Türkei nach der Wahl: Trügerischer Triumph
14.11.15 08:00 Uhr
Bei den Neuwahlen in der Türkei gewinnt Erdogans AKP-Partei unerwartet klar, die Börse jubiliert. Doch die Erleichterung könnte verfrüht sein.
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von Alexander Sturm, Euro am Sonntag
Nach Monaten der Bomben, Militärschläge und gesellschaftlicher Spaltung hatte kaum jemand mit einem klaren Votum gerechnet, umso stärker war die Reaktion der Börsen. Nach dem Wahlsieg der konservativen AKP-Partei von Staatspräsident Recep Erdogan schossen Aktien in Istanbul nach oben, die Lira verbuchte zum Dollar den größten Tagesgewinn seit 2008.
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Für die Kapitalmärkte zählte vor allem eins - Erleichterung über klare Verhältnisse. Bei den Wahlen im Juni hatte die AKP keine Mehrheit erreicht, die Regierungsbildung scheiterte. Es folgten Monate des politischen Stillstands und der Gewalt. Erdogan stoppte die Friedensgespräche mit den Kurden und befahl Militärschläge gegen deren verbotene PKK-Partei. So sammelte er nebenbei Stimmen am rechten Rand ein. Nun hat die AKP bei den Neuwahlen die absolute Mehrheit erreicht, sie kann allein regieren.
Rally an der Börse Istanbul
Viele Türken hätten wegen des Wunschs nach einer starken Regierung die AKP gewählt, sagt Wolf Rütger Teuscher, Ökonom bei der DZ Bank. Erdogan trauten viele zu, für Stabilität im Land zu sorgen, Kritik an seiner autoritären Politik hin oder her.Für Investoren ist das Schreckgespenst eines erneuten Patts aus der Welt. Die Erleichterung könnte türkische Aktien noch weiter treiben. Immobilienfirmen, die Erdogan nahestehen, dürften von seinem Hang zu Großprojekten wie einer dritten Bosporus-Brücke oder einem neuen Flughafen in Istanbul profitieren. Auch die Bankaktien, die unter der Zurückhaltung der Investoren gelitten hatten, sollten sich erholen.
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Impulse für die Börse könnte die AKP zudem mit dem neuen Kabinett geben. "Marktfreundliche Kandidaten können das Vertrauen der Märkte stärken", erläutert Gregor Holek, Türkei-Experte bei Raiffeisen Capital. Spekulative Investoren können auf eine kurzfristige Erholung setzen (siehe Investor-Info).
Doch die Wette ist riskant, die Türkei steht vor gewaltigen Problemen. Wuchs die Wirtschaft 2010 und 2011 um rund neun Prozent, dürften es dieses Jahr nur noch gut drei Prozent sein. Das Land leidet unter der Schwäche wichtiger Handelspartner wie dem Irak. Der Terror des IS hat den Nahen Osten im Griff und reicht bis an die türkische Grenze. Die an sich gute geografische Lage der Türkei, gern als Brücke zum Morgenland gepriesen, ist derzeit eine Bürde. Und Russland, ein anderer großer Abnehmer türkischer Exporte, steckt ebenfalls in der Krise.
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Zudem ist die Türkei anfällig für die Flucht von Investoren. Da das Land mehr importiert als exportiert, hat es ein hohes Handelsbilanzdefizit von fast sechs Prozent. Um es auszugleichen, braucht die Türkei dringend ausländisches Geld.
Anfällig für Kapitalflucht
Doch die Investoren sind misstrauisch. Sie zählen die Türkei zu den schwachen Schwellenländern, die die Spekulationen über eine Zinswende in den USA besonders treffen. Sie zogen zuletzt massiv Kapital aus der Türkei ab und legten es in Dollar an. Folge: Die Türkische Lira stürzte ab. Steigen die Zinsen in den Vereinigten Staaten, dürfte die Lira gegenüber dem Dollar rasch wieder unter Druck geraten.Auch verteuert die schwache Währung Importe und treibt die Inflation. Im September erreichte sie über acht Prozent. Zinserhöhungen in der Türkei könnten die Inflation bremsen, träfen aber die Wirtschaft. An einer unabhängigen Geldpolitik in der Türkei bestehen indes Zweifel. Schon öfter drängte Erdogan die Notenbank aggressiv zu Zinssenkungen. "Unsere Zentralbank bewegt sich nicht, während alle Welt die Zinsen senkt", kritisierte er im Sommer. "Wenn nötig, werde ich sie kommen lassen und das zur Sprache bringen."
