erhalten alle Syrer, die das Land erreichen, sofort eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung. Wäre das auch für Deutschland sinnvoll?
Diese Regelung weist zumindest die Richtung. Man sollte die Menschen aber nicht einfach nach Herkunftsland über einen Kamm scheren. Und man muss auch nicht gleich eine unbefristete Perspektive geben - fünf Jahre würden wohl auch reichen. Wenn die Fluchtgründe dann noch vorliegen, sollte man unbürokratisch verlängern. Und wenn nicht, darauf schauen, ob die Menschen auf eigenen Beinen stehen können. Damit erhält man für dei Neuankömmlinge einen Anreiz, sich um die Integration zu bemühen.

Was sagen Sie denen, die meinen, dass Flüchtlinge und Zuwanderer den Deutschen womöglich die Arbeitsplätze wegnehmen?
Nach dem, was man in der Vergangenheit beobachten konnte, ist diese Gefahr gering. Man muss aber trotzdem genau beobachten, was im Niedriglohnsektor passieren wird. Wer wenig qualifiziert ist, kann durch zusätzliche Konkurrenz leicht unter Druck geraten. Auch darum ist die Qualifizierung der Neuankömmlinge so wichtig. Und natürlich sollte man darüber die Hilfen für einheimische Arbeitslose nicht vergessen.

Gibt es eine Grenze für die Aufnahmefähigkeit eines Landes?
Die gibt es sicherlich, aber wo die genau liegt, kann niemand sagen. Entscheidend ist, wann die Kapazitätsgrenze erreicht wird, ab der die Kosten für die Strukturen, die zur kurzfristigen Aufnahme der Flüchtlinge benötigt werden, mit jedem zusätzlich Ankommenden stark steigen.

Laut Regierung sollen sich die Kosten 2016 auf zehn Milliarden Euro summieren. Reicht das?
Vermutlich nicht. Nach Schätzungen fallen allein für die Arbeitsmarktintegration und Hartz-IV-Leistungen gut drei Milliarden Euro zusätzlich an, für die Unterbringung und Versorgung rund zehn Milliarden Euro. Und auch die Gesundheitsversorgung und soziale Begleitung der Flüchtlinge kostet Geld. Man sollte aber nicht schwarzmalen. Zu einem nicht geringen Teil kommen diese Ausgaben in der Wirtschaft an, etwa beim Bau oder bei den Firmen, die die Aufnahmeeinrichtungen versorgen. Das wirkt dann wie ein kleines Konjunkturprogramm. Und der Aufwand für die Qualifizierung der Flüchtlinge macht sich auf Dauer leicht bezahlt, wenn sie damit in gute Arbeit kommen.

Trotz der Flüchtlingsmilliarden will der Bund im Haushalt 2016 nicht an der "schwarzen Null" rütteln. Es bleibt also bei einem Verzicht auf neue Kredite, bis 2019 steht die "schwarze Null" im Plan. Halten Sie das für realistisch?
Da keiner vorhersagen kann, wieviele Flüchtlinge bis dahin noch kommen werden, muss man bei den Ausgaben auf Sicht fahren. Aber wegen der niedrigen Zinsen und den sprudelnden Steuereinnahmen kann Deutschland das tatsächlich schaffen.

Der Bund rechnet für 2015 mit Steuermehreinnahmen von bis zu sieben Milliarden Euro. Die Kanzlerin schließt Steuererhöhungen zur Finanzierung der Flüchtlingskosten aus. Glauben Sie ihr?
Momentan ja. Die sechs Milliarden, die der Bund jetzt zusätzlich für die Flüchtlinge bereitstellen will, sollten damit und durch Umschichtungen im Haushalt zu finanzieren sein. Was vielen nicht bewusst ist: Umgelegt auf die erwachsene Bevölkerung, entspricht so ein Milliardenbetrag gerade mal zehn Euro pro Kopf. Selbst wenn man also die Steuern erhöhen müsste, wäre das für die meisten keine außerordentliche Belastung.

Wie wirkt sich der Zustrom denn auf unsere Renten und das Sozialsystem aus - bricht es zusammen oder profitiert es am Ende sogar?
Entscheidend für die Entlastung der Sozialkassen, die sich durch Zuwanderung junger Leute erreichen lässt, ist die Arbeitsmarktmigration. Man kann es auf folgende Formel bringen: Falls die Neuankömmlinge im Durchschnitt ein mittleres Qualifikationsniveau haben und entsprechend Beschäftigung finden, werden die öffentlichen Kassen entlastet. Derzeit sieht es so aus, dass etwa ein Drittel der Flüchtlinge gut, ein Drittel mittel und ein Drittel schlecht qualifiziert sind. Die Chancen stehen also nicht schlecht, dass das Sozialsystem auf lange Sicht gesehen profitiert.

Schadet Auswanderung nicht der Wirtschaft der Herkunftsländer?
Krieg und Verfolgung, die Menschen zur Flucht treiben, schaden der Wirtschaft um sehr vieles mehr. Was die Migration aus wirtschaftlichen Motiven angeht, kann ein sogenannter Brain Drain die Herkunftsländer tatsächlich belasten. Allerdings beobachten wir auch gegenläufige Effekte. So kann Zuwanderung zum Beispiel zu mehr Handel zwischen Ländern führen. Außerdem schicken viele Auswanderer Geld in die Heimat, was der Wirtschaft dort hilft.

