Behavioral Finance in Aktion
Unser Verstand kennt zwei unterschiedliche Arbeitsweisen: intuitiv und reflexiv.
Wie die Behavioral Finance Theorie zeigt, können wir uns dadurch bei Geldanlage und Altersvorsorge selbst ein Bein stellen. Dieser Beitrag zeigt Wege zur Selbstüberlistung auf.
Behavioral Finance ist eine Weiterentwicklung der Behavioral Economics. Bei dieser Forschungsrichtung werden psychologische Erkenntnisse genutzt, um wirtschaftliche Theorien aufzustellen. Daniel Kahneman, der 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeiten im Bereich Behavioral Economics erhielt, wurde erst als zweiter Psychologe überhaupt mit dem Preis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet. Unter anderem erhielt Kahneman den Preis dafür, dass er nachgewiesen hat, welche große Rolle Emotionen und Bauchgefühl bei der Entscheidungsfindung spielen. Dies kann unter bestimmten Umständen zu systematischen und vorhersagbaren Fehlern führen (Kahneman, 2003).
Überliste Dich selbst – oder: Vom „intuitiven“ und „reflexiven“ Verstand
Kahneman stützt sich auf seine Theorie der „zwei Arten von Verstand“ („two minds“), um zu beschreiben, wie Menschen Entscheidungen treffen (Stanovich und West, 2000). Jeder von uns verhält sich so, als ob er einen „intuitiven“ Verstand habe, der rasch, sehr leicht und ohne bewusste Grundlage Urteile fällt; so „weiß“ man zum Beispiel zuweilen einfach, dass jemand, den man gerade kennengelernt hat, ein guter Freund werden wird. Intuitionen kommen uns häufig „einfach in den Sinn“.
Außerdem verfügen wir über einen „reflexiven“ Verstand, der langsam und analytisch arbeitet und bewusst eingesetzt werden muss. Finanzberater z. B. können dies im Sinne ihrer Kunden nutzen, wenn sie gemeinsam mit diesen anhand des jeweiligen Risikoprofils, der aktuellen Kundensituation und deren künftigen Ziele ein System ausarbeiten, nach dem z.B. für das Alter vorgesorgt werden soll.
Die meisten Entscheidungen, die Menschen treffen, kommen aus dem intuitiven Verstand und werden in der Regel vom reflexiven Verstand als sinnvoll akzeptiert, solange sie nicht offensichtlich falsch sind (Klein und Kahneman, 2009). Intuitive Entscheidungen sind häufig korrekt, zuweilen sogar in beeindruckender Weise (Gladwell, 2006). Behavioral-Finance-Forscher interessieren sich jedoch besonders für die Fehler des intuitiven und auch des reflexiven Verstands, die ganz praktische Implikationen für für die Geldanlage und den Vermögensaufbau haben.
Im Folgenden zeigen wir, was mit dem „intuitiven“ Verstand gemeint ist und wie dieser einen zuweilen auf Abwege bringt. Schauen Sie sich Diagramm 1 an. Wenn Sie es noch nie zuvor gesehen haben, stellen Sie sofort fest, dass die untere Linie länger ist als die obere.
Nehmen Sie jetzt zwei kleine Blätter Papier und decken Sie damit die Pfeilspitzen der unteren Linie ab. Diejenigen, die das Diagramm bereits kennen, wissen schon, was Sie jetzt feststellen: Die Linien sind in Wirklichkeit gleich lang.
Sie sind zum Opfer einer optischen Täuschung geworden: der berühmten Müller-Lyer-Täuschung. Ihre optische Wahrnehmung wird getäuscht, und Sie sehen etwas, das in Wirklichkeit gar nicht existiert. In diesem Falle ist dies auf die Richtung der Pfeilspitzen zurückzuführen.
Was diese und andere optische Täuschungen so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass Sie selbst dann, wenn Sie den wahren Sachverhalt kennen – die Linien sind gleich lang –, immer noch die eine als länger als die andere wahrnehmen. In der Terminologie der zwei Arten von Verstand: Ihr reflexiver Verstand weiß, dass die Linien gleich lang sind, aber Ihr intuitiver Verstand sieht, dass sie unterschiedlich lang sind. Der intuitive Verstand ist so mächtig, dass er jeden Versuch des reflexiven Verstands abschmettert, die Linien anders zu sehen. Sie können es einfach nicht ändern. An intuitiven Urteilen wird auch tendenziell stärker festgehalten – noch ein Punkt, der es schwierig macht, solche Urteile zu revidieren.
