Drei Irrtümer über Schwellenländer
Die Emerging Markets haben in den vergangenen Jahren einen enormen wirtschaftlichen Sprung gemacht; an ihnen kommt daher keiner mehr vorbei, der sich mit Konjunktur oder Geldanlage befasst.
von Max Holzer, Gastautor von Euro am Sonntag
Der Irrtum Nummer 1 ist die Entkoppelungsthese. Sie betrifft die Triebfeder des Wirtschaftswachstums. Demnach hätten die Emerging Markets ein Stadium erreicht, in dem sie weniger von der Konjunktur in den etablierten Industrienationen abhängig seien. Nicht mehr der Export, sondern die Binnennachfrage sei die entscheidende Größe. Das Wachstum der Schwellenländer habe sich also von den alten Platzhirschen Europa und USA entkoppelt.
Fakt ist: In vielen Schwellenländern ist eine prosperierende Mittelschicht entstanden, die durch ihren Konsumhunger die Konjunktur antreibt. Dennoch ist in Summe der Export nach wie vor die wichtigste Wachstumsquelle. So hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Emerging Markets von 2000 bis 2013 im Durchschnitt jährlich 6,1 Prozent zugelegt. Gleichzeitig ist der Export aber um 7,3 Prozent gestiegen. Ohne die Steigerung der Ausfuhren wäre der Aufholprozess nicht möglich gewesen. Auch wenn sich der Trend abschwächt und viele Staaten — wie China — verstärkt auf ein binnenmarktgetriebenes Modell setzen: Auf absehbare Zeit bleibt der Handel mit den Industriestaaten der wichtigste Wachstumstreiber.
Irrtum Nummer 2: Die USA sind der wichtigste Absatzmarkt. Die weltweit größte Volkswirtschaft, so die These, sei von dominierender Bedeutung für die Exporte der Emerging Markets — und damit ausschlaggebend für deren Wachstum. Tatsächlich zeigen jedoch Untersuchungen von OECD und der Welthandelsorganisation WTO, dass Westeuropa die USA noch übertrifft. Der Grund: Der „alte Kontinent“ ist tiefer in internationale Wertschöpfungsketten integriert, der Außenhandel macht also einen größeren Anteil am BIP aus als in den Vereinigten Staaten. Zudem decken die Amerikaner einen Großteil ihres Bedarfs an Rohstoffen oder Vorprodukten aus eigener Hand.
Westeuropa ist hingegen viel stärker auf Importe angewiesen. Der Automobilbau verdeutlicht die Internationalisierung: Die Sitzbezüge eines Autos „made in Germany“ stammen aus der Türkei, die Energie zur Herstellung aus Russland, Aluminium aus Bahrain und andere Industriemetalle aus Südamerika, elektronische Komponenten aus Asien (etwa China) und viele Vorprodukte von osteuropäischen Niederlassungen deutscher Zulieferer.
Die Emerging Markets sind
keine homogene Gruppe
Ergebnis: Die Waren aus Schwellenländern, die in Westeuropa ihre endgültige Verwendung fanden, machten bis zum Ausbruch der Eurokrise im Durchschnitt etwa zehn Prozent der Wirtschaftsleistung der Schwellenländer aus. Auf die USA entfielen hingegen nur sechs Prozent, auf die Verteilerstation China nur zwei bis drei Prozent.
Irrtum Nummer 3: Die Emerging Markets als homogene Gruppe. Häufig werden „die“ Emerging Markets zudem als einheitliche Gruppe behandelt. Das sind sie aber nicht. Sichtbar wird dies an den Leistungsbilanzen. Während China oder Russland 2012 Überschüsse im Außenhandel erwirtschafteten, waren in Brasilien, Indien oder in der Türkei Defizite zu verzeichnen. Dass hier ein Gefährdungspotenzial besteht, hat die Entwicklung im Frühsommer 2013 gezeigt. Im Zuge der Debatte um die Reduzierung der Anleihekäufe der US-Notenbank Fed zogen Investoren Mittel aus den Emerging Markets ab. Plötzlich standen damit Länder mit hohem Leistungsbilanzdefizit vor einem Finanzierungsproblem. Staaten mit Exportüberschüssen und stattlichen Währungsreserven konnten hingegen gelassen bleiben. Das Resultat waren erhebliche Unterschiede bei der Entwicklung von Währungen, Aktienmärkten und Anleiherenditen zwischen den Staaten.
Welche Lehren sollten Anleger aus diesen Irrtümern ziehen? Erstens gilt es, bei einem Engagement in den Emerging Markets die Weltwirtschaft im Auge zu behalten. Ohne Wachstum in den Industrienationen ist ein kräftiger Aufschwung in den Emerging Markets schwer möglich. Hier sind die Vorzeichen gut, da die globale Konjunktur derzeit anzieht. Zweitens sollten Anleger nicht zu stark auf die USA schauen. Westeuropa ist mindestens ebenso wichtig. Auch von dieser Seite bekommen die Emerging Markets aktuell Rückenwind, da das Wachstum auf dem „alten Kontinent“ anspringt. Und drittens sollte man zwischen den einzelnen Staaten beziehungsweise Unternehmen differenzieren. Denn auch wenn die Emerging Markets als Ganzes eine attraktive Anlageregion bleiben — ein Selbstläufer sind sie nicht.
zur Person
Max Holzer,
Leiter der
Asset
Allocation bei
Union Investment
Holzers Aufgabenspektrum umfasst das Multi
Asset Management so
wie die Convertibles & Derivates Strategy. Neben dem Portfoliomanagement der Multi-Asset-, Garantie-, Rohstoff- und Wandelanleihefonds legt sein Bereich die Strategie für die Anlagensteuerung der Union-Invest-Gruppe fest. Die Fondsgesellschaft zählt zu den Volks- und Raiffeisenbanken und ist mit aktuell rund
200 Milliarden Euro verwaltetem Kapital einer der größten Vermögensverwalter für private
und institutionelle Anleger in Europa.