Börsenpsychologie

Magische 10.000 Punkte: Die Barriere im Hirn

02.07.14 03:00 Uhr

Der DAX hat die 10.000 Zähler geknackt. Für die einen ist dies ein Grund zur Freude. Andere finden das eher unheimlich. Warum diese Marke viele so skeptisch macht.

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von Andreas Höß, Euro am Sonntag

Der Mensch interessiert sich besonders für das Runde. Und das nicht nur, weil in diesen Wochen die gesamte Nation vor dem Fernseher sitzt, wenn bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien der Ball rollt. Auch in der Zahlenwelt haben es uns die runden Summen angetan. Die Börse ist da keine Ausnahme.

Seit Wochen eiert der DAX um die Marke von 10.000 Punkten, scheint fast schon in deren Bann zu stehen. Als der deutsche Leitindex Anfang Juni erstmals fünfstellig wurde, sprachen Kommentatoren nicht nur von einem Rekord, sondern bemühten einen "Gipfelsturm" und "Höhenflug", um das geschichtsträchtige Ereignis einzuordnen. Was dabei mitschwingt: eine gewisse Faszination für die Sphären, in welche nicht zuletzt die Geldpolitik der ­Europäischen Zentralbank (EZB) den DAX "katapultiert" hat. Und zugleich auch eine Grundangst, dass alles, was hoch fliegt, irgendwann wieder herunterkommen muss.

Bis heute hat sich daran nichts geändert. Der DAX hat weder seine Flugbahn mit Überschallgeschwindigkeit fortgeschrieben, noch ist er jäh abgestürzt. Stattdessen pendelt das Aktienbarometer unmotiviert zwischen 9.800 und 10.000 Punkten. Ob der Stillstand mit der runden Marke zusammenhängt?

Optische Täuschung
Joachim Goldberg hält diese Interpretation für etwas überzogen: "Das kann auch Zufall sein." Dennoch kennt er die Wirkung runder Rekorde. "Über 10.000 Punkte wirkt der Markt teuer, darunter sieht er deutlich billiger aus", sagt der ehemalige Devisenhändler, der sich seit 30 Jahren mit der Psychologie der Börsen beschäftigt. "Obwohl nüchtern betrachtet zwischen 9.999 und 10.000 nur ein Zähler liegt, sind es optisch und psychologisch Welten."

Und das nicht nur, weil das Medien­echo zunimmt, wenn eine runde Marke erklommen wird, die schön plakativ ist und sich leicht merken lässt. "Schwellenwerte" nennen Preisforscher den Übergang von krummen zu glatten Zahlen. Unternehmen nutzen das beim Verkauf ihrer Produkte längst, das Phänomen begegnet uns täglich in Supermärkten. Kostet dort eine Cola 99 Cent, greift man eher zu als bei einem Euro, obwohl der Preisunterschied minimal ist. Kaufentscheidungen laufen eben manchmal irrational ab.

Bei Investitionsentscheidungen ist das ähnlich. Anders als beim weniger folgenreichen Getränkekauf spielt aber die Zukunftserwartung beim Kauf einer Aktie eine größere Rolle. Wer investiert, will Gewinne erzielen und keine Verluste machen.

Dass einem die Cola schmecken wird, weiß man. Ob Aktienkurse steigen, ist schwer vorherzusagen. So beginnt das Hirn zu arbeiten, schätzt Chancen ab, trifft Annahmen. DAX bei 10.000 Punkten? Die Luft ist dünn, die Fallhöhe groß. Und es sucht Parallelen. Die finden deutsche Hirne bei einer älteren Rekordmarke: 8.000 Punkte.

Dreimal erreichte der DAX diesen Stand - am Ende der Internet­euphorie im Jahr 2000, vor Ausbruch der Finanzkrise 2008 und im Jahr 2013. Zweimal stürzten die Kurse daraufhin ab. "Deutsche Privatanleger sind mit Aktien auf die Nase ge­fallen", sagt Börsenpsychologe Goldberg. "Das haben sie sich gemerkt."

Dass dieser Rekord im vergangenen Jahr dann im Vorübergehen genommen wurde? Vergessen. Übrigens ist auch den wenigsten eine weitere optische Täuschung bewusst: Der DAX ist ein sogenannter Performance-Index. Anders als beim Dow Jones oder anderen wichtigen Indizes, die zuletzt Rekorde geknackt haben, werden hier Dividenden mit eingerechnet. Zieht man diese ab, ist der Rekord gar kein Rekord.

