Finanzkrise: Islands neue Zukunft
Island war das erste Land, das nach der Lehman-Pleite ins Straucheln geriet und kurz vor dem Staatsbankrott stand. Dem Land geht es besser, doch die Folgen sind noch spürbar.
von Astrid Zehbe, Euro am Sonntag
Der dunkelste Winter, den Island je erlebt hat, begann am 6. Oktober 2008 mit einer eilig angesetzten Fernsehansprache. Sichtlich betreten verkündete Ministerpräsident Geir Haarde seiner kleinen Nation, was längst nicht mehr zu leugnen war: Die Insel im Nordatlantik stand kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Ein Staatsbankrott war nur noch eine Frage der Zeit. „Gott segne Island“, sagte der Staatsmann am Ende seiner Rede. An den Fernsehbildschirmen ließ er ein zutiefst erschüttertes Volk zurück.
Fünf Jahre ist es her, dass der Traum der Finanznation Island abrupt endete. Das Volk musste zusehen, wie seine Banken verstaatlicht wurden, Unternehmen Insolvenz anmeldeten, Tausende ihren Job verloren und an allen Ecken und Enden gespart wurde. Heute steht das Land wieder gut da. Die Wirtschaft wächst, eine Gründerszene etabliert sich, und Touristen reisen scharenweise ins Land. Verloren hat die Nation nur das Vertrauen in die Politik.
Svein Einarsson* (*Name von der Red. geändert) kann sich noch gut an die Tage im Herbst 2008 erinnern: „Ich war nach der Fernsehansprache im Schockzustand.“ Der 29-Jährige hatte gerade sein Bachelor-Studium beendet und arbeitete bei einer kleinen Firma als Ingenieur. Es ging ihm gut, wie vielen seiner Landsleute. Das Pro-Kopf-Einkommen Islands lag an der Weltspitze. Das einst ärmliche Land hatte im globalen Vergleich die meisten Autos, Computer, Kreditkarten und Handys pro Einwohner und lag im weltweiten Entwicklungsstand-Index auf dem ersten Platz.
Es waren vor allem die Banken, die den hohen Lebensstandard des Inselvolks ermöglichten. Nach ihrer Privatisierung 2002 begannen sie in großem Stil im Ausland zu investieren. Vor allem die drei Schwergewichte der Branche, Glitnir, Landsbanki und Kaupthing, beteiligten sich an anderen Banken, kauften Fluggesellschaften oder übernahmen Modehausketten. Gleichzeitig vergaben die Banken massenhaft Kredite an die konsumhungrige isländische Bevölkerung. Wohnungen, Autos und Hightechgeräte — kein Wunsch blieb unerfüllt.
Boom dank ausländischem Geld
Das Geld für die Expansion der Banken kam zu großen Teilen von ausländischen Sparern, die sich von Zinsen von bis zu fünf Prozent locken ließen. Am Ende des zweiten Quartals 2008 betrug die Auslandsverschuldung des isländischen Bankensektors umgerechnet über 40 Milliarden Euro — das entsprach etwa dem Vierfachen des damaligen Bruttoinlandsprodukts. Die Bilanzsummen der drei großen Banken hatten sich innerhalb von sieben Jahren auf das Achtfache der Wirtschaftsleistung erhöht.
Dass irgendetwas nicht stimmte, merkte Svein Einarsson im Sommer 2007. Ein befreundetes Pärchen wollte für die erste gemeinsame Wohnung einen Kredit bei der Bank aufnehmen, bei der die Frau arbeitete. Trotz sicheren Doppeleinkommens verwehrten ihnen die Prüfer das Darlehen. Im Nachhinein betrachtet, sagt Einarsson, gab es eine Reihe von Warnsignalen: „Der Wert der Isländischen Krone sank seit Monaten.“ Zudem prangerten immer mehr ausländische Experten den aufgeblasenen Bankensektor an.
Als der Kapitalverkehr nach der Lehman-Pleite 2008 weltweit fast zum Erliegen kam, hatten auch die isländischen Banken ein Problem: Sie konnten sich kein frisches Geld mehr besorgen, um ihre Gläubiger zu bedienen. Innerhalb weniger Tage brachen die drei großen Geldhäuser zusammen und wurden per Notstandsgesetz verstaatlicht. Dass Island den Staatsbankrott vermeiden konnte, ist der Hilfe des Internationalen Währungsfonds und der skandinavischen Länder zu verdanken. Gemeinsam gewährten sie Hilfskredite in Höhe von fast fünf Milliarden Dollar.
Wie stark sich der isländische Bankenkollaps auf die Wirtschaft auswirkte, belegt das isländische Statistikamt mit eindrucksvollen Zahlen: Die Arbeitslosigkeit, ein Phänomen, das die Insulaner bis dato kaum kannten, stieg 2009 auf über neun Prozent — dreimal so viel wie im Jahr zuvor. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger verdoppelte sich, und die Zahl der Auswanderer erhöhte sich zwischen 2006 und 2009 um 60 Prozent. Ursache waren die vielen Unternehmenspleiten, deren Zahl sich von 2006 bis 2011 von 561 Insolvenzen pro Jahr auf knapp 1.600 erhöhte.