Eine Erkenntnis, die Kahneman den Nobelpreis einbrachte, lautet, dass wir Menschen zuweilen ebenso anfällig für „kognitive Täuschungen“ sind wie für optische Täuschungen. Diese Täuschungen, die auch als Neigungen bekannt sind, sind auf die Anwendung heuristischer Methoden oder – einfacher ausgedrückt – „geistige Abkürzungen“ zurückzuführen. So wird zum Beispiel davon ausgegangen, dass Menschen Entscheidungen logisch und aufgrund des Inhalts und nicht aufgrund oberflächlicher Beschreibungen treffen. Wenn Menschen die „Wahl“ zwischen Aufschnitt gegeben wird, der „zu 90 Prozent fettfrei“ ist oder der „zehn Prozent Fett enthält“, entscheiden sie sich ganz überwiegend für die erste Möglichkeit. Rein logisch gesehen sind beide Aufschnittsorten identisch; aber die Menschen reagieren automatisch negativ auf die Formulierung „enthält Fett“ und positiv auf den Begriff „fettfrei“ und entscheiden entsprechend. Dieser allgegenwärtige und sehr wirkungsvolle Effekt, der auf den intuitiven Verstand zurückzuführen ist, wird als „Einordnung“ („Framing“) bezeichnet (Tversky und Kahneman, 1974).
Die Intuition ist also eine sehr wichtige Macht. Und die Menschen vertrauen ihr in der Regel in hohem Maße. Kahnemans Entdeckung, dass die Intuition unter bestimmten Umständen systematisch zu falschen Entscheidungen und Urteilen führt, revolutionierte die Sichtweise von Psychologen und letztendlich auch Ökonomen in Bezug auf den Entscheidungsprozess.
Der traditionellen Wirtschaftswissenschaft zufolge handeln Menschen rational und zum eigenen Vorteil und können sich selbst gut kontrollieren. Behavioral Economics (und der gesunde Menschenverstand) haben jedoch gezeigt, dass wir nicht so logisch vorgehen wie wir es vielleicht meinen, dass uns andere Menschen durchaus am Herzen liegen und dass wir nicht so diszipliniert sind wie wir es gerne wären. Menschen handeln nicht im umgangssprachlichen Sinne irrational, aber aufgrund der Arbeitsweise unseres intuitiven Verstands sind wir für „geistige Abkürzungen“ anfällig, die zu fehlerhaften Entscheidungen führen. Unser intuitiver Verstand versorgt uns mit den Ergebnissen dieser „geistigen Abkürzungen“, und wir akzeptieren sie. Es ist schwierig, sich dagegen zu wehren.
Verlustaversion als fundamentaler Faktor
Diese mächtigen, aber fehlerhaften Intuitionen sind auf die außerordentlich negative Reaktion der Menschen auf potenzielle Verluste zurückzuführen: die „Verlustaversion“, wie sie in der Prospekttheorie beschrieben wird (Kahneman und Tversky, 1979). Einfach ausgedrückt, haben Verluste eine größere Bedeutung als gleich große Gewinne. Psychologisch gesehen ist der Schmerz, den ein Verlust von 100 Dollar auslöst, etwa doppelt so hoch wie die Freude, die nach dem Gewinn desselben Betrags verspürt wird. Aus diesem Grund sind die meisten Menschen nur dann dazu bereit, ein Spiel einzugehen, bei dem sie 100 Dollar mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 : 50 verlieren, wenn die Gewinnsumme mindestens 200 Dollar beträgt.
Die Verlustaversion ist ein fundamentaler Bestandteil des Menschseins – aber nicht nur wir verspüren sie. M. Keith Chen, ein Ökonom an der Universität Yale, hat interessante Experimente zu den Präferenzen von Kapuzineraffen durchgeführt, bei denen die Affen letztendlich immer ein Apfelstück erhielten. Sie gelangten jedoch auf unterschiedlichen Wegen dahin, und dies wirkte sich auf die Präferenzen der Affen aus. In einer Versuchsanordnung erhielten die Affen zunächst zwei Apfelstücke, von denen ihnen eines weggenommen wurde. In einer anderen hatten sie zu Beginn kein Apfelstück und erhielten dann eines. Die Affen hegten eine deutliche Präferenz für die zweite Anordnung und mochten die erste – in der ihnen ein Apfelstück weggenommen wurde – nicht (Chen, 2006).
Psychologen spekulieren, dass die Verlustaversion im Rahmen der Evolution und des Überlebens sinnvoll ist: Es ist besser, vorsichtig zu sein und den Säbelzahntiger mit weitem Abstand zu umgehen, als das Risiko einzugehen, ihm allein gegenüberzutreten. Woher die Verlustaversion auch immer kommen mag – sie wirkt sich auf viele unserer Entscheidungen aus, und nicht zuletzt die finanziellen.
So tendieren die Menschen dazu, Aktien bei Verlusten zu lange zu halten. Eine Aktie zu verkaufen, die an Wert verliert, ist außerordentlich unschön, weil dadurch die Realität des Verlustes offen zutage tritt. Im Gegenzug werden Aktien, deren Kurs gestiegen ist, häufig zu früh verkauft, weil dadurch ein Gewinn realisiert wird und uns dies Vergnügen bereitet. Wir empfinden Schmerz, wenn wir einen Verlust, und Freude, wenn wir einen Gewinn realisieren. Die Menschen machen hier einen Fehler in ihrer mentalen Buchführung („mental accounting“): Statt ihr Portfolio insgesamt zu betrachten, konzentrieren sie sich auf jede einzelne Aktie und treffen Entscheidungen anhand der jeweils unterschiedlich wahrgenommenen Realitäten.
