Die Halbwertzeit von 100 Mrd. Euro beträgt 90 Minuten
Es ist schon erstaunlich, in welchen Dimensionen sich die aktuell diskutierten monetären Hilfen für Staaten und Banken befinden.
Von Prof. Dr. Stefan Heinemann und Volker Seemann, M.A.
Und es ist umso erstaunlicher, dass diese Hilfen kaum noch Wirkung zeigen. Vielleicht ist es aber auch nicht so erstaunlich wie man auf den ersten Blick meinen könnte.
Ein Blick zurück: 1995. In diesem Jahr kam es zum Zusammenbruch der Barings (Bank) Plc., und der Name des "rough traders" Nicholas Leeson fand sich in den Schlagzeilen rund um die Welt wider. Seinerzeit führten unerlaubte Devisen- und Indexspekulationen des einstigen Starhändlers dieser Bank mit singapurianischer Niederlassung zu einem Verlust von 1,4 Mrd. US-Dollar (nach damaligem Wechselkurs ca. eine Mrd. Euro). In nur wenigen darauffolgenden Tagen wurde das 1717 gegründete traditionsreiche Investmenthaus für den symbolischen Preis von einem britischen Pfund an die niederländische ING Groep N.V. verkauft. Die Auswirkungen an den Devisenmärkten und auf das britische Pfund, welches u.a. zum Spielball Leesons Spekulationen wurde, waren noch viele Monate später zu spüren.
Zwar finden Leesons kriminelle Aktivitäten ihren Niederschlag in die Geschichte – und zwar nach egorühmender Bekundung seiner eigenen Internetpräsenz als „größter Finanzskandal des 20. Jahrhunderts“ – dennoch gab es in Tagen, in denen die Finanzwelt dank der wirtschaftspolitischen Adoption des Neoliberalismus ihre realwirtschaftlich-implikative Jungfräulichkeit verlor ("Greed is Good", Gordon Gekko) keine staatlichen Interventionen oder versuche, Barings durch fiskalische Mittel vor einem Bankrott zu retten. Es ist zwar richtig, dass Notenbanken, allen voran die englische, bemüht waren, die Wechselkurse zum britischen Pfund wieder in den Griff zu bekommen, aber dieses Vorgehen kann im Nachhinein als nur mäßig erfolgreich beschrieben werden. Freilich gilt: Ex-post ist man immer klüger - doch weiß man um diesen Umstand eben Ex-ante.
2012. Spanien. Soviel zu Ex-Ante: Die Staatsschuldenkrise Griechenlands und das damit verbundene potenzielle Zerbrechen der Grundkonstruktion der Europäischen Union (und was das Verhindern dieses Szenarios kosten wird) soll hier nicht weiter thematisiert werden. Die spanische Regierung erbittet finanzielle Hilfen zur Stabilisierung mehrerer Kreditinstitute, die aufgrund von Bewertungsproblemen mit Staatsanleihen und nur schwer zu analysierenden Kreditverbriefungen in „bilanzielle Schieflage“ geraten sind, beim EFSF, der Europäischen Fazilität zur Finanzstabilisierung, welche selbst erst wenige Monate zuvor als Provisorium von den europäischen Gemeinschaftsstaaten mit einem Garantievolumen von 750 Mrd. Euro aufgesetzt wurde.
Abb. 1: Aktienkursentwicklung ausgewählter spanischer Banken, Quelle: Bloomberg, eigene Darstellung
Mit einem Rettungspaket von 100 Mrd. Euro sollte den Akteuren auf den Finanzmärkten Sicherheit vor möglichen Insolvenzen einzelner Kreditinstitute oder Kapitalunterdeckungs-Szenarien durch die Vorschriften von Basel III zugesichert werden, die sich bereits im Aktienkurs einzelner Banken abzeichneten (s. Abb. 1). Die beantragte Summe war sogar ca. 25-30 Mrd. Euro höher, als nach konservativen Prognosen zur Stabilisierung der Kreditinstitute benötigt werden würden. Mithin also eine Summe Faktor 30 des finanziellen Verlustes, der einst genügte, um eine Investmentbank in die sprichwörtlichen Knie zu zwingen. Mehr als ausreichend also, sollte man meinen…sogar von "nachhaltigen Lösungen" war zu lesen.