Solche Töne befeuern die Skepsis von Investoren. Nach dem Sieg der AKP fürchten sie noch mehr politische Einflussnahme. "Erdogan könnte sein Mandat erweitern und die Unabhängigkeit der Zentralbank infrage stellen", sagt Carlos von Hardenberg, Fondsmanager bei Franklin Templeton. Gerade jetzt, da die US-Zinswende bevorstehe, sei eine unabhängige Notenbank äußerst wichtig.
Innerer Frieden in Gefahr
Hinzu kommen politische Probleme. Vor wenigen Wochen starben bei einem Bombenanschlag auf einen Demonstrationszug über 100 Menschen. Wer die Täter sind, ist ungeklärt. Liberale Türken treibt Erdogans Kurs auf die Straße. Er will das Land im religiös-konservativen Stil umbauen und die Verfassung ändern. Sein Plan: ein Präsidialsystem mit weniger Macht für das Parlament und mehr für ihn. "Das Wahlergebnis dürfte die Furcht vor dem Abbau demokratischer Prinzipien schüren", sagt von Hardenberg.Viel wird davon abhängen, wie die AKP mit der Macht umgeht. Schlägt Erdogan einen radikalen Weg ein, dürfte er das Land weiter spalten und westliche Kapitalgeber verschrecken. Sie schätzen Rechtssicherheit, nicht Autokraten. Schlägt er hingegen einen moderaten Kurs ein mit wirtschaftsfreundlicher Politik und unabhängiger Notenbank, könnte er die Lage etwas beruhigen und das Wachstum wieder stärken.
Da die AKP allein regieren kann, muss sie immerhin keine Koalition mit den türkischen Nationalisten eingehen. Daher müsse Erdogan keine Rücksicht auf deren radikale Befindlichkeiten nehmen, meint Ökonom Teuscher: "Das könnte eine Hinwendung zu einem moderateren Politikstil fördern."
Ob Erdogan einen gemäßigten Weg gehen will, muss sich aber noch zeigen. Erste Handlungen nach der Wahl machen wenig Hoffnung. Am Mittwoch drängte er bereits die anderen Parteien, seine Verfassungsreform zu unterstützen. Er braucht ihre Unterstützung für eine Verfassungsänderung. Notfalls will er einen Volksentscheid durchführen.
Zugleich kündigte Erdogan an, die Kurden sollten weiter bekämpft werden, bis der letzte von ihnen "liquidiert" sei. Und zwei Journalisten ließ die Regierung wegen angeblicher Putschpläne verhaften. Sie hatten den Sieg der AKP als "Anfang des Bürgerkriegs in der Türkei" bezeichnet. Daraufhin stoppte ein Gericht die Ausgabe ihres Blattes. Die Redakteure warten im Gefängnis auf ihren Prozess.
Investor-Info
Türkische Lira
Auf die Währung setzen
Langer politischer Stillstand und schwache Wirtschaft haben zur Flucht von Investoren aus der Lira geführt. Sie verlor in einem Jahr gegenüber dem Euro kräftig. Nach dem AKP-Wahlsieg wertete sie deutlich auf. Die lockere Geldpolitik der EZB schwächt den Euro und könnte eine Erholung der Lira begünstigen. Wer darauf setzen will, greift zum 4,1-fach gehebelten Zertifikat von BNP Paribas
(ISIN: DE 000 BP6 F2B 3). Gewinnt der Euro, drohen herbe Einbußen. Die Barriere, bei der Totalverlust eintritt, ist 24 Prozent entfernt.
iShares MSCI Turkey ETF
Auf türkische Aktien wetten
Türkische Aktien sind mit einem KGV von knapp zehn niedrig bewertet, aber hierzulande nur schwer handelbar. Risikofreudige Investoren können mit dem ETF auf eine kurzfristige Erholung des breiten Markts setzen. Großes Gewicht haben Banken und Industriekonzerne. Der ETF notiert in Dollar, was für Euroanleger dank schwacher Gemeinschaftswährung zuletzt von Vorteil war.
SEB Eastern Europe ex Russia
Auf Osteuropa bauen
Wer nicht allein auf türkische Aktien setzen mag, greift zu diesem Osteuropa-Fonds. Aktien aus der Region litten unter dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, doch die wirtschaftlichen Aussichten für Polen und die baltischen Staaten sind gut. Größten Anteil im Fonds mit Note 1 haben Polen (43 Prozent), Türkei (24) und Tschechien (6). Russische Aktien sind indes ausgeschlossen.Weitere News
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