Schmerzhafter Lernprozess
Solche Zahlenspiele interessieren die große Mehrheit in Deutschland aber längst nicht mehr. Die Zahl der Aktionäre sinkt, im Jahr 2001 hatten rund 13 Millionen Bundesbürger Aktien oder Aktienfonds, heute sind es nur noch knapp neun Millionen. Vor allem bei den 30- bis 40-Jährigen ist das Interesse erloschen. Ihre ersten Börsenerfahrungen machten sie in Zeiten der Telekom-Aktie. Alles, was nach Internet klang, wurde gekauft. Entweder setzten sie so selbst Geld in den Sand oder bekamen das bei Eltern, Bekannten oder über die Medien mit. Auch die folgenden Jahre machten kaum Lust auf Börse: 11. September, Finanzkrise, Schulden­krise - der Absturz wurde Alltag.

"Börsencrashs waren vor der Jahrtausendwende in den Köpfen vieler nicht vorgesehen", sagt Martin Hellmich, der lange bei Investmentbanken wie Barclays gearbeitet hat und heute Professor für Risikomanagement an der Frankfurt School of Finance ist. "Man glaubte damals, es gehe nur noch aufwärts, alle Zyklen seien überwunden. Gepaart war dieser Glaube mit Gier und Unerfahrenheit. Dann kamen die Crashs. Und mit ihnen ein Bewusstseinswandel."

Der Lernprozess, dass Aktienmärkte doch Schwankungen unterliegen, war schmerzhaft. Und er führte dazu, dass deutsche Privat­anleger zu skeptisch wurden und die Aufholjagd der letzten Jahre verpassten, während die Zahl ausländischer Aktionäre stetig stieg, die sich über Gewinne in Deutschland freuten. Auch so lässt sich das Erreichen der 10.000 Punkte in ein anderes Licht rücken. "Viele, die wegen des Rekords davon ausgehen, dass es wieder kracht, haben keine Aktien", sagt Börsenpsychologe Goldberg. "Ein Crash wäre für sie die Bestätigung, dass sie richtig gehandelt und nichts verpasst haben."

Skeptisch macht aber auch die undurchsichtige Marktlage. Denn trotz schlechter Nachrichten über die schleppende wirtschaftliche Erholung oder hohe Staatsschulden steigen die Kurse nun seit fünf Jahren. "Sie wurden weniger vom wirtschaftlichen Aufschwung, sondern eher vom billigen Geld der Zentralbanken getrieben", sagt Risikoforscher Hellmich. "Deshalb drängt sich das dumpfe Gefühl auf: Hier stimmt etwas nicht."

Trotz des Eindrucks in einer "liqui­ditätsgetriebenen Blase zu sitzen", sieht Hellmich gute Chancen, dass die Kurse noch etwas weiter steigen. Wegen der Niedrigzinsen gebe es kaum Anlagealternativen zur Aktie, außerdem habe die vorherrschende Skepsis auch etwas Gutes: Übertriebene Euphorie, bisher oft der Vorbote eines Crashs, sei derzeit nicht zu beobachten. Ähnlich sieht es Goldberg, der sich "mit Aktien im Moment sehr wohl" fühlt: "Anders als in den 90er-Jahren werde ich auf Par­tys nicht gefragt, welche Papiere ich habe." Es gebe keinen Börsenhype, das verringere die Crashgefahr.

Neue Rekordziele will Goldberg jedoch nicht ausrufen. "15.000 Punkte? Das wäre Spekulation." Nur so viel: Bei seiner Einführung 1988 sei der DAX bei 1.000 Punkten gestartet und habe trotz Rückschlägen bisher neun runde Rekorde geknackt. "Liegt ein Gipfel hinter einem, sieht man meist, dass es noch einen höheren Punkt gibt." 

Investor-Info

DAX: Mit und ohne Dividende
Der Rekord, der keiner ist

Bei 10.000 Punkten hat der DAX einen neuen Rekord geknackt - das gilt als Fakt. Aber: Berechnet man den Index ohne Dividenden, wie das weltweit meist üblich ist, notiert er bei 5.088 Punkten und ist knapp 20 Prozent von seinem Hoch entfernt. Das liegt bei 6.266 Punkten und stammt aus dem März 2000.

DAX: Anteilseigner
Deutsche auf dem Rückzug

Geht es um Aktien, scheinen die Deutschen eine Barriere im Kopf zu haben. Obwohl der DAX stark gestiegen ist, lassen sie die Finger von Aktien. Nur 18 Prozent der handelbaren DAX-Papiere sind heute in deutscher Hand, 1997 waren es noch 82 Prozent.

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