Nach langen politischen Diskussionen beantragte die spanische Regierung also am 9. Juni 2012, einem Samstag, die benötigten finanziellen Mittel – der Befreiungsschlag des Kapitalmarktes sollte am Montag darauf seinen Anfang nehmen. Und tatsächlich: Die durchschnittliche Rendite der zehnjährigen spanischen Staatsanleihen fiel auf 6,017% p.a., nachdem sie noch am vorherigen Freitag einen Höchststand von 6,267% p.a. notierte (s. Abb. 2a) – eine für Spanien positive Entwicklung von ca. -4%. Der zehnjährige, mittlere Durchschnitt dieser Rendite liegt jedoch bei 4,294% p.a., was das nur geringe Ausmaß der Beruhigungswirkung verdeutlicht. Zwar wirken in Zeiten, in denen die annualisierten Renditen deutscher (zweijähriger) Bundesschatzbriefe sogar teilweise negative Vorzeichen aufweisen, auch 4,294% p.a. sehr hoch – und dies ist in puncto einer vom emittierenden Staat zu erbringenden Wertschöpfung sicherlich auch richtig. Bei einer Bruttostaatsverschuldung Spaniens von 774,549 Mrd. Euro (gem. Maastricht-Definition, Stand: Q1 2012, Quelle: Banco de España) verschafft aber auch bereits die vierprozentige Erholung (s.o.) eine implizite Zinsersparnis für Spanien von knapp 2 Mrd. Euro pro Jahr.
Abb. 2a und 2b: Renditen der zehnjährigen spanischen Staatsanleihen (generisch), Quelle: Bloomberg, eigene Darstellung
Doch leider war die „Halbwertzeit“ der 100 Mrd. Euro umfassenden Zusagen für die spanische Kreditwirtschaft nur gleichbedeutend mit einer ca. eineinhalbstündigen Verschnaufpause an den Finanzmärkten. Mathematisch nicht ganz ein exponentieller Verfall aber doch ähnlich bestürzend. Den Investoren, die zur Zeit eher wie vorsichtige Strandurlauber auf eine Chance warten, sich mit hohem Lichtschutzfaktor der Sonne auszusetzen, sind die Unwägbarkeiten und Unklarheiten der Stützungsmechanismen der EFSF und der gesamten europapolitischen Gremien zu groß und daher scheuen sie die nicht-risikoadequat bemessene Investition in den spanischen Staat. Die Rendite der zehnjährigen spanischen Staatsanleihen stieg innerhalb des nächsten Börsentags auf 6,834% p.a. Mit anderen Worten: Investoren wollen nicht zu einem vorgegebenen Preis Volkswirtschaften retten; Volkswirtschaften können Volkswirtschaften nicht retten.
Man kann die doch immer wieder auftretenden Probleme und die immer wieder auftretenden unzureichenden Lösungen kaum rational rekonstruieren. Von der Tulpenkrise (1637) bis zur Griechenlandkrise ist die Lernkurve der Marktteilnehmer recht flach. Aber eine Abkehr von der liebgewonnenen infinitisimal-akzelerierenden Chrematistik der Kapitalmärkte ist offenbar keine realistische Option. Zu verführerisch ist der Gedanke, seine „Pay-Offs“ ungestraft auf dem Rücken der Anderen zu maximieren, Solidarität mit Markt und "soziale Gerechtigkeit" mit Marktgleichgewicht zu identifizieren. Der Preis für diese riesige psychologische Schuldentlastungsmaschinerie ist das Verspielen gelingender Gemeinschaft, Zukunft und gerechtem (nicht ausgeglichenem) Wohlstand. Kritisieren ist leicht, doch was sind die Gegenangebote? Ein nachhaltiger Kapitalmarkt wäre das Mittel der Wahl. Leider weiß noch niemand genau wie so etwas aussehen könnte. Riba für alle? Banken mit Rechten wie zu Bismarcks Zeiten? Oder muss man einsehen, dass hier ein unheilbares Oxymoron vorliegt?
Solange die prinzipiellen Fragen offen sind, bleibt nur die Hoffnung darauf, dass die nächsten Stützungsmaßnahmen in Billionenhöhe nicht nur für gut eine Spielfilmlänge vorhalten werden. Diese Halbwertszeit wäre nun wirklich nicht nachhaltig.
Das dips Deutsches Institut für Portfolio-Strategien ist die finanzwirtschaftliche Forschungseinrichtung der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Essen. Im Fokus der wissenschaftlichen Arbeit stehen praxisrelevante Problemstellungen des Portfolio-Managements sowie optimierte Index-Konzepte.
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