„Es wurde immer schwerer, Geld für Projekte zu akquirieren“, sagt Svein Einarsson. Das Unternehmen, für das er arbeitete, schlitterte Anfang 2010 in die Pleite. Der junge Mann begegnete seiner Arbeitslosigkeit mit der gehörigen Portion Pragmatismus. Er ging zurück an die Uni, machte seinen Master und gründete ein Ingenieurbüro, das Turbinen für Windkraftanlagen entwickelt.
Der Jungunternehmer ist zufrieden: „Die Krise hat auch gute Seiten. Viele Leute wagen den Schritt, an ihren Ideen zu arbeiten.“ Dass dieses Potenzial gehoben werde, sei eine Chance für die Wirtschaft. Besonders im Tourismussektor boomt die Selbstständigkeit. Die Isländische Krone, die Reisen nach Island jahrelang unerschwinglich machte, treibt dank anhaltender Schwäche Touristen ins Land. Die Zahl der Übernachtungen stieg von 2008 bis 2012 um 500.000 auf 1,8 Millionen. Mittlerweile hat sich die Wirtschaft berappelt. Ihr Wachstum liegt mit drei Prozent über dem der Eurozone. Die Zahl der Arbeitslosen sank 2012 um zwei Prozentpunkte auf 5,6 Prozent.
Keine Entwarnung in Island
Auch wenn Island das Schlimmste hinter sich hat, mahnt Ólafur Ísleifsson zu Vorsicht: „Island ist noch immer hoch verschuldet“, sagt der Wirtschaftsprofessor der Universität Reykjavík. Das Land brauche Investitionen, nur so lasse sich ein nachhaltiges Wachstum generieren. „Außerdem müssen endlich die Kapitalkontrollen abgeschafft werden.“
Diese wurden nach dem Bankenkollaps eingeführt, um eine Kapitalflucht zu verhindern. Zwar hat die Regierung Anfang des Jahres angekündigt, die Beschränkungen schrittweise aufzuheben, aus Angst vor Währungsspekulationen ruderte sie jedoch zurück. Der Grund: In Island beträgt der Leitzins sechs Prozent, in der Eurozone sind es gerade einmal 0,5 Prozent — genau dieses Szenario hat damals dazu beigetragen, dass Anleger ihr Geld scharenweise nach Island schafften.
Die Kapitalkontrollen beizubehalten ist jedoch keine Lösung. Nicht nur weil sie Investitionen erschweren, sondern auch weil sie das Risiko von Preisblasen erhöhen. „Es gibt erste Anzeichen einer Vermögensblase“, sagt Ólafur Ísleifsson. „Isländische Aktien sind beträchtlich gestiegen, weil ausländische Anleger ihre Kronen nicht abziehen können und darum in den Aktienmarkt pumpen.“ In den vergangenen zwölf Monaten hat der isländische Aktienindex OMX Iceland 15, der die 15 meistgehandelten Unternehmen Islands abbildet, um 30 Prozent zugelegt.
Die schwierige finanzpolitische Situation dürfte auch einer der Gründe sein, weshalb die im April neu ins Amt gewählte Regierung die Bewerbung um eine EU-Mitgliedschaft Islands erst mal auf Eis gelegt hat. Dass es den neuen Machthabern gelingt, das Land zügig wieder dahin zu bringen, dass es frei an den Märkten agieren kann, bezweifelt Svein Einarsson. Denn die neuen Volksvertreter gehören jenen Parteien an, die die Bürger 2009 aus dem Amt gejagt hatten, weil sie das Land so tatenlos in die Krise schlittern ließen.
Einarsson fürchtet, dass die alten Zustände wiederkehren könnten: „Es sind vielleicht 50 bis 100 Personen, vor allem Geschäftsleute und Politiker, die sich gegenseitig Posten und Aufträge zuschustern.“ Bei 320.000 Einwohnern zirkuliert die Macht in engen Kreisen, und weil jeder jeden kennt, will er seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen, auch nicht in einer deutschen. Irgendwie versteht er die Leute aber auch: „Die Menschen sind die Sparmaßnahmen leid. Klar, dass sie die Partei wählen, die das Gegenteil verspricht.“
Gudmundur Óskarsson, der nach 2009 das viel beachtete Krisenbuch „Bankster“ veröffentlicht hat, betrachtet das Wahlergebnis nüchtern: „Es zeigt, dass wir offenbar vergessen haben, was die Krise uns gelehrt hat, falls sie uns überhaupt etwas gelehrt hat.“
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Auf dem Weg der Besserung
Die bessere Wirtschaftslage sorgt dafür, dass die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn auch unter Schwankungen. Noch sind doppelt so viele Menschen ohne Job wie vor der Krise. Besonders hart ist das für Leute, die Kredite aufgenommen hatten — vor allem solche in Fremdwährungen. Weil die Isländische Krone innerhalb kürzester Zeit die Hälfte ihres Werts verlor, mussten Kreditnehmer plötzlich doppelt so hohe Monatsraten zahlen. Hinzu kam, dass sich die Produkte des täglichen Lebens verteuert haben, da viele von ihnen importiert werden. Die Inflation stieg Ende 2008 auf 18 Prozent. Heute liegt sie bei vier Prozent.