Euro am Sonntag-Einschätzung

Brexit: Keiner kennt den Weg nach draußen

06.07.16 17:00 Uhr

Brexit: Keiner kennt den Weg nach draußen | finanzen.net

Nach dem Schock des EU-Referendums haben sich die Märkte zwar etwas stabilisiert, doch es droht eine lange Phase der Ungewissheit, Experten befürchten Austrittspläne weiterer EU-Länder.

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von Julia Groß, Euro am Sonntag

Auf den Paukenschlag folgt Katzenjammer: Auch mehr als eine Woche nach dem Referendum, bei dem sich 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU ausgesprochen haben, herrscht im Vereinten Königreich ebenso wie im Rest der EU immer noch Fassungslosigkeit. Empörte, zumeist jüngere Briten protestierten auf dem Londoner Trafalgar Square gegen das Votum, während sich die oppositionelle Labour-Partei mit mehr als 60 Rücktritten von Abgeordneten und Ministerialbeamten quasi selbst zerlegte und Schottlands Erste Ministerin Nicola Sturgeon auf den EU-­Verbleib des nördlichen Landesteils drängte.

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Was bleibt, ist allenthalben eine große Unsicherheit darüber, wie es weitergeht. Die Ak­tienmärkte und das Britische Pfund konnten sich zwar im Wochenverlauf erholen, doch viele Ökonomen warnten davor, den Brexit-Crash als überwunden zu betrachten. "Viele Short-Ein­deck­ungen, wenig reales Kauf­interesse von Schnäppchenjägern" hält beispielsweise die Investmentbank Jefferies für den Grund der Gegenbewegung in den vergangenen Handelstagen. In früheren Krisen wie beim Zusammenbruch von Lehman Brothers summierten sich die Verluste erst in den Wochen nach dem ersten großen Kursrutsch.

Warten auf den Antrag

An Anlässen für weitere Verwerfungen herrscht in der näheren Zukunft kein Mangel. Anders als angekündigt denkt die britische Regierung momentan gar nicht daran, den Austrittsantrag nach Artikel 50 der EU-­Verfassung zu stellen. Denn was danach verhandelt wird, bedarf der Zustimmung der 27 verbliebenen EU-Staaten, und falls man sich nicht innerhalb von zwei Jahren einigt, würde Großbritannien ausscheiden, ohne die zukünftige Beziehung zur EU definiert zu haben.

Informellen Verhandlungen vor dem Artikel-50-Antrag erteilten dagegen etliche Regierungschefs auf dem Brüsseler EU-Gipfel in der vergangenen Woche eine Absage. Klarheit darüber, wie es mit Großbritannien und Europa weitergeht, liegt also in weiter Ferne.
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Offenbar haben britische Poli­tiker bisher auch keine Vorstellung, was für ein Verhältnis zur EU überhaupt angestrebt wird. "Es lag nicht in der Verantwortung der Regierung, einen Plan für den Brexit zu entwerfen, schließlich war sie dagegen", behauptet sogar der britische Schatzkanzler George Osborne.

Öffentlich diskutiert wird am häufigsten das Modell Norwegens. Die Skandinavier sind, wie auch Island und Liechtenstein, Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums. Der bietet Zugang zum EU-Markt und die Freizügigkeit von Kapital und Arbeitskräften. Allerdings müssten die Briten dann weiterhin einen Großteil der EU-Vorschriften umsetzen und für die EU zahlen, ohne mitbestimmen zu können. Außerdem würden Zölle anfallen. Da die Einwanderungsfrage offenbar für viele britische Wähler das Zünglein an der Waage war, wären sie mit dieser Lösung kaum zufrieden.
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Etwas mehr Distanz bietet das Vorbild der Schweiz, die mit diversen Partnern bilaterale Vereinbarungen hat. Die Verhandlungen dazu mit der EU dauerten allerdings zehn Jahre. Auch die Schweiz lässt EU-Bürger ins Land. Insgesamt erscheint das ebenfalls kein gangbarer Weg.

Es gibt also keinen Präzedenzfall, an dem sich die Briten orientieren könnten. Erschwerend kommt hinzu, dass das britische Parlament, in dem Brexit-Gegner die Mehrheit haben, bei jedem Schritt bremsen kann.