Die Verlustaversion lässt Menschen auch zögern, Veränderungen durchzuführen, weil sie sich stärker darauf konzentrieren, was sie verlieren könnten, als darauf, was sie gewinnen könnten. Dies wird als „Trägheit“ oder Tendenz zum Status quo bezeichnet (Samuelson und Zeckhauser, 1988).
Trägheit ist dann im Spiel, wenn die Menschen wissen, dass sie bestimmte Dinge tun sollten, die in ihrem Interesse sind (Sparen für die Rente, Diät zur Gewichtsreduzierung oder Sport treiben), sich aber nicht dazu aufraffen können. Die Neigung zum Verschieben und eine mangelnde Selbstkontrolle brechen sich Bahn. In der Regel sagen die Menschen aber, dass sie irgendwann in der Zukunft handeln werden: „Nächste Woche fange ich ganz bestimmt mit dem Sportprogramm an!“
„Wir treffen jederzeit intuitive Entscheidungen,“ erklärt Nicholas Barberis, Behavioral-Finance-Forscher an der Yale School of Management, „aber wir können nur sehr schwer sagen, welche davon richtig und welche falsch sind.“ Behavioural-Finance-Forscher haben zahlreiche Umstände ermittelt, unter denen der intuitive Verstand die Menschen dazu veranlasst, Fehler in Bezug auf ihre Anlagen zu begehen.
„SMarT“: Ein schlagendes Beispiel
Richard Thaler von der University of Chicago und Shlomo Benartzi von der UCLA haben einige der oben dargestellten psychologischen Erkenntnisse in einer der frühesten und erfolgreichsten Behavioral-Finance-Anwendungen eingesetzt: dem Save More Tomorrow™-Programm (SMarT – „Spare morgen mehr“). Das Problem ist weit verbreitet: Ein großer Teil an Mitarbeitern beteiligt sich z.B. nicht an den betrieblichen Altersvorsorgeangeboten ihrer Unternehmen und verzichtet u.a. dadurch auch auf eine Aufstockung des Arbeitgebers (und damit geschenktes Geld). SMarT baut psychologische Hindernisse für die Ersparnisbildung kurz- und längerfristig wirksam ab und unterstützt die Mitarbeiter dabei, sie mit wenig Anstrengung zu überwinden. SMarT wurde auf der Grundlage der psychologischen Prinzipien der Trägheit, der Verlustaversion und des Wunsches nach unmittelbarer Befriedigung entwickelt. In der ersten Fallstudie von SMarT erhöhten die Mitarbeiter eines mittelständischen verarbeitenden Unternehmens ihre Beiträge zum Pensionsfonds über dreieinhalb Jahre hinweg von 3,5 Prozent auf 13,6 Prozent ihres Lohns (Thaler und Benartzi, 2004). So wurde das Sparverhalten beträchtlich verbessert. Daher wird das Programm inzwischen von über der Hälfte der großen Arbeitgeber in den USA angeboten, und eine Variante wurde in den Pension Protection Act von 2006 aufgenommen (Hewitt, 2010).
„Das SMarT-Programm hat zu allgemeinen und wichtigen Erkenntnissen geführt“, erläutert Benartzi. „Die Anwendung einiger psychologischer Schlüsselprinzipien kann dazu führen, dass die Menschen deutlich bessere finanzielle Entscheidungen treffen.“ Man kann solche Erkenntnisse nutzen, um bessere Entscheidungen zu treffen, die letztendlich zu besseren finanziellen Ergebnissen führen sollten.
Autor: Prof. Shlomo Benartzi
Der Verhaltensökonom ist Mitbegründer
des „Behavioral Finance
Forums“, einer Gemeinschaft von
80 prominenten Wissenschaftlern
und Finanzinstituten, und ist zugleich
Chief Behavioral Economist des
Allianz Global Investors Center for
Behavioral Finance.
Die Behavioral Finance-Theorie
Die Theorie des Behavioral Finance setzt sich mit
irrationalem menschlichen Verhalten auf den Finanzmärkten
auseinander. Das beobachtete Verhalten auf
den Börsen weltweit widerspricht in der Regel den
Vorhersagen klassischer ökonomischer Modelle, weshalb
die Theorie des Behavioral Finance eine Erklärung
für dieses irrationale Verhalten sucht. Solches Verhalten
kann quer über alle finanzwirtschaftliche Entscheidungen
beobachtet werden, weshalb sich eine breite,
theoretische und empirische Literatur gebildet hat.
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