Was halten Sie von der Vergabe von Arbeitsvisa etwa für Menschen vom Balkan?
Wer einen Arbeitsvertrag für einen sogenannten Mangelberuf hat, also etwa als Pflegefachkraft arbeiten kann, darf schon jetzt von dort zu uns kommen. Es geht hier also um die Öffnung für Arbeitsmigranten für Bereiche, in denen es derzeit bei uns keine besonderen Engpässe gibt. Das kann Sinn machen, um das Asylsystem von Menschen zu entlasten, die eigentlich aus wirtschaftlichen Motiven kommen. Allerdings sollte man hier zunächst nur ein kleines Kontingent anbieten, um zu beobachten, wie der Arbeitsmarkt auf diesen neuen Kanal der Zuwanderung reagiert. In jedem Fall muss der längerfristige Aufenthalt an eine auskömmliche Beschäftigung gebunden werden.

Sollten Asylsuchende mit Sach- statt Geldleistungen unterstützt werden?
Nein, damit will man die ökonomisch motivierten Zuwanderer abschrecken, die derzeit versuchen, über den Asylkanal nach Deutschland einzureisen. Dieses Ziel würde man durch schnelle Asylverfahren und Rückführung abgelehnter Bewerber weitaus besser erreichen. Dagegen bedeuten Sach- statt Geldleistungen für die Flüchtlinge ein Signal, nicht willkommen zu sein, was eine Hürde bei der Integration errichten kann. Und dann kommen Sachleistungen auch noch administrativ teurer.

Was sollte die EU im Moment tun?
Sie muss jetzt ganz schnell eine gemeinsame Haltung finden, wie man bei der Aufnahme von Flüchtlingen verfahren will. Der Zuwanderungsdruck wird anhalten, denn die Zustände in den Herkunftsländern, die die Menschen zu uns treiben, werden sich gewiss nicht schnell ändern. Und aus humanitären Gründen kann die EU als Wertegemeinschaft ihre Außengrenzen nicht verschließen. Durch eine verlässliche Zuwanderungspolitik könnte man den momentanen Druck wenigstens etwas reduzieren, Wer die Sorge hat, dass morgen die Grenzen in Europa ganz dicht gemacht werden, wird sich erst recht auf den Weg machen, um seine letzte Chance nicht zu verpassen.

... und was noch?
Er würde auch helfen, wenn die EU die Verantwortung für die Registrierung der Flüchtlinge an den Außengrenzen übernimmt. Diese würde die überforderten Ankunftsländer entlasten, für einen einheitlichen Standard bei der Behandlung der Asylfälle sorgen und auch die planmäßige Weiterverteilung der Flüchtlinge erleichtern. Dafür braucht man einen Verteilungsschlüssel, der die Arbeitsmarktaussichten stark berücksichtigt. Und das Verteilungssystem sollte auf individueller Ebene flexibel bleiben. Viele der Neuankömmlinge haben bereits Verwandte oder Bekannte in Europa, und diese Kontakte könnten gut helfen, sie zu versorgen und zu integrieren.

Was unterscheidet die aktuelle Flüchtlingswelle von früheren, die Deutschland zu bewältigen hatte?
Zunächst einmal die schiere Zahl der Menschen, die bereits da sind und eventuell noch kommen. Noch nie gab es in einem Jahr so viele Asylsuchende. Zudem ist der Anteil derjenigen hoch, die ohne Bindung nach Europa hierherkommen. Die letzte große Flüchtlingskrise gab es während des Balkankriegs in den 90er-Jahren. Da kamen viele Menschen aus dem früheren Jugoslawien, die sich durch die Gastarbeiter aus der Region schon etwas auskannten. Positiv ist: Die Asylsuchenden sind recht oft gut qualifiziert. Die Flucht bis nach Deutschland kostet viel Geld, und daher kommen viele Menschen, die es schon in ihrer Heimat zu etwas gebracht haben.

Und sonst?
Anders als in den 90er-Jahren hat Deutschland heute die öffentlichen Finanzen im Griff und einen starken, aufnahmefähigen Arbeitsmarkt. In manchen Regionen herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Der zieht mehr Einwanderer an, macht es aber auch leichter, die historische Herausforderung zu bewältigen.

Was wünschen Sie sich angesichts des aktuellen Flüchtlingsstroms?
Im Sinne der Flüchtenden, dass er bald aufhört. Denn das würde bedeuten, dass die Zerstörung der Lebensgrundlagen in ihrer Heimat endet und es dort wieder stabile politische und wirtschaftliche Perspektiven gibt. Leider wird sich das nicht erfüllen. Darum wünsche ich mir, dass die Menschen, die zu uns kommen, nicht mit ihren Hoffnungen enttäuscht werden, und es schaffen, ein voll akzeptierter, integraler Teil unserer Gesellschaft zu werden.

… und für Deutschland?
Dass wir diese historische Herausforderung weiter so gut annehmen. Und damit uns und der Welt zeigen, dass wir mit Flexibilität und dem Herz in der Hand Dinge erreichen können, die man Deutschland gar nicht zugetraut hätte.

Der Wanderungsexperte
Holger Bonin leitet den ZEW-Forschungsbereich "Arbeitsmärkte, Personalmanagement und Soziale Sicherung" und ist VWL-Professor an der Universität Kassel. Der 47-Jährige aus dem Bergischen Land hat schon an vielen Orten gelebt und gearbeitet, unter anderem in den USA und China. Für eine verlockende berufliche Herausforderung würde er auch auswandern, am liebsten nach Frankreich.

Bildquellen: ZEW, Jörg Koch / Getty Images