Gleichzeitig dürften die Folgen des Referendums für die Wirtschaft schon recht schnell spürbar werden. Vor allem in Großbritannien, wo eine Rezession, Steuererhöhungen und der Verlust von bis zu einer Million Arbeitsplätzen drohen. In ganz Europa wird sich das Wachstum verlangsamen, einzelne Länder sind davon in höchst unterschiedlichem Maße betroffen.

Sorge um Ansteckungseffekt

Das alles klingt zweifellos nicht schön, jedoch: "Die ökonomischen Folgen des Brexit sind unserer Meinung nach beherrschbar", sagt Uwe Burkert, Chefvolkswirt der LBBW. Wenn in den kommenden Monaten noch weitere Länder Austrittspläne anmelden sollten, dürfte sich die Lage allerdings deutlich verschärfen.

Bereits im vergangenen Herbst, also lange vor dem Hoch­kochen der Brexit-Diskussion, sah ein erheblicher Teil der Bürger von Österreich, Italien oder Griechenland eine bessere Zukunft für seine Heimat außerhalb der EU. Die Zahl der Privat­anleger, die in den kommenden zwölf Monaten ein Auseinanderbrechen der Eurozone befürchten, stieg nach einer Umfrage des Beratungsunternehmens Sentix jüngst von 15 auf 27 Prozent. Als Risikokandidaten gelten Österreich und die Niederlande, wo die Europa-Gegner hinter Geert Wilders nach der Wahl im März 2017 die stärkste Fraktion stellen könnten.

Die Auswirkungen auf die Finanzmärkte wären laut LBBW "sehr negativ", dem Szenario weiterer Austritte billigen die Volkswirte dort jedoch nur eine Wahrscheinlichkeit von 15 Prozent zu. Für harte Verhandlungen mit den Briten ohne weitere Austritte liege die Wahrscheinlichkeit bei 70 Prozent.

Dass es einen Weg zurück gibt, verneinte zumindest Kanzlerin Angela Merkel kategorisch. Die britische Zeitung "The Guardian" sieht das etwas anders: Es sei schwierig, doch das bedeute nicht, dass britische Politiker nicht darüber diskutierten. Und auch Paul O’Connor, Multi-Asset-Direktor der Fondsgesellschaft Henderson, glaubt: "Trotz dieses Wahlergebnisses führen nicht alle Wege zum Brexit."

Investor-Info

Brexit-Folgen
Wer am meisten leidet

Je nachdem, wie eng sie mit Großbritannien verflochten sind, sind einzelne Länder höchst unterschiedlich vom Brexit betroffen. Der ­Indexanbieter S & P hat einen "Sensitivitäts­index" für wirtschaftliche Brexit-Folgen ­erstellt. Deutschland liegt hier im Mittelfeld.

EU-Gegner
Wer nicht mehr dabei sein will

Bereits im Herbst 2015 äußerten viele Bürger in einer Meinungsumfrage der EU-Kommission, dass es ihrem Land außerhalb der Gemeinschaft besser gehen würde. Ganz vorn liegen zum Beispiel Griechenland, Österreich, Italien und Zypern. In Österreich und Griechenland sind laut Verfassung Volksabstimmungen nach britischem Vorbild möglich.

Hend. Gart. UK Absolute Return
Wer trotzdem gewinnt

In Sachen Brexit haben auch die Fondsmanager Ben Wallace und Luke Newman nicht ­richtig getippt. Dabei können sie sowohl auf steigende als auch auf fallende Aktienkurse ­britischer Firmen setzen. So hat sich der Wahl­ausgang deutlich niedergeschlagen - in der währungsgesicherten Eurotranche hält sich der Einbruch mit minus drei Prozent jedoch sehr in Grenzen. Die Erfolgsbilanz ist ansonsten ungetrübt. Auch wenn es der britischen Wirtschaft demnächst schlechter geht, sollte dieser Großbritannien-Fonds profitieren. Seit Auflage vor sechs Jahren hat er um 35 Prozent zugelegt, 2016 liegt er nur knapp im Minus.

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